Nestis und ihre AhnherrInnen: Glaukos Pontios
Nestis Meermädchen Glaukos Pontios
Warum eigentlich nur Meermädchen? In meiner kleinen Serie über die Ahnen meiner Meerjungfrau Nestis möchte ich euch heute einen Quoten-Mann vorstellen. Hier ein paar Infos über Glaukos Pontios, einen Meermann aus der griechischen Mythologie, mit sehr ungewöhnlicher Herkunft.
Der Name Glaukos, oder in der weiblichen Form: Glauke, bedeutet so viel wie "blauglänzend" oder "leuchtend", beschreibt also, wie die Namen vieler griechischer Meeresgötter, einen Zustand oder Anblick des Meeres. Glaukos war einst ein Mensch. Er stammte aus Böotien, aus der Stadt Anthedon, und war von Beruf Fischer. Eines Tages aß er, versehentlich und ohne zu wissen, was er sich damit einhandelte, ein geheimnisvolles Zauberkraut und bemerkte erschrocken, wie er sich in ein Ungeheuer mit Fischschwanz verwandelte. Schließlich sprang er von einem Felsen ins Meer und lebte von nun an als skurrile Wassergottheit in den Fluten.
Glaukos und die kleine Meerjungfrau
Im Prinzip haben wir hier also das genaue Gegenteil von Andersens kleiner Meejungfrau: Dort ist es eine Meerbewohnerin, die Beine erhält, hier ein Mensch, der plötzlich seine Beine verliert und dafür einen Fischschwanz bekommt. Übrigens ist die Gegensätzlichkeit auch in Bezug auf die jeweiligen Geliebten vorhanden. Während sich die kleine Meerjungfrau in einen Festlandsprinzen verliebt, soll Glaukos die Meeresgöttin Skylla geliebt haben .
So schildert der römische Dichter Ovid in seinen Metamorphosen die Verwandlung des Glaukos folgendermaßen:
"Sieh, da zeigt sich Glaucus, ein neuer Bewohner der Hochsee,
Meeresdurchfurchend, der jüngst, gegenüber Euboea verwandelt
Ward, in Anthedon. Er sieht die Jungfrau [Skylla] und stutzt, und Begierde
Stachelt ihn an: er ruft ihr und hofft, sie lasse sich halten.
Aber sie eilt ihm davon - es beflügelt die Furcht ihre Schritte - ,
Und sie erreicht einen Berg, der nah dem Strande gelegen.
Ganz am Meere erhebt sich ein mächtiger Gipfel, zu einer
Spitze geballt, nach der See sich wölbend, mit Bäumen bewachsen.
Allda steht sie, geschützt durch den Ort. Sie weiß nicht, ist jener
Gott oder Unhold: sie sieht voll Staunen die Farbe, der Haare
Fülle, die dicht ihm die Schultern umwallen, den Rücken bedecken,
Und wie unter den Leisten ein biegsamer Fischleib sich windet.
Aber er sieht ihr Staunen; gestützt auf ein Riff, das zunächst steht,
Ruft er: "Ich bin kein entsetzliches Tier, kein Schrecknis, o Jungfrau,
Sondern ein Gott der Gewässer: nicht Proteus besitzt in dem Meere
Größere Macht, nicht Triton, nicht Athamas' Sprößling Palaemon.
Freilich, ein Sterblicher war ich vordem, doch übt' ich schon damals
Meinen Beruf auf der See, dem Meer schon immer verpflichtet.
Denn bald war ich mit Netzen beschäftigt, um Fische zu fangen,
Oder ich saß auf der Mole am Strand und regierte die Angel.
Nah einer grünenden Wiese erstreckt sich am Meer ein Gestade,
Hier von den Wellen bespült und dort umgürtet von Gräsern.
Niemals verletzte die Matte das hörnertragende Jungvieh,
Friedliche Schafe und zottige Ziegen, nie war sie euch Weide;
Niemals sammelten emsige Bienen den Honig der Blüten,
Niemals pflückte man Blumen zu festlichen Kränzen, und niemals
Mähten hier Hände, mit Sicheln bewehrt. So bin ich der erste,
Der auf den Rasen sich setzt, derweil die durchfeuchteten Netze
Trocknen. Auch will ich die Fische, so viel ich gefangen, sortieren;
Und ich legte sie hin, teils die in die Netze der Zufall,
Oder ihr Leichtsinn mir in die Haken der Angel getrieben.
Wirklich, es klingt wie erfunden! Doch nützt es mir hier, zu erfinden?
Als sie die Gräser berührt, da bewegt meine Beute sich wieder,
Dreht sich flink und schnellt sich am Boden genau wie im Meere.
Während ich stehe und staune zugleich, da rennt mir die ganze
Schar in ihr Wasser: der Strand ist geräumt, der Besitzer verlassen!
Völlig verblüfft, bin ich lang im Zweifel und suche nach Gründen:
War es ein Gott, der Saft einer Pflanze, der solches bewirkte?
