Nestis und ihre Ahnherrinnen: Die Loreley
Nestis Lorelei Meerjungfrauen Nixen Wasserfrauen
In meiner Serie über Meerjungfrauen, Nixen und Wasserfeen möchte ich euch heute die Loreley vorstellen. Rätselhaft, erotisch und tödlich. Ausnahmsweise mal ein Süßwasserwesen, aber auch sie ist eine Ahnherrin meines Meermädchens Nestis.
"Die Loreley, bekannt als Fee und Felsen,
ist jener Fleck am Rhein, nicht weit von Bingen,
wo früher Schiffer mit verdrehten Hälsen,
von blonden Haaren schwärmend untergingen."
So schrieb es Erich Kästner in seinem Gedicht "Der Handstand auf der Loreley". Und schon in diesen vier Zeilen ist gut zusammengefasst, worum es in der Geschichte geht: Eine blonde Frau, möglicherweise mit übersinnlichen Kräften, auf jeden Fall ausgestattet mit Haar, das einen Betrachter in exaltierte Zustände versetzen kann und dadurch besonders Schiffern auf dem Rhein sehr gefährlich werden kann. Vor allem aber spielt der Felsen eine großes Rolle. Und dass die Loreley "bekannt als Fee und Felsen" war, also eine seltsame Doppelheit aus geographischer Bezeichnung und Menschenwesen beziehungsweise Geisterwesen darstellt, wird gleich zu Anfang betont.
Die Loreley - ursprünglich nur ein Felsen am Rhein
Tatsächlich liegt nicht nur ein besonderer Schwerpunkt auf der Felsnatur dieser Frau, sondern die Loreley war und ist vor allen Dingen eben ein Felsen, jener bekannte Ort am Rhein, ein Schieferfelsen, 132 Meter hoch, 193,14 Meter über dem Meeresspiegel, gelegen am östlichen Rheinufer auf Rheinkilometer 555.
Etymologen leiten den Namensbestandteil "Ley" von dem keltischen Wort für Felsen ab. Beim zweiten Bestandteil ist die Herkunft nicht ganz so eindeutig. Hier könnte das mittelhochdeutsche "luren" (lauern) Pate gestanden haben, aber auch das gleichfalls mittelhochdeutsche "lurren" oder "lorren" (heulen, schreien). Auch das rheinische "luren" (summen) könnte in Betracht gezogen werden. "Lur" schließlich, um noch ein weiteren mittelhochdeutsches Wort heranzuziehen, bedeutet soviel wie Elfe. Es handelt sich also entweder um einen lauernden Felsen - durch die dortigen Riffe und Untiefen gab es in alten Zeiten zahlreiche Schiffsunglücke an dieser Stelle - oder einen summenden, heulenden oder sonstwie tönenden Felsen, was durch das starke, siebenfache Echo dort und durch das rauschende Wasser wohl seine Berechtigung hat. Geräusche, die man ursprünglich den Zwergen zuschrieb, die in den Höhlen des Felsens hausen. Und so wäre auch der "Elfenfelsen" - Zwerge waren ja ursprünglich nichts als Swartalfen, Schwarzelfen - durchaus ein berechtigter Name. Ursprünglich hieß es übrigens auch "der" Loreley", der weibliche Artikel kam erst später dazu.
Mein "Taschenlexer" (Matthias Lexers Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 3. Auflage) kennt ferner das Wort "lûre" für "nachwein" oder "tresterwein" (vom lateinischen lora oder lorea). Laut Duden ist das ein "aus Traubensaft, der aus Rückständen beim letzten Pressen gewonnen wurde, hergestellter Wein minderer Qualität". Aber dies scheint von der Wissenschaft nicht weiter verfolgt worden zu sein. Schade, ein Weinfelsen hätte ja auch etwas.
Clemens Brentano erfindet eine "Kunstsage" oder "Scheinsage"
Die Geschichte von der schönen Frau kam erst wesentlich später hinzu, lange nachdem der Felsen seinen Namen erhalten hatte. Zwar gab es immer wieder Erzählungen von Wassernymphen oder Zwergen, die die Schiffsunglücke verursacht hätten, doch die Geburtsstunde der Loreley-Sage oder genauer gesagt der "Kunst-Sage" - gelegentlich wird auch von einer "Scheinsage" gesprochen - schlug, als der romantische Dichter Clemens Brentano sich des Felsens mit dem sonderbaren Namen annahm. Wie bei den alten Volksetymologien muss es zugegangen sein: Da war dieser Ort mit dem inzwischen unverständlich gewordenen Namen, und wer darüber nachdachte, was es zu bedeuten hatte, der kam irgendwann ins Phantasieren, Schwärmen, Geschichtenerzählen.
