Weihnachtsmärchen: Das goldene Fenster
Frohe Weihnachten wünsche ich euch. Habt ein schönes Fest und lasst euch reich beschenken. Ich hoffe, ihr seid alle gesund und habt über die Feiertage ein wenig Zeit zu Entspannen. Falls ihr noch keine Lektüre für ein paar nette Minuten unterm Weihnachtsbaum habt, hier kommt mein Weihnachtsmärchen für euch. Viel Spaß damit!
Das goldene Fenster
500 Teile. Das war schon etwas. Zugegeben: Sie wusste nicht ganz genau, wie viel 500 Teile eigentlich waren. Und wie viele Teile es überhaupt gab auf der Welt. Aber fünfhundert, das waren auf jeden Fall unheimlich viele. Fast soviel wie alle Teile auf der Welt, dachte sie.
Sophie schüttelte den großen Puzzlekarton und hörte, wie es im Inneren raschelte und rauschte. Sie musste ja doch schon ganz schön groß sein, wenn die Mutter ihr so ein großes und schweres Puzzle zutraute. „Ab 8“, stand auf der Packung. Dabei war sie doch erst sechs. Aber sie würde bald in die Schule kommen, und da war man ja schon fast so klug wie ein Achtjähriger, dachte sie.
Die Mutter atmete erleichtert auf, als sie sah, wie Sophie die Schachtel in den Händen drehte. Die ständigen bohrenden Nachfragen ihrer Tochter nach den Weihnachtsgeschenken und dem quietschrosafarbenen Einhornschlitten, den sie sich gewünscht hatte, waren in den letzten Tagen einfach nicht mehr auszuhalten gewesen. Hoffentlich würde das Puzzle mit den 500 Teilen die Kleine jetzt ein wenig beschäftigen. Es gab schließlich noch einiges vorzubereiten für das Fest, und das war nicht einfach, wenn man ständig über eine quirlige, neugierige Sechsjährige stolperte.
Rauschend ergoss sich die Flut der Puzzleteile auf den Fußboden von Sophies Kinderzimmer. „Pass auf, dass nichts verloren geht“, wollte die Mutter rufen, doch dann biss sie sich auf die Zunge. Besser, das Kind ganz allein lassen. Auf Zehenspitzen zog sie sich zurück, um weiter Geschenke einzupacken, während Sophie um sich herum Berge von bunten Pappstücken auftürmte.
Sophie betrachtete aufmerksam das Bild, das auf dem Deckel der Pappschachtel zu sehen war. Es war ein kleines gemütliches Holzhaus, von dunklen Tannen umgeben und tief eingeschneit von eiskaltem Pulverschnee. Ein Hirsch und ein Hase hockten im Vordergrund und sahen ihr freundlich entgegen, und neben dem Haus parkte ein großer Schlitten, der war mit vielen bunt eingepackten Geschenken beladen. Es war Nacht auf dem Bild, aber ein Fenster des Häuschens war hell erleuchtet, und ein warmer, freundlicher Lichtschein flutete ihr entgegen, das gefiel Sophie sehr. Wer dort wohl wohnen mochte? Beim Blick auf den großen Schlitten kam ihr schon ein gewisser Verdacht. Aber man konnte ja nie wissen.