'Welch eine Pflanze jedoch', so denk ich, 'hat solcherlei Kräfte?'
Alsdann pflück ich geschwind von dem Kraut und zerkau es im Munde.
Kaum ist der Saft, der fremde, mir recht durch die Kehle gedrungen,
Spür ich urplötzlich das Herz in der Brust mir klopfen und beben,
Und wie der Drang mich ergreift, einer andern Natur zu gehören.
Lang kann ich nicht widerstehn. 'Nie wirst du mich wieder erblicken,
Erde! leb wohl!' so ruf ich und spring in die Tiefe der Wellen.
Und sie nehmen mich auf, die Götter des Meeres; sie gönnen
Mir die Ehre, der Ihre zu werden; sie fordern von Tethys
Und von Okeanus, von mir zu nehmen, was sterblich. Entsühnung
Finde ich dort: einen Spruch, der vom Frevel mich löst, soll ich neunmal
Sprechen und hundert Flüssen die Brust zur Berieselung bieten.
Unverzüglich ergießen von hier und von dort sich die Wasser:
Flüsse und flutende Wogen der See überströmen das Haupt mir.
So weit weiß ich noch, was mir geschah, und kann dir's erzählen;
So weit reicht mein Gedächtnis: das Weitere spürte ich nicht mehr.
Als zur Besinnung ich kam, da fand ich mich gänzlich am Leibe
Anders als jüngst ich gewesen, und auch im Geiste verändert.
Hier der Bart, blaugrün in der Farbe, ich sah ihn zum ersten
Mal und das Haar, das ich hinter mir schleife durch riesige Meere.
Auch die gewaltigen Schultern, die bläulichen Arme erblickt' ich,
Und wie die Schenkel sich krümmten zum flossentragenden Fische.
Aber was nützt mir die Schönheit, die Gunst der Götter des Meeres,
Was, daß ich selber ein Gott, wenn du das alles verachtest?"
Also der Gott, und er will noch mehr ihr sagen, da läuft ihm
Scylla davon: er rast und entrüstet, daß sie ihn verschmäht hat,
Eilt er zum Zauberhause der Circe, der Tochter des Titan.
(Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Epos in 15 Büchern. Übersetzt und herausgegeben von Hermann Breitenbach. Mit einer Einleitung von L.P. Wilson. Stuttgart: Reclam, 1990. S. 440-443. Buch 13, Verse 904-968.)
Liebe und Eifersucht unter Meergöttern
Skylla wollte mit diesem Ungeheuer nichts zu tun haben. Kirke, die Glaukos liebte, hätte ihn schon genommen, doch er wollte ja nicht. So verwandelte Kirke schließlich Skylla aus Eifersucht in das furchtbare Meeresungeheuer, das wir aus Homers Odyssee kennen, als Odysseus sich entscheiden musste, wie er zwischen den furchtbaren Gefahren Skylla und Charybdis hindurchsteuerte - eine sprichwörtliche Wahl, die wir heute wahrscheinlich mit der Entscheidung zwischen Pest und Cholera übersetzen würden.
Auch in dem Kleinepos "Skylla" der griechischen Dichterin Hedyle spielt Glaukos eine Rolle. Von dem Werk der Dichterin, die um 300 vor Christus geboren worden war, ist leider nur ein einziges Fragment erhalten. Es findet sich in den "Deipnosophistoi" (deutsch gelegentlich als "Das Gelehrtenmahl" bezeichnet) des griechischen "Buntschriftstellers" Athenaios (7, 297A), und "es spricht von Geschenken, die der verliebte Glaukos der Skylla bringt, ohne jedoch besondere eigene Züge erkennen zu lassen".
(Eintrag "Hedyle" in: Frauen der Antike. Von Bernhard Kytzler. Frankfurt/Main und Leipzig, 1997. S. 75.)
Glaukos soll auch von den Nereiden Nessaee (Nessaie) und Cymothoe geliebt worden sein, als seine Tochter wird die Nymphe Deiphobe genannt. Auch soll er den jugendlichen Meergott Melikertes bzw. Palaimon geliebt haben.
Die beiden Glaukos-Dramen des Aischylos
Kennen gelernt hatte ich den seltsamen Meergott während meines Studiums, als ich mich mit dem griechischen Tragödiendichter Aischylos befasste. Von ihm gab es zwei Werke, die einen "Glaukos" zum, Titelhelden hatten, beide nur in wenigen Fragmenten überliefert. Neben dem "Glaukos Pontios", dem Meeres-Glaukos, gab es auch einen "Glaukos Potneieus", Glaukos aus der Stadt Potniai, der durch einen tragischen Unfall bei einem Wagenrennen ums Leben kam. Eigentlich war letzterer mein Thema, denn er gehörte zur "Perser-Tetralogie", die Aischylos im Jahre 472 in Athen aufführte. Doch natürlich schaute ich mir auch das kleine Schnipselchen über den Glaukos Pontios an, das zu einem Satyrspiel gehörte, also einem kleinen, humorvollen Abschluss, der nach drei Tragödienaufführungen folgte, oft auch thematisch mit den eher tragischen Geschichten zusammenhing, aber dann doch wieder eine heitere, freundliche Sicht auf das tragische Geschehen vermittelte. So war es auch bei den Fragmenten aus dem Glaukos-Satyrspiel, in dem der soeben Verwandelte an sich herunterschaut und fassungslos feststellt, was für ein ulkiges, plumpes Urviech er geworden ist. Leider kann man kaum etwas zum Gang der Handlung aus den spärlichen Überresten ableiten.
