Nestis und ihre Ahnherrinnen: Melusine
Nestis Melusine Meerjungfrau Nixe
Meermädchen, Wasserfrauen, Nixen - in meiner kleinen Serie über meine Meerjungfrau Nestis und ihre Ahnherrinnen habe ich euch ja schon einige sagenhafte Gestalten vorgestellt. Heute möchte ich euch mit einer Wasserfrau aus dem Mittelalter bekannt machen, auf die sich sogar ein Adelsgeschlecht zurückführte: Melusine.
Melusine ist eine sehr interessante Gestalt, die nicht nur als Ahnfrau der Familie Lusignan, sondern auch literarisch sehr erfolgreich und fruchtbar war. Melusine war Vorlage und Inspirationsquelle für Fouqués Meerjungfrau Undine und damit indirekt auch Vorfahrin von Andersens kleiner Meerjungfrau, deren Geschichte auf dem Undine-Stoff basiert.
Thüring von Ringoltingen veröffentlicht 1456 seine "Melusine"
Ich habe die Geschichte von Melusine durch den spätmittelalterlichen beziehungsweise frühneuzeitlichen Roman von Thüring von Ringoltingen kennengelernt. Das 1456 erschienene "Volksbuch" war seinerzeit ausgesprochen beliebt. Und natürlich habe ich mir für meine nixologischen Studien die wohlfeile Reclamausgabe angeschafft. Wer sich jetzt fröhlich mit Melusine ins kühle Nass und in den spritzigen Meerjungfrauenroman stürzen möcht, sei allerdings an dieser Stelle bereits gewarnt: Die Sprache ist für heutige Leser recht anstrengend, die Handlung nicht unbedingt schreibratgeber-konform konstruiert, und von Melusine selbst ist über weite Strecken der Geschichte kaum etwas zu sehen. Das Ganze ist eher für Hardcore-Nixenfans, Literaturwissenschaftler und sonstige Masochisten empfehlenswert, es macht einige Arbeit ...
Die Ahnin des Hauses Lusignan
Thüring von Ringoltingen (ca. 1415-1483), hauptberuflich Schultheiß in Bern, hatte sich ein französisches Buch zum Vorbild genommen, 1401 von Couldrette veröffentlicht, in dem bereits ausführlich von Melusine und der auf sie zurückgeführten Familie Lusignan berichtet wurde. Die Volksetymologie des Namens leitet Melusine denn auch von den Wörtern "Mere" und "Lusignan" her, demnach wäre Melusine als die Mutter der Lusignans.
Die Sage berichtet von einem jungen, schönen und aufstrebenden Adligen, der an einem Brunnen eine schöne und kluge, sogar mit der Gabe der Weissagung gesegnete Frau trifft, die ihn fördert und schließlich bereit ist, ihn zu heiraten. Allerdings stellt sie eine Bedingung: Sie verlangt das Recht, an jedem Samstag allein und unbeobachtet im Bad bleiben zu dürfen. Eine Bedingung, die man leicht erfüllen kann, denkt ihr Gatte und willigt ein. Hierauf wird geschildert, wie Melusine ihrem Mann zahlreiche Söhne zur Welt bringt, die Kinder sind alle gesund und kräftig, doch jedes einzelne hat an irgend einer Stelle einen kleinen Makel, etwa eine dicke Beule wie ein Horn am Kopf. Diese Besonderheit wird im Buch nicht weiter thematisiert, aber den Leser beschleicht doch das Gefühl, hier könne etwas Dämonisches zugehen.
Die Söhne der Melusine werden nun eingehend geschildert, man erfährt, wie sie aufwachsen und schließlich zu großen Heldentaten ausziehen. Viele Kämpfe sind zu bestehen, manche erringen große und mächtige Königreiche. Unter anderem wird Zypern zum Schauplatz der Abenteuer, wo die in Poitiers (Westfrankreich) ansässige Familie Lusignan tatsächlich herrschte. Es ist möglich, dass der Melusinen-Mythos dorther seine Verwandtschaft mit mediterranen Meerfrauen-Sagen hat.
Während all dieser Zeit verschwindet die daheim gebliebene Mutter vollständig von der Bildfläche, die Kämpfe ihrer Söhne machen einen sehr großen Teil des Buches aus, von Wasserfrauen und Sirenengesang findet man also nicht viel im Buch.