Vor allen Dingen konnte man nie sicher sein, ob das Bild auf dem Deckel auch tatsächlich das gleiche war wie das auf den Puzzleteilen. Sophie hob prüfend eines der bunten Teile hoch. Pechschwarz war es. Mit zwei Zapfen und zwei Löchern. Ein klitzekleiner gelber Punkt war darauf. Das könnte ein Stück vom Himmel sein. Oder auch etwas von der Dunkelheit zwischen den Bäumen mit einer Schneeflocke, die zu Boden trudelte. Die bauten diese Puzzle ja absichtlich so, dass es nicht so einfach war. Da, noch ein schwarzes Teil. Und noch eines. Und da ein ganz weißes. Und ein braunes, das zu der Hütte gehören konnte. Oder zu einem Baumstamm. Oder zum Schlitten. Oder doch ins Fell des Hirschs? Sophie starrte auf das Bild. Da war ja fast alles schwarz oder blauschwarz und weiß und braun. Bis auf die bunten Pakete natürlich. Und dann war da noch der goldene Lichtschein aus dem Fenster. Von den vielen grünen Teilen, die um sie herum lagen passte natürlich keines ins Bild. Die musste sie erstmal umdrehen, damit sie die Vorderseite anschauen konnte. Und bekam prompt noch mehr braune, schwarze und schneeweiße Teile.
500 Teile, das war wirklich sehr viel, dachte Sophie. Aber dann entdeckte sie, dass zwei von den blauschwarzen Teilen noch zusammenhingen. Offenbar hatte hier die Kaputtschneidemaschine in der Puzzlefabrik nicht aufgepasst. Sophie grinste. Sorgfältig legte sie die beiden Puzzlestücke zur Seite. Das brauchte ja niemand zu wissen, dass sie das nicht allein herausgefunden hatte. Jedenfalls hatte sie jetzt einen Anfang. Ein Stück Sternenhimmel über der Hütte. Das war gut.
Sorgfältig suchte sie die Randstücke mit der geraden Kante aus dem Haufen heraus. Dann versuchte sie, den Rahmen des Bildes zusammenzulegen. Immer wieder schielte sie auf die Vorlage. Wenn man wusste, wonach man suchte, war es gar nicht so schwer. Die weißen Teile kamen nach unten, die schwarzen nach oben, und die grünbraunen an die Seiten. Langsam entstand ein Rechteck auf dem Kinderzimmerteppich. Sophie lehnte sich zurück und betrachtete stolz ihr Werk. Es sah noch nicht aus wie das Bild auf der Pappschachtel, aber man sah, dass sie sich Mühe gegeben hatte. Wieder studierte sie die Vorlage. Das kleine Holzhaus im Wald sah geheimnisvoll aus und wirkte sehr einladend. Wer da wohnte, der würde ihr bestimmt eine warme Tasse Kakao einschenken und ihr ein paar Weihnachtsplätzchen servieren, wenn sie in einer kalten Winternacht dort anklopfte ...
„Sophie? Mach doch mal Pause!“, rief die Mutter irgendwann aus der Küche. „Ich mache dir einen Kakao und Plätzchen.“
Beinahe widerwillig ließ das Mädchen seine Arbeit zurück. Ausgerechnet jetzt, wo sie zwei Schornsteinteile und etwas weißen Rauch zusammengesteckt hatte, sollte sie aufhören. Aber sie kam doch an den Küchentisch und trank brav ihren Kakao. Sogar drei Schokoladenkekse aß sie. Dann stand sie wieder auf und kehrte zu ihrem Puzzle zurück.
„Hallo, Sophie? Du fragst ja gar nichts?“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter hinter sich. „Willst du denn gar nicht wissen, ob du den rosa Einhornschlitten bekommst?“
„Bekomme ich den rosa Einhornschlitten?“, frage Sophie.
„Ich weiß es nicht“, trällerte die Mutter. „Da musst du dich schon in Geduld fassen.“
„Ja dann“, sagte Sophie. Dann entdeckte sie ein Stück vom Geschenkeschlitten im Haufen der Puzzleteile. Aufgeregt stürzte sie sich darauf und schob es an die Stelle, an die es gehörte. Das sah schon mal nicht schlecht aus.
Bis zum Abend hatte sie schon zwei Bäume und den halben Hirsch fertig gepuzzelt. Und vom Nachthimmel hatte sie schon sieben zusammenhängende Teile gefunden. Das sah alles sehr düster aus. Aber wenn sie erst das helle Fenster eingesetzt hätte, dann würde das Bild genau so warm und freundlich aussehen wie das auf der Schachtel. Nur größer.