"Godwi" - ein verwilderter Roman
In seinem 1801 erschienen Roman "Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman" zog der junge Clemens Brentano alle Register romantischer "Universalpoesie", vereinigte Formen und Gattungen unterschiedlichster Art zu einem dickleibigen "Gesamtkunstwerk", das dann doch Fragment blieb. Ein Briefroman mit eingeschobenen Gedichten, Liedern, Märchen und anderen Erzählungen, mit Dialogen und Berichten, der bewusst die Gattungsgrenzen sprengte oder überbrückte. Und dieser Godwi sprengte auch den Rahmen des auf Papier gebannten Romans, indem der Held plötzlich seinem Herausgeber begegnet und auf die Druckausgabe des ersten Bandes zurückverweist, indem er dem Manne erklärt, welch ein Chaos er angerichtet hat, ihm aber dann doch zugesteht: "Ja [...], wir wollen den zweiten Band miteinander machen." Oder indem er im Gespräch auf einem Spaziergang plötzlich die Hand ausstreckt und sagt: "Das ist der Teich, in den ich Seite 266 im ersten Band falle." (Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman. Hrsg. v. Ernst Behler: Stuttgart: Philipp Reclam junior, 1995. S. 345).
Im 36. Kapitel des zweiten Bandes ist das Lied von der Loreley zu finden. Es trägt dort keinen Titel, wird daher zitiert nach dem ersten Vers: "Zu Bacharach am Rheine". Das Lied erscheint relativ unvermittelt. Die Gräfin fordert einfach: "Violette, singe ein Liedchen" (S. 284), und sofort hebt die junge Frau an:
Zu Bacharach am Rheine
Wohnt eine Zauberin,
Sie war so schön und feine
Und riß viel Herzen hin.
Und brachte viel zu schanden
Der Männer rings umher,
Aus ihren Liebesbanden
War keine Rettung mehr.
Der Bischoff ließ sie laden
Vor geistliche Gewalt -
Und mußte sie begnaden,
So schön war ihr' Gestalt.
Er sprach zu ihr gerühret:
"Du arme Lore Lay!
Wer hat dich denn verführet
Zu böser Zauberei?"
"Herr Bischoff laßt mich sterben,
Ich bin des Lebens müd,
Weil jeder muß verderben,
Der meine Augen sieht.
Die Augen sind zwei Flammen,
Mein Arm ein Zauberstab -
O legt mich in die Flammen!
O brechet mir den Stab!"
"Ich kann dich nicht verdammen,
Bis du mir erst bekennt,
Warum in diesen Flammen
Mein eigen Herz schon brennt.
Den Stab kann ich nicht brechen,
Du schöne Lore Lay!
Ich müßte dann zerbrechen
Mein eigen Herz entzwei."
"Herr Bischof mit mir Armen
Treibt nicht so bösen Spott,
Und bittet um Erbarmen,
Für mich den lieben Gott.
Ich darf nicht länger leben,
Ich liebe keinen mehr -
Den Tod sollt Ihr mir geben,
Drum kam ich zu Euch her. -
Mein Schatz hat mich betrogen,
Hat sich von mir gewandt,
Ist fort von hier gezogen,
Fort in ein fremdes Land.
Die Augen sanft und wilde,
Die Wangen rot und weiß,
Die Worte still und milde
Das ist mein Zauberkreis.
Ich selbst muß drin verderben,
Das Herz tut mir so weh,
Vor Schmerzen möcht' ich sterben,
Wenn ich mein Bildnis seh'.
Drum laßt mein Recht mich finden,
Mich sterben, wie ein Christ,
Denn alles muß verschwinden,
Weil er nicht bei mir ist."
Drei Ritter läßt er holen:
"Bringt sie ins Kloster hin,
Geh Lore! - Gott befohlen
Sei dein berückter Sinn.