Melusine heimlich im Bad beobachtet
Erst nach vielen Jahren trägt es sich zu, dass ihr Gatte sein bei der Hochzeit gegebenes Versprechen bricht. Er beobachtet sie heimlich im Bad - und ist entsetzt: Melusine ist zwar, was den Oberkörper aneht, immer noch eine wunderschöne Frau, bauchnabelabwärts aber windet sich ein furchtbarer Schlangenleib im Wasser. Melusine ist nicht minder entsetzt, als sie sich enttarnt sieht. Eigentlich hätte sie in diesem Augenblick gehen und ihren Mann verlassen müssen. Doch sie verzeiht ihm seinen Wortbruch, dies eine Mal, unter der Bedingung, dass er seine Klappe hält und ihr Geheimnis niemandem verrät. Ein Versprechen, das ihr Mann sofort gibt. Es hält auch einige Jahre, aber irgendwann, im Suff, im Zorn, rutscht ihm doch vor Zeugen eine Bemerkung über die schlangenhafte Natur seiner Gattin heraus. Dies ist der Moment, in dem Melusine ihn unwiderruflich verlässt. Allerdings heißt es, dass die Ahnfrau manchmal vor besonderen Ereignissen noch Jahrhunderte später immer mal wieder ihren Nachkommen erschienen ist ...
Schuld und Sühne der Nachkommen
Thüring von Ringoltingen ist mit der Bearbeitung seiner französischen Vorlage recht frei umgegangen und hat sich deutlich bemüht, etwas "Eigenes" zu schaffen. Vor allem ein speziell geistlich-christlicher Standpunkt, von dem aus das Geschehen betrachtet wird, ist charakteristisch für sein Werk. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der "Schuld", die einzelne Mitglieder der Familie auf sich laden und später sühnen müssen. Vor allem Geoffrey, einer der Söhne Melusines, ist hier zu nennen, der den Frevel beging, ein Kloster niederzubrennen.
Auf der Suche nach einer Seele
Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Adelsfamilien auf besondere Ahnherren oder Ahnherrinnen zurückführen. Kaum ein Adelsgeschlecht, das sich in alten Zeiten einen Stammbaum pinseln ließ, verzichtete auf griechische Heroen oder biblische Gestalten in ihrer Ahnenreihe. Dass die Familie Lusignan, die in Poitiers ansässig war, aber auch eine Zeitlang auf Zypern herrschte, allerdings einen Naturgeist oder eine zauberkundige weise Frau zu ihrer Ahnherrin erkor, ist recht ungewöhnlich. Es mochte in Zeiten, als die Kirche noch größere Macht hatte als heute, gar etwas gefährlich sein. Immerhin hat es sich die christliche Kirche Jahrhunderte lang zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an solche Wesen gnadenlos auszumerzen. Das Nachwort meiner Reclam-Ausgabe macht sehr deutlich darauf aufmerksam, dass aus diesem Grund das Motiv der Seele in den Melusinen-Mythos hinein kam: Ein Naturgeist hat keine Seele, aber er sollte eine erlangen können, oder zumindest danach streben, eine zu erhalten. Nur so wurde Melusine als Ahnherrin eines christlichen Geschlechts "hoffähig". Ein Gedanke, der sich in den Meerjungfrauen-Geschichten späterer Zeiten zu einem zentralen Motiv entwickelt hat. In Fouqués Märchen von Undine ist die Sehnsucht nach einer Seele zum Kernthema geworden, und auch in Andersens kleiner Meerjungfrau geht es neben der Liebe zum Prinzen immer darum, eine unsterbliche Seele zu erlangen.
Melusinen-Dichtungen von Goethe und Tieck
Die Geschichte Melusines hat zahlreiche andere Dichter inspiriert, zu nennen sind hier beispielsweise "Die neue Melusine" in Goethes Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" oder Ludwig Tiecks Bearbeitung. Die heute bekannteste Melusinendichtung allerdings dürfte das Gedicht "Melusine" des Lyrikers Lothar Fohwein sein, dessen unsterbliche Deklamation wahrhaft Maßstäbe gesetzt hat:
Weitere Nestis-Ahnherrinnen:
Andersens kleine Meerjungfrau
Die Göttin Nestis
Die Göttin Thetis
Undine
Glaukos Pontios
Ran und die Wellenmädchen
Die Loreley
Die schöne Lau
Die Göttin Tethys
© Petra Hartmann