Jahresrückblick III: Juli bis September 2017
Jahresrückblick
Hinweis:
Etwaige blau markierte Texte sind herausragende Spitzenbücher, rot steht für absoluten Mist, und hinter den Links verbergen sich ausführlichere Besprechungen innerhalb dieses Blogs.
Juli
Björn Kuhligk: Die Sprache von Gibraltar
Jens Malte Fischer: Carlos Kleiber - der skrupulöse Exzentriker
Eines von zwei Büchern über den Ausnahmedirigenten, die ich dieses Jahr gelesen habe. Und beide sind sehr unterschiedlich.
Carlos Kleiber ... Ja, wie fasst man das Phänomen eigentlich in Worte? Magie ist vermutlich das richtige Wort dafür. Große, heilige Magie. Mich hat der Meister vor etwas über zehn Jahren gepackt, völlig unerwartet. Und einen so unmusikalischen Menschen wie mich so vollständig umzuhauen, das will schon etwas heißen. Eigentlich bin ich mehr zufällig an ihn geraten. Beim Herumstöbern im Beethoven-Regal bei Schmorl und von Seefeld in Hannover. Da hatte ich plötzlich diese CD mit Beethovens Vierter in der Hand. Carlos Kleiber und das Bayerische Staatsorchester, 3. Mai 1982. Die Vierte. Die hatte ich bis dahin eigentlich gar nicht so recht wahrgenommen. Halt ein kurzes Luftholen zwischen der Eroica und der großen Schicksalssinfonie. Wenige Leute wissen sie wohl zu würdigen. Und ich weiß bis heute nicht, warum ich die CD mitgenommen habe. Kein vernünftiger Mensch kauft sich die Vierte. Erst recht nicht, wenn er alle neun als Komplettpaket von Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern im Regal stehen hat. Was mich bewogen hat, sie mitzunehmen, weiß ich echt nicht. SIe muss nach mir gerufen haben. Auf dem Weg zur Kasse war ich mir immer noch unsicher, ob ich sie überhaupt haben wollte, und beim Rausgehen habe ich überlegt, ob ich sie nicht doch lieber zurückgeben sollte. Ich legte sie dann auf meinen Stapel ungehörter CDs, und irgendwann, ein paar Tage später, als ich etwas Ruhe im Haus hatte, schob ich sie, immer noch lustlos, in den CD-Player. Boah! Unfassbar. Ich habe vor diesem Stereoturm gekniet und die Lautsprecher mit den Augen verschlungen. Ich dachte nur immer: Ja! Das ist Beethoven. Später wurde mir dann klar: Nein, das ist Kleiber. Und irgendwann kapiert man: Doch, das ist doch Beethoven. Aber ein Beethoven, wie ihn nur Kleiber aus Beethoven herausholen konnte.
Ähm, ja, okay, wieder zurück auf den Teppich und zum Buch. Ich hatte eigentlich nach etwas ganz anderem gegoogelt, als mir eine Rezension dieses Büchleins als "Beifang" mit in mein Suchnetz gespült wurde. Da musste ich einfach zugreifen. Und habe es nicht bereut.
Es ist nicht eigentlich eine Biographie, eher ein kurzer Essay, zwei Jahre nach Kleibers Tod erschienen. Das Büchlein ist dünn. Der rund 50-seitigen Skizze folgt ein Verzeichnis der Aufnahmen Kleibers, sodass es insgesamt einen Umfang von 92 Seiten hat. Aber dieses schmale Bändchen triifft einfach. Wie eine Bleistiftskizze eines guten Zeichners oft Wesen und Charakter eines Menschen besser herausarbeitet und ihm ähnlicher sieht als manche Fotografie, hat dieses Werk wesentlich mehr Kleiber eingefangen als die dicke, detailreiche Biografie, die ich im Monat danach gelesen habe. Als ich das Büchlein las, wusste ich wieder ganz genau, warum ich damals vor dem Stereoturm gekniet habe ...