„Soll ich dir helfen?“, fragte ihr Vater beim Abendessen.
„Nein“, sagte Sophie entschieden.
„Und? Was meinst du, ob du wohl den rosa Einhornschlitten bekommst?“
„Da muss ist mich schon in Geduld fassen“, sagte Sophie. „Darf ich jetzt weiterpuzzeln?“
„Aber nur noch ein bisschen“, entschied die Mutter. Und Sophie ging an ihre Arbeit zurück.
Der schneebedeckte Waldboden vor der Hütte wuchs zusehends. Und wie der niedliche Hase sein Näschen krauste und vorwitzig zum Fenster hinüber lugte, das sah so schön aus. Jetzt konnte Sophie auch die ersten Geschenke auf dem Schlitten zusammensetzen. Und da waren ja auch lauter kleine Mäuse und Eichhörnchen, die auf den Paketen herumliefen und nachschauten, ob nicht etwas zum Essen darin war. Sophie lachte. Das gefiel ihr. Und der Haufen der unverbauten Puzzleteile wurde immer kleiner. Als die Mutter sie schließlich zu Bett schickte, waren der Himmel und der schneebedeckte Waldboden fertig. Und aus dem Schornstein der Hütte kam tatsächlich feiner, weißer Rauch wie Zuckerwatte. Sophie wollte noch gar nicht aufhören, aber am Ende ließ sie sich doch von der Mutter zudecken und beschloss, am nächsten Morgen noch vor dem Frühstück weiterzupuzzeln. Sie war sicher, dass sie noch vor Heiligabend fertig werden würde mit der Hütte. Und vor allem freute sie sich auf das gelbgolden leuchtende Fenster. Mit diesem Gedanken schlief sie ein und lächelte zufrieden im Schlaf.
*
Am nächsten Morgen war sie schon vor ihren Eltern wach. Sie beschloss, die ruhige Zeit vor dem Frühstück zu nutzen. Schön sah es aus, ihr Werk. Die Hütte nahm langsam Gestalt an. Der Stapel mit den braunen Teilen war schon deutlich kleiner geworden. Und das Loch in der Mitte wurde auch immer kleiner. Lange würde es nicht mehr dauern, bis sie das goldene Fenster einsetzen konnte. Ihre Wangen wurden vor Aufregung ganz heiß. Noch fünf Teile. Dann stutzte sie. Die fünf waren alle braun und sahen aus wie Teile einer hölzernen Wand. Aber es musste doch etwas dabei sein, das nach Gold und Licht aussah.
Sophie wunderte sich. Aber dann dachte sie daran, dass Puzzleteile manchmal ganz anders aussahen, wenn man sie richtig in das Bild eingefügt hatte. Erst wenn sie an der rechten Stelle saßen, ergab sich ein Zusammenhang, und das vollständige Bild würde sichtbar werden. Sie setzte das fünftletzte Teil ein. Passt, dachte sie. Das viertletzte. Passt. Das drittletzte. Passt. Und nun stand wohl endgültig fest, dass sie auf eine Katastrophe zusteuerte. Es kam nicht hin. Es reichte nicht. Da waren noch zwei Puzzleteile. Aber das Loch in der Mitte war so groß wie drei Teile. Sie setzte das vorletzte Teil ein. Dann das letzte. Enttäuscht starrte sie auf das Loch in der Mitte des Bildes. Das letzte Puzzleteil fehlte. Kein Fenster. Kein goldenes Licht, das in den dunklen Wald fiel. Vor Enttäuschung hätte sie beinahe das ganze Bild wieder auseinander gerissen. Das war einfach nicht gerecht! Dafür hatte sie zwei Tage so konzentriert gearbeitet? Ausgerechnet das Fenster fehlte. Das war so gemein.
