So also sieht das Ende der germanischen Götter aus: Der fünfte und letzte Sammelband der dänischen Comicserie "Walhalla" erzählt die Geschichte von Ragnarök, dem Götterverhängnis, und dem Weg dorthin. Der erneut hervorragend ausgestattete Band enthält drei erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte Abenteuer und reichlich Hintergrundmaterial zur Entstehungsgeschichte und den Mythen, die den Comic-Erzählungen zugrunde liegen.
Dem Thema entsprechend, handelt es sich diesmal um sehr düstere Geschichten, immerhin geht es um Mord und Tod und den Untergang der Götterwelt. Trotzdem - ein leichtes Augenzwinkern, Wortwitz und humorvolle zeichnerische Seitenhiebe zeichnen auch diese drei Abenteuer aus, und der Leser wird auch die letzte Geschichte, den Untergang der Götter, mit einem Lächeln auf den Lippen lesen.
Eine Ballade über Balder leitet Ragnarök ein
"Balders Ballade" heißt das erste der drei hier vereinigten Comicalben. Es geht um die Geschichte von Balders Tod, die in der Edda bereits auf das Götterverhängnis hindeutet. Dort als das unschuldige Hinscheiden des reinsten und lichtesten aller Asengötter beschrieben und zuvor in dunklen Träumen angekündigt, wird die alte Sage hier einer überraschenden Interpretation unterzogen, beziehungsweise vollkommen gegen den Strich gebürstet.
Es ist Loki, den in dieser Version düstere, verstörende Träume plagen. Immer wieder träumt er von Hel, der Göttin des Totenreichs, seiner Tochter. Sie ist einsam in ihrer lebensfernen Welt, immer drängender werden ihre Forderungen, Loki solle ihr Balder verschaffen, damit sie dort nicht so einsam ist. Loki bekommt es wahrhaft mit der Angst zu tun. Immerhin wäre er, wenn Balder etwas zustößt, der erste, weil "übliche" Verdächtige.
Aber dann kocht die lange gewachsene brüderliche Rivalität zwischen Balder und seinem blinden Bruder Höder hoch. Zu recht, wie der Leser einsehen wird. Denn der in der Edda ach so edle, reine Balder ist als Bruder doch ein ziemliches Ekel. Ständig um seinen blinden Bruder besorgt, neigt er nicht nur zur Überbetreuung und zur übermäßigen Selbstpräsentation als Guter und Retter, sondern er sorgt auch, teils unabsichtlich, dafür, dass Höder immer mal wieder strauchelt, gegen Balken läuft oder blöd dasteht. Vor allem, als Höder sich in die wunderschöne Walküre Nanna verliebt und Balder ständig als "Pfleger" in ihre Gespräche hineinplatzt.
Überraschung: "Gesta Danorum" als Vorlage
Die "Ballade von Balder" verblüfft aber vor allem dadurch, dass sie nicht der aus der "Edda" bekannten Geschichte folgt, sondern einer Erzählung aus den "Gesta Danorum", in der Gott Balder dem Prinzen Hother seine Geliebte, die Prinzessin Nanna, ausspannen möchte. Doch Hother erlangt ein Trollschwert, dessen Zauberklinge so scharf ist, dass sie im Kampf mit den Göttern sogar den Griff von Thors Hammer abtrennen kann, und schließlich erliegt auch Balder.
Peter Madsen schafft es, die eigentlich urtragische Erzählung vom Tod Balders zu einem leicht-fröhlichen Sommermärchen zu machen, das durch Lokis Panik und seine hilflosen Versuche, Höders Anschläge auf den Bruder zu vereiteln, beinahe slapstick-hafte Züge gewinnt. Hel zu einem naiven kleinen Mädchen zu machen und ihre Wutausbrüche Einfluss auf die Landschaft des Totenreichs nehmen zu lassen, ist ebenfalls ein sehr hübscher Einfall.
Eine halben Minuspunkt gibt es dafür, dass Autor und/oder Übersetzer die in Walhall ankommenden gefallenen Krieger durchgehend als "Berserker" bezeichnen. Gemeint sind natürlich "Einherier".
Eine Mauer rund um Asgard
Das zweite Abenteuer in diesem Band ist "Die Mauer", das etwas verwirrend daherkommt, da hier zwei Sagen verknüpft werden, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben: die Geschichte vom riesenhaften Baumeister, der vor Urzeiten die Mauer um Asgard baute, und die Geschichte von Skirnirs Brautwerbe-Fahrt zu Gerda, um sie für Freyer zu gewinnen.