Günter von Lonski: Mut verleiht Flügel
Paul W. Bierbaum: Im Aeroplan über die Alpen
Neuauflage eines historischen Berichts über einen Flugwettbewerb aus dem Jahr 1910. Flugpioniere aus aller Welt treffen sich im schweizerischen Brig zu einem Wettbewerb: Wer schafft es, als erster die Alpen zu überfliegen? Die Strecke führt über den Simplon-Pass nach Domodossola in Italien. Ein Ereignis, das von der internationalen Presse mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wird, und die Augen der Welt ruhen auf dem kleinen Brig. Vor allem ein Peruaner steht im Mittelpunkt des Interesses: Jorge "Geo" Chavez, ehrgeizig, etwas eitel und ein extrem guter Flieger. Chavez ist ein Pilot - damals sagte man: Aviatiker - mit Leib und Seele. Als Sohn eines Millionärs hätte er auch die Füße hochlegen und ein Luxusleben genießen können, aber er widmet sich lieber der Aviatik, stellt mehrere Rekorde auf und will nun als Pionier der Erstüberflieger der Alpen werden. Mehrfach werden die Starts verschoben, Meteorologen geben immer wieder Unwetterwarnungen heraus. Mal sind die Flieger wütend auf die Organisatoren und boykottieren die Schauflüge für das Publikum, mal ist das Publikum wütend, weil zur versprochenen Zeit noch immer keiner nach Italien aufgebrochen ist ... Am 23. September 1910 hat Chavez die Nase voll vom Warten. Er startet, überfliegt das Gebirge, schafft es bis Domodossola - doch im Landeanflug, als die Menge unter ihm schon jubelt, passiert es: Chavez' Flugzeug stürzt ab, er selbst wird schwer verletzt und stirbt vier Tage später.
"Im Aeroplan über die Alpen" ist ein Originbalbericht aus dieser Zeit. Sprache und Aufbau des Berichts sind demnach auch etwas altertümlich und nicht auf heutige Lesegewohnheiten zugeschnitten. Der Leser muss sich schon etwas einlassen auf den Stil des Verfassers. Es ist kein Roman und auch keine Chavez-Biographie, sondern eine Darstellung des Projekts "Simplonfug", der Organisation, der Verhältnisse am Boden, der unterschiedlichen Interessen und Fliegerpersönlichkeiten und ihrer Maschinen, man erhält gewissermaßen Kamerafahrten über das Gelände der Flugshow mit Schwenk über des Publikum, dazu Wetterinformationen, ein bisschen Heldenverehrung und einen Blick zurück in die Zeit, in der ein Blériot XI Eindecker die Verkörperung der Zukunft war. Wer Freude an einer Reise in die Welt der tollkühnen Männer und ihrer fliegenden Kisten hat, wird hier voll auf seine Kosten kommen.
Das Besondere dieser Neu-Ausgabe ist zweifellos das Cover. Denn statt eines historischen Fotos einer Flugmaschine oder eines Chavez-Porträts sieht man hier eine comicartige Darstellung des Flugzeugs, einem historischen Bild entnommen, aber verfremdet, sodass das Ganze wie ein Jugendbuch daherkommt. Und das hat durchaus seine Ursache, denn das Buch ist zeitgleich und sozusagen als Begleitbuch zu Günter von Lonskis Jugendbuch "Mut verleiht Flügel" erschienen. In dem Jugend-Abenteuer spielt Chavez eine bedeutende Rolle als Mentor und imaginärer Freund eines jungen Außenseiters, der ausgerechnet dieses Buch über Chavez' Simplonflug als Kraftquelle für sich entdeckt. Die Gestaltung beider Titelbilder macht schnell klar, dass die Bücher zusammengehören. Ein echter Hingucker.