Sie sah sich um. War das Teil vielleicht unter das Sofa gerutscht? Oder dort hinter die Kiste mit den Bauklötzen? Sie hob den Deckel der Schachtel hoch. Lugte unter den Teppich. Unter die alte Kommode. Nichts.
„Donnerwetter, du bist ja schon fast fertig“, sagte die Mutter, als sie kam, um Sophie zu wecken.
„Mmmja“, sagte Sophie. Da hatte sie nun fast 500 Teile verbaut, und ausgerechnet das letzte fehlte. Was kam vor 500? Bestimmt 400, dachte sie. 400 Teile hatte sie richtig zusammengesetzt, alle bis auf eins. Das war doch nicht gerecht.
Beim Frühstück war sie mürrisch und redete nicht viel. Sie fragte nicht mal nach dem quietschrosafarbenen Einhornschlitten, und das machte ihrer Mutter wirklich Sorgen. Aber noch mehr Sorgen machte die Mutter sich, als ihre Tochter sich nach dem Frühstück in ihr Zimmer zurückzog und anfing aufzuräumen.
Sophie kroch unters Bett und holte alle Stofftiere und das seit Wochen verschwundene Aufziehauto hervor. Alles, was sie fand, setzte sie ordentlich auf das Sofa. Aber was sie eigentlich gesucht hatte, fand sie nicht. Danach hob sie alle Kleidungsstücke auf, die auf dem Boden verstreut waren, legte sie ordentlich zusammen und packte sie in den Wäschepuff. Aber auch unter dem dicken roten Pullover lag kein Puzzleteil. Sie rollte den Straßenteppich zusammen. Nichts. Dabei war sie so sicher gewesen. Sie schob ihr Schaukelpferd zur Seite. Nichts. Und auch unter dem Märchenbuch und hinter der Spielzeugkiste lag das verschwundene Puzzleteil nicht. Nur das fast fertige Weihnachtsmann-Haus lag noch mitten im Zimmer auf dem Fußboden und schaute sie vorwurfsvoll an. Das Loch in der Mitte sah schlimm aus. Sophie schüttelte traurig den Kopf. Das helle Fenster war wohl nicht beim Ausschütten verloren gegangen. Wahrscheinlich hatten die Leute in der Puzzlefabrik beim Einpacken nicht aufgepasst. Und irgendwo saß jetzt ein kleines Mädchen vor einem 500-Teile-Puzzle, das versehentlich 600 Teile hatte, und baute ein Weihnachtsmann-Haus mit zwei hellen Fenstern. Beim Gedanken daran wurde Sophie richtig wütend. Wozu brauchte so ein fremdes Gör zwei Fenster?
Beim Mittagessen war Sophie noch viel schweigsamer als beim Frühstück. Die Mutter lobte sie, weil sie das Zimmer so schön aufgeräumt hatte. Und der Vater fragte, ob sie denn kein bisschen neugierig sei, was sie zu Weihnachten bekommen würde. Aber sie sagte nichts dazu.
Am Abend putzte sich Sophie ohne Aufforderung fünf Minuten lang die Zähne, zweieinhalb Minuten oben und zweieinhalb Minuten unten. Sie ließ sich von ihrer Mutter widerstandslos ins Bett bringen und zudecken. Morgen war ja Weihnachten, dachte sie, und je schneller sie einschlief, desto eher würde sie den Schlitten bekommen. Aber das helle Fenster im Weihnachtsmann-Haus ging ihr nicht aus dem Kopf, und sie grübelte beim Einschlafen noch lange darüber, was sie wohl hätte sehen können, wenn sie nur das letzte Puzzleteil gefunden hätte.