Du sollst ein Nönnchen werden,
Ein Nönnchen schwarz und weiß,
Bereite dich auf Erden
Zu deines Todes Reis'."
Zum Kloster sie nun ritten,
Die Ritter alle drei,
Und traurig in der Mitten
Die schöne Lore Lay.
"O Ritter laßt mich gehen,
Auf diesen Felsen groß,
Ich will noch einmal sehen
Nach meines Lieben Schloß.
Ich will noch einmal sehen
Wohl in den tiefen Rhein,
Und dann ins Kloster gehen
Und Gottes Jungfrau seyn."
Der Felsen ist so jähe,
So steil ist seine Wand,
Doch klimmt sie in die Höhe,
Bis daß sie oben stand.
Es binden die drei Ritter,
Die Rosse unten an,
Und klettern immer weiter,
Zum Felsen auch hinan.
Die Jungfrau sprach: "da gehet
Ein Schifflein auf dem Rhein,
Der in dem Schifflein stehet,
Der soll mein Liebster sein.
Mein Herz wird mir so munter,
Er muß mein Liebster sein! -"
Da lehnt sie sich hinunter
Und stürzet in den Rhein.
Die Ritter mußten sterben,
Sie konnten nicht hinab,
Sie mußten all verderben,
Ohn' Priester und ohn' Grab.
Wer hat dies Lied gesungen?
Ein Schiffer auf dem Rhein,
Und immer hat's geklungen
Von dem drei Ritterstein:
Lore Lay
Lore Lay
Lore Lay
Als wären es meiner drei. (ebd. S. 486-490)
In einer Fußnote verortet der Autor dieses Ereignis sogar ganz genau: "Bei Bacharach steht deser Felsen, Lore Lay genannt, alle vorbeifahrenden Schiffer rufen ihn an, und freuen sich des vielfachen Echos." (S. 490)
Verwandtschaft mit der Nymphe Echo
Gerade das Echo, das in der letzten Strophe so ergreifend nachhallt, hat es Brentano offenbar besonders angetan. Schon zu Beginn des ersten Bandes hatte Godwi zusammen mit seinem Herausgeber eine sehr interessante Unterhaltung über dieses Phänomen:
"Wir erreichten bald den tiefsten Theil des waldigten Thales, und da wir noch einige Schritte links in das Gebüsch gethan hatten, ertönten mehrere Jagdhörner auf eine sehr muntere Art. Es war eine rufende Melodie, und ich unterschied bald drei Hörner, die von verschiedenen Puncten aus sich in einem Wechselliede antworteten. Das Echo verdoppelte die Töne und brachte dadurch die gedrängte Melodie in eine angenehme tonschimmernde Verwirrung. Bald schien sich auch das Echo zu verdoppeln und aus allen Tiefen des Waldes tönte es der Melodie nach, als ziehe ein geheimnisvolles musikalisches Leben durch die Wipfel der Bäume.
Das Echo verdoppelt sich, sagte Haber, haben Sie es bemerkt?
O ja, sagte Godwi, ich habe es leider so oft bemerkt, daß mir durch die Gewohnheit die Rührung entgeht, welche alles fremde geheimnißartige begleitet.
Auch ich war durch den tönenden Wald wunderbar überrascht, und fühlte, was die Alten in ihren Wädern empfinden mochten, die noch von Göttern belebt waren, welche in wunderbaren Waldstimmen um den Wanderer ertönten." (S. 265f)
Brentano, der auch sonst zahlreich Motive aus Ovids "Metamorphosen" aufgegriffen hat, rückt seine Lore Lay damit in die Nachbarschaft der Bergnymphe Echo. Aber auch Erinnerungern an den Sturz vom Felsen, der der Dichterin Sappho angedichtet wurde, ebenfalls aus verschmähter Liebe, werden hier wach.