August
Alexander Werner: Carlos Kleiber. Eine Biographie
Ein ziemlich umfangreiches, detailreiches Werk über Carlos Kleiber. Für den Wissenschaftler und jeden, der sich intensiver mit dem Dirigenten befassen möchte, allein schon wegen des sorgfältig und reichlich zusammengetragenen Quellenmaterials ein unverzichtbares Buch. Wahrscheinlich gibt es kein Programmheft, keine Konzertkritik und keine irgendwie zugängliche Bogenstrich-Notiz Kleibers, die Alexander Werner nicht kennt und akribisch ausgewertet hat. Keine Anekdote, keine gehässige oder bewundernde Äußerung von Musikern oder Musikfunktionären scheint ihm entgangen zu sein. Insofern ist jeder, der auf der Suche nach einer bestimmten Einzelheit aus Kleibers Leben und Wirken ist, gut beraten, in diesem Buch nachzuschaun. Wenn sie hier nicht zu finden ist, dann nirgends. Soviel zum Guten.
Was weniger gelungen ist: Es gibt keine Struktur, keinen Spannungsbogen, da wird keine Linie herausgearbeitet, diese 768 Seiten sind ein einziges "unddannunddannunddann". Werner arbeitet sorgsam und präzise jede einzelne Inszenierung, jedes Dirigat ab. Eines nach dem anderen, jedes penibel und akribisch. So kommt es, dass man schnell das Gefühl hat: Das kenne ich schon. Fast jedes Kapitel ist gleich aufgebaut: Kleiber wird irgendwie überzeugt oder geködert und erklärt sich bereit, ein Stück einzustudieren. Er schockiert die Musiker mit seinen hohen Anforderungen, hat ungewöhnliche Wünsche, Selbstzweifel, es gibt Konflikte, die keiner erwartet, und entweder es knallt dann, und er wirft alles hin, oder es klappt, die Aufführung wird zu einem Riesenerfolg, Musiker, Publikum und Presse schweben dreißig Zentimeter über dem Erdboden und sind sich bewusst, etwas Großartigem, Heiligen begegnet zu sein ... Man kann jedes Kapitel einzeln lesen und genießen, aber wer das Buch von Anfang bis Ende durchliest, ermüdet schnell. Ja, das Buch ist eine gute Arbeit, und man kann gut damit arbeiten. Aber aus dem kleinen Essay von Jens Malte Fischer, den ich im Monat zuvor gelesen habe, steigt einfach mehr Kleiber-Feeling auf ...
Thorgal 35: Scharlachrot
Ronnie O'Sullivan: Running
Autobiografie des größten Genies, das jemals einen Snookertisch abgeräumt hat. Was habe ich mit meiner Mutter zusammen an der Mattscheibe geklebt und wie hypnotisiert zugeschaut. Im Ohr die ruhige, gelassen erklärende Stimme von Rolf Kalb: "Schwarz kann er nicht spielen, Pink auch nicht ..." Ronnie O'Sullivan bekommt das Flackern im Auge, geht um den Tisch, nimmt gar nicht erst Maß, stößt zu, und zack ist die Schwarze versenkt ... Jetzt also seine Autobiografie. Ja, man merkt, dass die selbst geschrieben ist. Klingt absolut nicht so, als helfe da ein brillanter, eingekaufter Stilist im Hintergrund. O'Sullivan schreibt einfach und schlicht, er ist kein gelernter Erzähler, insofern kingt es stellenweise etwas eckig und hakt, dafür eben authentisch und direkt. Und der Titel "Running" ist genau so gemeint: Was ihn bei Drogen-Exzessen, Familien-Katastrophen und psychischen Abstürzen immer wieder stabilisiert und auf Kurs gebracht hat, war eben das Laufen. Fast geht es mehr um das Laufen als um Snooker, und auch die Einteilung des Buches bilden Laufstrecken und Zeiten. Schon ein sehr interessantes Buch.