Vielleicht, nein, ganz sicher wohnte der Weihnachtsmann in der Hütte, und wie schön wäre es gewesen, dort draußen im Schnee zu stehen und durch das Fenster hinein zu lugen. Sie hätte ihn beim Einpacken der Geschenke beobachten können und beim Backen der Weihnachtsplätzchen und vielleicht sogar dabei, wie er den Plätzchenteig vom Finger abschleckte. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie dort im Zimmer ihren Einhornschlitten entdeckt hätte. Und Nüsse und Lebkuchen und Marzipanbrote hatte er wohl auch in seinem Haus, und eine extra dicke rote Weihnachtskerze stand auf dem Tisch und spendete goldenes Licht ...
„Potz Himmel und Weihnachtsstern!“
Sophie schrak hoch. Wer hatte da eben geflucht?
Sie riss die Augen auf und kniff sie gleich wieder zusammen. Misstrauisch blinzelte sie zwischen halb geschlossenen Lidern ins Dunkel. Was war das? Dort, wo ihr Weihnachtspuzzle auf dem Boden lag, leuchtete ein goldenes Licht. Wo kam das her? Sophie nahm allen Mut zusammen, kroch aus dem Bett und schlich auf das helle Licht zu. Da war es. Ein dunkles Holzhaus mitten im Wald, ein Schlitten voller Geschenke. Sternenhimmel, dunkle Tannen und ein goldenes Licht, das aus dem Häuschen in den Schnee fiel. Das Weihnachtsfenster! Es leuchtete. Nein, nicht das Fenster, so viel sah Sophie jetzt. In der Holzwand des Häuschens war ein kleines, puzzleteilförmiges Loch, aus dem das Licht kam. Sophie hielt den Atem an. Konnte sie nun doch in die Weihnachtsstube blicken?
Doch als sie gerade das rechte Auge auf das Loch drücken und in die Hütte blicken wollte, erschrak sie.
„Zum Tannenbaum nochmal!“, fluchte eine helle Stimme. Dann tauchte ein Schatten in dem goldenen Licht auf. Eine winzig kleine Gestalt zwängte sich durch das Puzzlestein-Loch. Das Wesen trug einen spitzen schwarzen Hut und ein grünes Wams, dazu rote Stulpenstiefel und im Gürtel einen winzigen, schartigen Säbel, von dem etwas Rotes herunter tropfte. Das linke Auge war unter
einer schwarzen Augenklappe verborgen, und auf den schwarzen Hut war ein weißer Totenkopf gestickt, unter dem sich zwei Knochen kreuzten. Sophie hätte direkt Angst vor dem Wesen haben müssen, so böse funkelte es sie mit dem rechten Auge an. Aber es war nur so groß, dass es durch ein Loch in einem 500-Teile-Puzzle kriechen konnte, und darum war Sophie nicht ganz so ängstlich.
„Hallo?“, flüsterte sie. „Bist du ein Weihnachtself?“
„Hunderttausend Höllenhunde!“, fluchte das Wesen und zog den Säbel. „Du wagst es ...? Noch nie hat mich jemand so beleidigt. Weihnachtself! Har! Ich bin der Weihnachtszwölf! Sieht man das nicht? Du dummes Kind!“
„Entschuldige bitte“, sagte Sophie. Denn sie war ein sehr höfliches Kind. „Ja, natürlich, jetzt sehe ich es auch. Guten Abend, Weihnachtszwölf. Schön, dass du mich besuchen kommst.“
„Schön? Har! Das hat noch niemand zu mir gesagt. Harhar.“ Der Weihnachtszwölf ließ ein grausames Lachen hören. Dann fuchtelte er mit seinem Säbel, von dem es immer noch rot tropfte, vor Sophies Nase herum. „Ich bin gekommen, um Weihnachten zu rauben. Harhar. Immer um zwölf Uhr Mitternacht vor Heiligabend kommt der Weihnachtszwölf und stiehlt alle Geschenke, damit die Kinder weinen und das grässlichste Weihnachtsfest ihres Lebens bekommen. Am liebsten klaue ich bei Kindern, die mich nicht kennen.“
„Alle Geschenke!“, rief Sophie erschrocken aus. „Aber doch nicht meinen Einhornschlitten!“
„Oh doch, gerade Einhornschlitten nimmt der Weihnachtszwölf besonders gern mit. Da kann er nämlich die restlichen geklauten Geschenke draufpacken und – hui! – ab damit durch den Winterwald.“
„Ich war aber ganz artig“, sagte Sophie.