Ein fiktives Volkslied
Interessant ist, dass hier bei Brentano die typisch romantische "Volksliedtheorie" auftaucht: Vorgetäuscht wird hier, dass es sich um ein Lied handelt, das aus dem Volk entstand, vom Volk gesungen wurde, das keinen namentlich bekannten Dichter und Komponisten besitzt. Eine Vorstellung, die beispielsweise auch dem bekannten Märchensammelwerk der Brüder Grimm zugrunde liegt. Und auch Brentano hat sich ja bekanntermaßen als Sammler alter Lieder und Sagen aus dem Volk betätigt. Zusammen mit seinem Freund Achim von Arnim gab er in den Jahren 1805 bis 1808 die Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" heraus. Eine Sammlung, in der zahlreiche Volkslieder, die die beiden Herausgeber gesammelt hatten, veröffentlicht wurden, ein beträchtlicher Anteil der enthaltenen 723 Lieder sind allerdings auch selbstverfasste, alten Volksweisen nachempfundene, aber eben nicht authentische "Volkslieder", sondern vielleicht "volkstümliche Lieder".
Brentanos Sagen/Volkslied-Fiktion über die Lorelei gibt sich selbst als ein Lied aus, das "ein Schiffer auf dem Rhein" gesungen hat. Und er war darin offenbar sehr erfolgreich. Als Heinrich Heine sich des Stoffes annahm, schrieb er bereits in der ersten Strophe es sei ein "Märchen aus alten Zeiten", was es definitiv nicht war.
Die Lureley in den Rheinmärchen
Brentano gab der Loreley, hier unter dem Namen Lureley, auch in seinem Buch "Rheinmärchen" eine tragende Rolle. In dem Buch, das zwischen 1810 und 1812 entstand und im Jahr 1846 postum veröffentlicht wurde, taucht die Wasserfrau an vier Stellen und in sehr unterschiedlicher Gestalt auf. Die Handlung ist sehr verschlungen und enthält zahlreiche eingestreute Lieder und Märchen oder Erzählungen. Es geht um den jungen Müller Radlauf, der ein besonderes Verhältnis zum Fluss Rhein hat, an dem seine Mühle steht.
Als die Königreiche von Mainz und Trier ihre Thronfolger miteinander vermählen wollen, begegnen sich die Schiffe aus beiden Städten auf dem Wasser nahe der Mühle. Aufgrund einer Auseinandersetzung der beiden "Staatstiere" - Katze und Ratze (Ratte) - kommt es zu Turbulenzen, Prinzessin Ameley von Mainz fällt ins Wasser, wird von dem Müller gerettet, verliebt sich in ihn, während es zwischen beiden Königreichen zu kriegerischen Auseinadersetzungen kommt. Dem Müller Radlauf will der Mainzer König seine Tochter natürlich nicht geben.
Das Trierer Königpaar wird samt Sohn getötet, woraufhin der jüngere Prinz das Erbe antritt, während Radlauf sich beim Versuch, seine Ameley wiederzuerlangen, als Rattenfänger verdingt, um seinen Lohn geprellt wird und sich - ähnlich wie der bekannte Hamelner Rattenfänger - rächt, indem er die Kinder der Mainzer in den Rhein lockt. Allerdings sind sie dort unter den Wellen nicht verloren. Müller Radlauf, der auf einer abenteuerlichen Odyssee herausfindet, dass er ebenfalls königlichen Geblüts ist, und sich am Ende sogar als Sohn der Loreley/Lureley entpuppt, wird schließlich neuer König von Mainz und bringt die frohe Kunde, dass jeder sein Kind aus dem Rhein auslösen kann, indem er dem Fluss ein Märchen erzählt.
An jedem Tag soll nun jeweils ein Vater oder eine Mutter ein Märchen erzählen. Den Anfang macht König Radlauf selbst und löst seine Ameley aus, danach ist eine Fischerin dran, dann ein Schneider, und damit hört Brentanos Buch auf.
Ein Goldfisch erzählt von Frau Lureley
Das erste Mal tritt die Lureley in Erscheinung, als ein zahmes Goldfischlein, das Fischerin Marzibille auf die Suche nach ihrer im Rhein versunkenen Tochter ausschickt, im Saal am Grund des Flusses die Jungen und Mädchen entdeckt. Das Goldfischchen berichtet, wie die Brüder Weiß-Main und Rot-Main in den Saal treten und einen alten Wassermann um Auskunft bitten:
"Da fragte der Rote Main:
Sag besser uns, wohin die Gänge
Gewölbet auf der Säulenmenge
Zuletzt noch führen in der Länge?
Da sagte der Wassermann:
Die sieben Bogengänge führen
Zu sieben reinen goldnen Türen,
Die sieben Treppen dann berühren.