Hugo von Hofmannsthal: Jedermann
Geschichte eines reichen Mannes, den der Tod abholen will. Jedermann erwirkt einen Aufschub, um einen Menschen zu suchen, der mit ihm gehen will. Ein Theaterstück in der Tradition mittelalterlicher Mysterienspiele, die Homannsthal im Tonfall auch sehr gut trifft. Eine Hamburger-Lesehefte-Ausgabe. Enthält außerdem die frühe Fassung vom 1905, das alte Spiel von Jedermann, das Spiel vor der Menge, ein Nachwort mit Infos zu Stoffgeschichte und Autor, eine Zeittafel und einen Zeilenkommentar. Also recht gut ausgestattet.
September
Aileen P. Roberts: Feenfeuer
Jens Schumacher: Der Hügel von Yhth
Die Welten von Thorgal: Lupine - Die Königin der Schwarzelfen
Jugurtha: Gesamtausgabe 2
- Der Kampf um die sieben Hügel
- Die Wölfe der Steppe
- Die große Mauer
- Der Rote Prinz
Die Serie hat seit Teil 3 nichts mehr zu tun mit dem historischen Jugurtha. Das muss man akzeptieren, wenn man weiterlesen und Spaß daran haben will. Also, weg mit dem Purismus. Jugurtha ist zunächst weiterhin an der Seite derjenigen, die gegen Rom kämpfen. Allerdings ist aus dem einst von Hass verzehrten Kämpfer ein nachdenklicher Mann geworden, der sich nach Frieden sehnt. Als er mit seinem Heer vor den Toren Roms lagert, verbringt er eine Nacht damit zu überlegen, ob er die Stadt wirklich zerstören soll. Gefallen hat mir, als ich die Geschichten in der Carlsen-Ausgabe erstmals las, am besten das Zusammentreffen zwischen Mithridates und Jugurtha. Die beiden gehörten für mich sowieso eng zusammen. Im Comic aber sind sie zwei sehr unterschiedliche Charaktere, und der pontische König ist ziemlich unsympathisch. Danach verlässt die Story mehr und mehr den Bereich der römischen Historie. Es geht durch die Steppe und nach China. Bis dahin hatte ich die Carlsen-Ausgaben gelesen. Neu war für mich das Abenteuer "Der Rote Prinz", ein übler Kerl, der in der Gegend von Malaysia, Sumatra und Borneo seine Schreckensherrschaft ausübt. Also sehr weit weg vom ursprünglichen Aktionsgebiet des numidischen Prinzen. Nicht unbedingt schlecht, aber vom Hocker gerissen hat es mich auch nicht.
Eva-Maria Thimme (Hg.): Moses Mendelssohn. Freunde, Feinde & Familie.
Keine Abhandlung, sondern eine Art Katalog zur Ausstellung, allerdings ein nachgereichter. Denn als die Ausstellung "Moses Mendelssohn. Freunde, Feinde und Familie" 2012 im Centrum Judaicum in Berlin eröffnet wurde, gab es noch kein Begleitbuch, es erschien erst 2014, ein Jahr nach Ende der Ausstellung. Das Buch enthält Fotos der Ausstellungsstücke und die Beschreibungen dazu, sowie einige lesenswerte Aufsätze. Gut, dass es doch noch herauskam.
Jan-Eike Hornauer (Hrsg.): Wenn Liebe schwant
Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann
Ein Buch, das ich schon lange auf meiner To-do-Liste habe. Jetzt habe ich es endlich geschafft, mir die Vorlage für "Anatevka" anzuschaun. Sieht doch etwas anders aus. Die Geschichte eines jüdischen Milchmanns, der versucht, seine Töchter an gute Ehemänner zu verheiraten. Aber es ist nicht alles Gold, was glänzt, und jede Ehe, die der Schadchen stiftet oder die die jungen Leute unter sich ausmachen, wird übler als die vorherige. Heiter, traurig, klug, weise und ein bisschen augenzwinkernd, und am Ende sogar lebensbedrohlich für den guten Tewje.
Weitere Jahresrückblicke:
Teil I: Januar bis März 2017
Teil II: April bis Juni 2017
Teil IV: Oktober bis Dezember 2017
© Petra Hartmann