„Har! Das sagen sie alle!“, lachte der Weihnachtszwölf. „Dabei bist du geradegestern total unartig zu deiner Mutter gewesen.“
„Überhaupt nicht. Ich habe den ganzen Tag gepuzzelt.“
„Dann eben vorgestern. Und dein Zimmer ist auch nicht aufge... ähm ... Also, ich fange jetzt an mit dem Plündern. Wo steht der Weihnachtsbaum?“
„Im – im Wohnzimmer. Aber wir dürfen doch noch gar nicht hinein.“
„Harhar. Du vielleicht nicht. Aber ich bin der Weihnachtszwölf. Ich darf alles tun, was Kindern Weihnachten vermiest. Harharhar.“
Und schon lief der kleine Wicht zur Tür und rannte säbelschwingend über den Flur. Die Tür zum Wohnzimmer war zwar geschlossen. Doch der Weihnachtszwölf schwang einen eisernen Haken an einer langen Leine, schleuderte ihn dann zur Türklinke hinauf und kletterte nach oben. Als er durch das Schlüsselloch kroch, blickte er Sophie triumphierend an. Und plötzlich war es ihr egal, dass ihre Eltern ihr verboten hatten, ins Wohnzimmer zu gehen. Sie drückte die Klinke, riss die Tür auf und stürmte hinter dem Weihnachtszwölf her.
Ui, was war das für ein großer Baum. Dicke rote und goldene Kugeln schimmerten im Mondlicht, kleine Flittergoldengel und knuffige Tannenzapfenzwerge hingen an den Zweigen, Lametta baumelte herunter, und frisch aufgesprühter Weihnachtsschnee bedeckte die Nadeln. Und darunter, ach, unter dem Baum, da lagen viele Kartons und Päckchen in buntem Glitzerpapier, mit Schleifchen und Kräuselband verziert, und ein Paket war besonders groß.
„Tja, dann wollen wir mal“, sagte der Weihnachtszwölf. „Das erste, was man tun muss, um den Menschen Weihnachten richtig zu verderben, das ist, den Baum umzuwerfen. Harhar.“
„Oh nein, bitte nicht den Baum!“, jammerte Sophie.
Doch schon hatte sich der Weihnachtszwölf gegen den Tannenbaum gelehnt und begann zu schieben und zu drücken. Er presste sich mit aller Kraft gegen den Stamm. So sehr strengte er sich an, dass er vor lauter Eifer glühend rote Wangen bekam. Aber: Nichts rührte sich. Der Baum stand stolz und gerade und regte nicht einmal ein Zweiglein, so sehr sich der Weihnachtszwölf auch mühte und plagte.
„Hrmpf“, grummelte der Bösewicht. „Das ist aber auch ein besonders großer und schwerer Baum. Aber egal. Es wird reichen, wenn ich die Geschenke wegschleppe. Mit dem großen da hinten fange ich an. Harhar!“
„Aber das ist bestimmt mein Einhornschlitten!“
„Genau. Har!“
Der Weihnachtszwölf schob seine Hände unter das riesige Paket und rief: „Hau-ruck!“ Er stemmte die Füße in den Boden und setzte all seine Kraft ein. Jetzt bekam er einen dunkelroten Kopf. Die Stirnader schwoll ihm an, und sein rechtes Auge kam ihm fast wie das Glubschauge eines Froschs aus dem Kopf. Aber – das Paket rührte sich um keinen Zentimeter von der Stelle. Schließlich ließ sich der Weihnachtszwölf fallen und trommelte vor Wut mit beiden Fäusten auf den Teppich. Dabei ließ er so furchtbare Flüche hören, dass Sophie vor Schreck den Atem anhielt.