Und diese Treppen auf sich winden,
Bis sie in einem Saal verschwinden,
Dem sieben Kammern sich verbinden.
Im Saal auf siebenfachen Thronen
Sitzt Lureley mit sieben Kronen,
Rings ihre sieben Töchter wohnen.
Frau Lureley, die Zauberinne,
Ist schönes Leibs und kluger Sinne,
Hoch hebt sich ihres Schlosses Zinne.
Von innen aus der Maßen fein,
Von außen schroff ein Felsenstein,
Umbrauset von dem wilden Rhein.
Sie ist die Hüterin vom Hort,
Sie lauscht und horchet immerfort,
Und höret sie ein lautes Wort,
Singt, tut ein Schiffer einen Schrei,
So ruft die Töchter sie herbei,
Und siebenfach schallt das Geschrei
Zum Zeichen, daß sie wachsam sei.
'Das ist recht wunderbar', sagte der Weiße Main, 'ich will dich aber nicht fragen, wer die Frau Lureley eigentlich ist, und warum sie alles siebenfach hat, und wie sie zu dem Wächteramt gekommen; du möchtest mich wieder zu deinen vier weisen Meistern schicken.' - 'Ach!' sagte der Wassermann, 'die wissen auch gar nichts von ihr; Frau Lureley ist viel älter als diese Herren, obschon jeder von ihnen ein paar hundert Jahre älter ist als der andere. Frau Lureley ist eine Tochter der Phantasie, welches eine berühmte Eigenschaft ist, die bei Erschaffung der Welt mitarbeitete und das allerbeste dabei tat; als sie unter der Arbeit ein schönes Lied sang, hörte sie es immer wiederholen und fand endlich den Widerhall, einen schönen Jüngling, in einem Felsen sitzen, mit dem sie sich verheiratete und mit ihm die Frau Lureley zeugte; sie hatten auch viele andere Kinder, zum Beispiel: die Echo, den Akkord, den Reim, deren Nachkommen sich noch auf der Welt herumtreiben. Doch das wird euch Frau Lureley selbst erzählen, und zwar siebenmal, wenn ihr sie darum fragt. Jetzt aber ist Schlafenszeit, hier oben seht eure Kammer, morgen früh um fünf Uhr müßt ihr aufstehen, und dem alten Rhein ein Morgenlied singen.'"
Wenig später tritt Frau Lureley selbst in den Saal. Brentano beschreibt es im Bericht des Goldfischchens folgendermaßen:
"Die Sonne ließ eben ihre ersten Strahlen in den Rhein niedersinken, der wie ein fließendes Gold zitterte; man sah die Felsen oben und die Städte und die Berge und die Menschen und die Schiffe; man sah an der Felswand das ganze Haus der Frau Lureley hinauf bis an den blauen Himmel, wo die Vögel hin und her schwebten; man sah den Reiher niederstürzen und einen vorwitzigen Fisch holen; ein Schifflein zog oben, und darauf fuhren zwei Knaben, der eine freudig mit braunen Haaren, der andere traurig mit schwarzen Haaren. Als sie an dem Fels waren, riefen sie:
Lureley! Lureley!
Es fahren zwei Freunde vorbei.
Und nun sang der Schwarze:
Am Rheine fahr ich hin und her
Und such den Frühling auf;
Mein Sinn so leicht, mein Herz so schwer,
Wer wiegt sie beide auf?
Der Mond gehet unter,
Die Liebe geht unter,
Das Schiff zieht hinunter,
Wer hält sie auf?
Und Frau Lureley rief siebenmal zurück:
Wer hält sie auf?
Und dann sang der Braune:
Die Sonne geht auf,
Wonne, Wonne, still in Schauern
Dich umfangen, frische Luft;
Sinnend auf die Strahlen lauern,
Spielend in dem Morgenduft;
Lieben und geliebt zu werden
Ist das Einzige auf Erden,
Was ich könnte, was ich dächte, was ich möchte,
Daß es mir nur könnte werden,
Lieben und geliebt zu werden.
Und nun sprach Frau Lureley ihm siebenmal zurück:
Lieben und geliebt zu werden!
und sie schwammen hinab."