Zunächst einmal ist es nicht Skirnir, der sich im Auftrag des Gottes Freyer nach Utgard aufmacht, sondern überraschenderweise Tjalfi. Thors menschliche Diener waren ja im vergangenen Abenteuer aus dem Blickfeld gerückt, nun soll der inzwischen zum Jugendlichen herangewachsene Tjalfi eine Art Mannbarkeitsritual durchstehen und dazu einen göttlichen Auftrag erfüllen. Freyer, der in Abwesenheit Odins auf dem Göttersitz Lidskialf thront und von dort aus die schöne, üppige Riesentochter Gerda erspäht, verbindet das Angenehme mit dem nützlichen: Er schickt Tjalfi unter dem Decknamen "Skirnir, der Schuhputzer" auf geheime Mission, nämlich auf Werbefahrt.
Odin, Thor und Loki als Coaches
Odin, Thor und Loki haben derweil ganz andere Sorgen: Ragnarök, das Götterverhängnis, droht, und die Riesen rücken näher an Asgard heran. Trotzdem - oder gerade deswegen - nehmen sich die drei Götter seltsamerweise die Zeit, Tjalfi inkognito bei seiner Mannbarkeitsprüfung zu begleiten und unerkannt zu coachen. So trifft Tjalfi kurz vor seinem Eindringen in den Riesenhof, in dem Gerdas Vater seinen Augenstern von einen hohen Mauer umhegt vor allen Übeln der Götterwelt beschützen will, auf den maskierten Odin. Als Lagerfeuererzählung berichtet der vermeintliche Hirte über jene andere Mauer, die einst der Riesen-Baumeister um Asgard bauen wollte, und über den schlechten Vertrag, den Loki damals ausgehandelt hatte.
Eine Mauer als verbindendes Element
Das verbindende Element zwischen beiden Geschichten ist das Motiv der Mauer. In beidem Fällen stellt sich heraus, dass sie die von ihr umgebenen Personen eben nicht nur schützt, sondern auch einsperrt und ihr Leben arm und unglücklich macht. Dass der Name "Gerda" verwandt mit "Gard" ist und "die Umhegte", oder "die Eingezäunte" bedeutet, passte sehr gut zu dieser Interpretation des Gerda-Mythos.
Swadilfari, Loki und Sleipnir
Sehr schön sind in diesem Abenteuer die Pferdemotive geraten. Vom urwüchsigen Hengst Swadilfari und seinem Herrn, der einen Pferdeschädel als Helm trägt, über Loki als lasziv-verführerische Stute und seinem Werben um Swadilfari bis hin zu dem achtbeinigen Hengst Sleipnir, der aus dieser skurrilen Verbindung erwuchs - einfach großartig. Wie Swadilfari unverzichtbar war für den Bau der Mauer um Asgard, so ist es nun Sleipnir, der mit seinem kraftvollen achtbeinigen Eppelein-Sprung seinen Reiter über die unüberwindliche Mauer katapultiert und Gerda, die Tochter des Baumeisters, aus ihrem Gefängnis befreit. Optisch einfach nur großartig, wenn man auch an der Zusammenstellung der beiden Geschichten etwas knabbern muss. Und dass die Lagerfeuer-Geschichte als Erzählsituation etwas unglücklich ist, hatten wir ja schon im Abenteuer "Die Gaben der Götter" angemerkt.
Immerhin, die Aufwertung dieses Liebesbotendienstes zu einem Schachzug, der Ragnarök ein letztes Mal verhindert, ist eine nette Idee. Wenn ich auch weiterhin für unrealistisch halte, dass sich die höchsten Götter Asgards damit befassen, ein Mannbarkeitsritual für einen menschlichen Dienstboten zu inszenieren und zu begleiten.
"Völvas Visionen", gesehen von Röskva
Der Abschlussband schließlich, betitelt "Völvas Visionen", widmet sich tatsächlich Ragnarök. Die Götterwelt sollte "wirklich" untergehen, hatten sich die Walhalla-Macher vorgenommen. Kein Fake, kein Aufwachen aus einem Traum, sondern es soll um den Tod der Götter gehen und um ein bombastisches zeichnerisches Finale, in dem noch einmal alle Register gezogen werden.
Hauptfigur ist diesmal Röskva, die, nachdem ihr Bruder im Vorgänger-Album noch sein "Mannbarkeitsritual" erlebt hatte, nun auf ganz eigene Weise in den Mittelpunkt gerückt wird.