Glaukos weissagt den Argonauten
Glaukos soll, wie viele Meergötter, auch die Gabe der Weissagung besessen haben. Auf Delos hatte er zusammen mit den Nereiden ein Orakel, das teilweise als zuverlässiger galt als das des delischen Apollon. Delos gilt auch als sein bevorzugter Aufenthaltsort. Doch spielte er auch eine Rolle bei den großen Fahrten griechischer Abenteuerer und Eroberer in den Osten. So tauchte er im Argonautenepos des Aollonios von Rhodos auf und prophezeite der Besatzung der Argos, dass sie auf zwei Helden verzichten sollte:
"Ihnen aber erschien Glaukos aus der tiefen Salzflut, der vielverständige Ausdeuter des göttlichen Nereus. Und indem er sein behaartes Haupt und seine Brust unten von den Hüften her in die Höhe hob, griff er mit starker Hand nach dem Vordersteven des Schiffes und rief den Erregten zu:
'Warum wollt ihr entgegen dem Willen des großen Zeus den kühnen Herakles zur Stadt des Aietes führen? In Argos ist es ihm vom Schicksal verhängt, für den frevlerischen Eurystheus mühevoll zwölf Aufgaben zu erfüllen und mit den Unsterblichen als Hausgenosse zu wohnen, wenn er noch die wenigen vollendet hat. Deswegen soll gar kein Verlangen nach jenem aufkommen! Und ebenso wiederum ist bestimmt, dass Polyphemos, nachdem er an den Mündungen des Kios den Mysern eine ringsum berühmte Stadt unter Mühen erbaut hat, sein Schicksal im grenzenlosen Land der Chalyber erfüllt. Aber den Hylas hat eine göttliche Nymphe aus Liebe zu ihrem Gatten gemacht, und eben seinetwegen haben sie sich verirrt und sind zurückgeblieben.'
Sprach's und setzte sich auf eine gewaltige Woge und tauchte hinab. Und um ihn schäumte, in Wirbeln strudelnd, das purpurfarbene Wasser und bespülte aus der hohlen Salzflut das Schiff."
(Apollonios von Rhodos: Die Fahrt der Argonauten. Griechisch / Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Paul Dräger. Stuttgart: Reclam, 2002. S. 97ff. Buch I, Vers 1310-1329.)
Glaukos erscheint auch als Begleiter des Gottes Dionysos auf dessen Feldzug nach Indien. Eine Gesellschaft, die sehr passend erscheint, immerhin erinnert Glaukos in der gutmütigen, skurrilen Hässlichkeit an einige andere Figuren aus dem Gefolge des Weingottes, wie etwa Silenos.
Platon verwendet Glaukos als Bild der geschundenen Seele
Hochinteressant finde ich, dass der Meeresgott auch in der Philosophie seine, nun ja, "Fußstapfen" hinterlassen hat. In Platons "Staat" nämlich taucht Glaukos in der Diskussion über die Seele und ihre Beschaffenheit auf. Dort heißt es:
"Vorhin haben wir zwar durchaus die Wahrheit über sie [die Seele] gesagt auf Grund der Form, in der sie uns erscheint; allerdings betrachteten wir sie in einemn Zustand, wie Seeleute den Meergott Glaukos sehen; sie können seinen früheren Zustand kaum mehr erekennen, weil die alten Teile des Körpers teils abgebrochen, teils zerschunden und von den Wellen ganz entstellt sind; anderes ist ihm zugewachsen, Muscheln und Tang und Steine, so daß er viel eher einem Tiere gleicht als seiner früheren Gestalt. Ebenso betrachten wir auch die Seele, von tausend Übeln entstellt."
(Platon: Der Staat. (Politeia). Übersetzt und Herausgegeben von Karl Vretska. Stuttgart: Reclam, 1994. S. 455f. 10. Buch, 611c-d.)
Unter den Nereiden gibt es eine Namensvetterin des Glaukos, nämlich die blauglänzende Glauke, gewissermaßen die weibliche Entsprechung des Meeresgottes. Diese wird allerdings eher als schön und liebenswürdig geschildert. Sie wurde zur Namenspatronin für eine der Schwestern meiner Meerjungfrau Nestis - eine kleine Erinnerung an den durch ein Zauberkraut vergöttlichten böotischen Fischer lebt also in meinen Meermädchenbüchern weiter.
Weitere Nestis-Ahnherrinnen:
Andersens kleine Meerjungfrau
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Ran und die Wellenmädchen
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© Petra Hartmann