Irgendwann hörte der Weihnachtszwölf auf zu fluchen. Seine Fäuste prügelten nicht mehr auf den Teppich ein. Sophie trat vorsichtig näher. Kein Zweifel: Der Räuber weinte. Wie ein kleines Baby weinte er. Und jetzt riss er sich die Augenklappe herunter und wischte sich damit die Tränen ab. „Es ist so gemein“, schluchzte er. „Erst darf ich kein Weihnachtself sein, weil ich einen Keks gestibitzt
habe, dann mache ich mir ein Marmeladenbrötchen und schneide mich mit dem Säbel in den Finger, und jetzt kann ich nicht einmal ein Weihnachtszwölf sein, alles geht schief!“
Sanft streichelte Sophie den kleinen Kerl über den Rücken. Dann pustete sie gegen seinen Finger, an dem eine winzig kleine Wunde zu sehen war.
„Wolltest du mir denn wirklich mein Weihnachtsfest verderben?“
„Aber wenn ich doch ein gefürchteter Weihnachtszwölf sein will ...?
Sophie dachte nach. Dann hatte sie eine Idee. „Warum stiehlst du nicht die Haselnuss dort drüben, die auf dem bunten Teller liegt? Die Haselnuss ist überhaupt das Wichtigste am ganzen Weihnachtsfest. Wenn die fehlt, oh nein, ich fürchte, dann ist uns das ganze Fest verdorben.“
„Wirklich?“
„Ups! Das hätte ich jetzt nicht verraten dürfen. Bitte, bitte lieber Weihnachtszwölf. Du darfst auf keinen Fall die Haselnuss klauen. Das wäre – das wäre ganz gemein von dir!“
„Harhar! Gemein. Das ist es ja genau, was ein Weihnachtszwölf tun muss! Har!“
Er schnappte sich die Haselnuss, klemmte seine Beute unter den Arm und rannte zurück in Sophies Zimmer. Sophie folgte ihm langsam. Sorgfältig zog sie die Wohnzimmertür hinter sich zu. Als sie über den Flur lief, hörte sie vor sich schon das zufriedene Lachen des Weihnachtszwölfs.
Im Kinderzimmer war es noch immer dunkel. Nur das goldene Licht aus dem Weihnachtsmann-Haus leuchtete. Eben sah sie den Schatten des Weihnachtszwölfs über das Puzzle laufen. Mit Ach und Krach schob er die Haselnuss durch das Puzzleloch. Dann stieg er selbst hindurch. Doch gerade als er verschwinden wollte, drehte er sich noch einmal um. Er winkte Sophie zu. „Dankeschön“, sagte er. „War nett, dich kennen zu lernen. Und vielleicht darf ich ja nächstes Jahr ein Weihnachtself sein. Dann bringe ich dir eine neue Haselnuss. Harhar.“
„Ja, das wäre nett“, sagte Sophie. Sie tappte ins Bett. Kurz bevor sie einschlief, erlosch das Licht im Weihnachtshaus.
*
Am anderen Morgen wurde Sophie von ihrer Mutter geweckt. „Schau mal, Sophie, das habe ich in der Küche gefunden“, sagte sie und hielt ihr ein Puzzleteil unter die Nase. „Wenn du magst, kleben wir dein Puzzle gleich nach dem Frühstück auf eine Pappe, und dann kannst du es an die Wand hängen.“
Sophie strahlte, als sie das goldene Fensterlicht erkannte. „Ja“, sagte sie, „das machen wir. Aber wir müssen unbedingt einen ganz festen Klebstoff nehmen.“
Sie strahlte noch immer, als sie mit ihren Eltern am Frühstückstisch saß. „Und, wie ist es? Bekomme ich heute meinen rosafarbenen Einhornschlitten?“, fragte sie.