Sie hat seltsame Visionen, die sie, analog zum Abenteuer Tjalfis, als ihr "Fraubarkeitsritual" interpretiert. Scheußlich sind diese Visionen. Sie erlebt, wie ihr alter Freund aus dem allerersten Walhalla-Abenteuer, der Fenriswolf, die Sonne verschlingt. Sie sieht, wie Thor von der Midgardschlange verschlungen wird. Und sie erlebt mit, was passiert, als der Wolf selbst Odin verschlingt.
Die riesigen Pfotenabdrücke des Fenriswolfs
In der realen Welt ist Fenrir - im Album wird er "Fenris" genannt - tatsächlich zu einer Gefahr für die Asen herangewachsen. Er ist von der Insel, auf der ihn die Götter angekettet hatten, verschwunden, und die Geschwister entdecken seine riesigen Pfotenabdrücke. Dass sich Röskva in Lokis Schneeeulenanzug mit hineinschmuggelt, um bei der Suche dabei zu sein, trägt dem Mädchen eine furchtbare Begegnung ein: Sie sieht ihren alten Freund Fenrir wieder - als Gefangenen der Riesen unter Führung Surturs. Der Feuerriese hat den ehemals noch tollpatschigen und trotz seiner Gefährlichkeit noch niedlichen Wolfswelpen durch Quälereien zur rasenden Bestie gemacht. Nun will Surtur mit seinem Heer und dem wilden Wolf auf dem widerlichen Nagelschiff Naglfar gen Asgard segeln und die Götter vernichten.
Die Götter müssen sterben
Ja, die Götter müssen fallen, so sieht es die Sage vor. Aber die Sage berichtet auch von Auferstehung und einer neuen Welt. So wird es ein neues Asgard geben. Und Röskva und Tjalfi kehren als Beinahe-Erwachsene, um einiges gewachsen und gereift, auf den elterlichen Hof zurück.
Der Band ist optisch auf jeden Fall gelungen, und die Art, wie die verschlungene Freya am Ende durch Odins Speer wieder neue Energie erhält und zu neuem Leben erwacht, steht in einer interessanten Symboltradition, die eine gewisse Logik besitzt.
Tjalfis eigene Fylgja, ein Kätzchen aus Folkwang, sorgt für den nötigen Niedlichkeitseffekt in der blutig-tragischen Geschichte vom Götterverhängnis, und die Leute, denen Röskva und Tjalfi nach dem Ende der Götter begegnen, setzen eine nette Schlusspointe, die die Saga ordentlich und folgerichtig abschließen.
Der letzte Band war nicht unbedingt der beste der Walhalla-Bände, aber ein ganz ordentlicher Abschluss und ein Album, in dem eine schwere Aufgabe erzählerisch gemeistert wurde.
Wie die Vorgängerbände ist auch der fünfte Teil der Walhalla-Gesamtausgabe mit zahlreichen Beigaben ausgestattet, die das Ganze zu einem rundum zufriedenstellenden Gesamtpaket machen. Es gibt ausführliche Darstellungen der Entstehungsgeschichte, Skizzen, Hintergrundinformationen und Äußerungen der Autoren zu ihren Plänen und Schwierigkeiten. Zu jedem Abenteuer sind erneut die Quellen zu den einzelnen Sagen mit abgedruckt, sodass die Geschichte nach dem letzten Panel noch lange nicht zu Ende ist.
Es ist sehr schade, dass die Saga mit diesem fünften Teil der Gesamtausgabe nun abgeschlossen ist. Man soll ja aufhören, wenn es am schönsten ist, heißt es. Und zumindest die wirklich großen Mythen sind alle erzählt. Aber wenn ich mir etwas wünschen dürfte: Es gab doch noch eine Comicserie über die Abenteuer des kleinen Riesen Quark ...
Fazit: Auch der letzte Walhalla-Band überzeugt und macht Freude. Man merkt, wie tief die Macher in die Mythenwelt eingetaucht sind und selbst weniger bekannte Versionen der Sagen befragt haben. Ein würdiger Abschlussband der Saga.
Walhalla. Die gesammelte Saga 5. Illustriert und erzählt von Peter Madsen. Nach Geschichten von Henning Kure. Meschede: Edition Roter Drache, 2022. 215 S., Euro 40.
Weitere Walhalla-Bände
Walhalla. Die gesammelte Saga 1
Walhalla. Die gesammelte Saga 2
Walhalla. Die gesammelte Saga 3
Walhalla: Die gesammelte Saga 4
© Petra Hartmann