
Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia

"Run" - dieses Wort steht auf Samias Shirt, und es zieht sich leitmotivisch durch die gesamte Graphik Novel "Der Traum von Olympia". Die Geschichte der somalischen Läuferin Samia Yusuf Omar, die auf der Fluch nach Europa vor der italienischen Küste ertrank, geht unter die Haut. Reinhard Kleist hat die Spuren der 21-jährigen nachgezeichnet - ausdrucksstark doch ohne falsches Pathos in schlichten Schwarzweiß-Zeichnungen, unterbrochen von Facebook-Einträgen einer jungen Frau, die unbedingt in London laufen will.
Samia ist magerer als die anderen Athletinnen, und es zeigt sich, dass sie daheim in Somalien wesentlich schlechtere Trainingsbedingungen hat, als sie bei den Olympischen Spielen in Peking antritt. Sie läuft ihre persönliche Bestzeit und kommt doch als allerletzte ins Ziel, weit abgeschlagen von den Supersportlerinnen der anderen Länder. Dennoch - ihr Ehrgeiz ist geweckt. Sie will härter trainieren, besser werden und in vier Jahren, London 2012, erneut antreten.
Ein großer Traum. Die Realität sieht leider anders aus. Training in Ruinen, im verfallenen Coni-Stadion in Mogadischu, auf unplanierten Straßen, immer wieder angegriffen von vermummten Islamisten der Miliz "Al-Shahaab", die mit drohendem Ton darauf hinweisen, sie müsse langsam und würdevoll gehen: Laufen gehört sich nicht für Mädchen. Und sie soll gefälligst ihr Haar verhüllen. Die Situation wird immer bedrohlicher, bis hin zu Handyanrufen: "Wir wissen, wo du wohnst."
Versuche, im benachbarten Äthiopien zum Training zugelassen zu werden, scheitern. Schließlich sieht Samia nur noch eine einzige Möglichkeit: Sie muss nach Europa. Zusammen mit ihrer Tante bricht sie auf und begibt sich in die Hände eines zwielichtigen Schleusers. Eine Irrfahrt durch den Sudan und Libyen beginnt. Überfälle, Wassermangel, Transporte in geschlossenen LKWs bei glühender Hitze, Erpressung und Gefangennahme - Samia erlebt einen Albtraum nach dem anderen. Als schließlich statt des versprochenen Schiffs nur ein viel zu kleines Schlauchboot am Strand liegt, das viel zu viele Menschen aufnehmen soll, beginnt die letzte Etappe der Fahrt in den Tod. Samia hat Europa nie erreicht. Wie so viele andere.
Reinhard Kleist verzichtet in seiner Darstellung auf Melodramatik und Sentimentalität. Ein schneller Pinselstrich, der vieles nur andeutet, der immer wieder auftauchende Schriftzug "RUN" auf Samias Shirt, dazwischen immer wieder Facebookeinträge, in denen die Sportlerin ihren Freunden von ihrer Welt und ihren Trainingsbedingunen erzählt, das alles verleiht dem Buch seinen ganz eigenen Tonfall. "Der Traum von Olympia" kommt vollkommen ohne erhobenen Zeigefinger und ohne pädagogisch wertvollen "Erklärbär" im Hintergrund aus. Man hört die Stimme eines jungen Menschen, der Popmusik und Sport liebt, für den Handys und Facebook selbstverständlich sind. Gerade deshalb, weil Samia so "normal" daherkommt, macht ihr Schicksal den Leser so betroffen. Hier ist nicht irgend ein gesichtloses Opfer von tausenden ertrunken, sondern ein Mensch wie du und ich, eine 21-Jährige mit Hoffnungen und Ängsten, die das Pech hatte, auf der falschen Seite des Mittelmeers geboren worden zu sein.
Fazit: Eine Geschichte, die man nicht vergisst. Reinhard Kleist versteht es meisterhaft, einer fremden Sportlerin Gesicht und Stimme zu geben. Wer an diesem Buch unberührt vorübergeht, hat kein Herz zu verlieren.
Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar. Carlsen: Hamburg, 2015. 152 S., Euro 17,90.
© Petra Hartmann