(Textausgabe: Projekt Gutenberg)
Ein Begräbnis für die Ahnherren des Müllers
Auch Müller Radlauf begegnet auf seiner Reise der Lureley. Er versinkt im Rhein und trifft die Waserfrau, die ihm sehr freundlich gegenübertritt und ihn über Teile seiner Familiengeschichte aufklärt. Lureley ist Radlaufs Mutter und daher dem jungen Müller und angehenden König sehr zugetan. Zunächst aber ist sie darum bemüht, die Ahnherren Radlaufs, die ein Fluch bis dahin am Sterben gehindert hat, zu Grabe tragen zu lassen. Es handelt sich um eine sehr umfangreiche Schilderung der Grablegungszeremonien mit zahlreichen Gesängen und Gedichten.
Interessant ist auch, dass die Lureley hier mit Schiffsunglücken auf dem Rhein in Verbindung gebracht wird. Radlauf erzählt von dieser Begegnung kurz nach seiner Ankunft in Mainz folgendes:
"Als ich hinabgesunken, stand ich in einer grünen Laube von Wasserbinsen geflochten; die vier Pfähle, worauf sie ruhte, waren vier Korallenbäume; rings herum standen sieben Wasserlilien, und auf jeder saß eine sehr traurige Jungfrau; in der Mitte aber saß dasselbe holdselige Weib, das ich auf dem Felsen gesehen hatte, als unser Boot unterging. Ich war in ihren Anblick ganz verloren, sie aber schien mich nicht zu bemerken und sang also -
Frau Lureley:
Es fahren die Lebenden über den See,
Sie bringen den Toten nach Haus;
Es hebt sich ein Wetter am Berg in die Höh,
Der Wind macht die Wellen so kraus:
Töchterlein, Töchterlein Herzeleid!
Was hast du gesponnen so lange Zeit?
Herzeleid:
Ich habe gesponnen manch Kissen reich
Von Gold und Seide und Samt,
Drauf liegt des Helden Haupt gar weich,
Dem dieses Haus entstammt.
Frau Lureley:
Töchterlein, Töchterlein Liebesleid!
Was hast du gesponnen so lange Zeit?
Liebesleid:
Ich habe gesponnen drei Särge breit,
Drei Särge von Elfenbein,
Sie stehen und harren schon lange Zeit -
Drei Greise steigen hinein.
(...)
Als sie so gesungen hatten, stand die schöne blonde Frau auf und sprach zu mir: »Nun, lieber Radlauf, komm!« - und da nahm sie mich mit einer überaus holdseligen Miene an der Hand und führte mich durch die Wellen, die wie zwei Mauern von Kristall fest neben uns hinliefen; vor uns aber ging erst Herzeleid mit ihrem schöngestickten Samtkissen, dann Liebesleid, neben der die drei Elfenbeinsärge herschwammen, ihr folgte Liebeseid mit einer goldnen herzförmigen Kapsel, Reu und Leid mit einer goldnen Krone, Mildigkeit mit drei kleinen Kronen, Liebesfreud mit Perlenkranz und Perlenstrauß. Dann ging ich an der Hand des lieben blonden Wasserfräuleins, und hinter uns ging Liebesneid mit einer Rute und trieb die zwölf Mühlsteine wie eine Herde Schafe vor sich her. Bald kamen wir an einen Felsen, der sich auftat, und nun stiegen wir viele Treppen hinan, bis wir in einem gewölbten Saale ankamen; da stand ein großer Tisch von gewachsenem Erz, und oben an dem Tisch saß ein uralter Mann; er stützte sein bleiches Angesicht auf seine zwei Hände, seine Ellenbogen ruhten auf dem Tisch, sein silberweißer Bart war durch den Tisch durchgewachsen und glänzte wie Asbest, seine Augenbrauen waren auch sehr lang, und seine Augen sahen unter ihnen durch eine große blitzende Brille wie zwei traurige Gefangene hervor; er hatte einen Schäferrock an von dem zartesten Lammfell, einen breiten goldgelben Schäferhut auf, auf dem die Fürstenkrone befestigt war, und um seinen Nacken hing ein Lamm, dessen Beine über seine Brust zusammengebunden waren; in seinem Arm lehnte ein hoher weißer Schäferstab; an seiner Seite hing ein Dudelsack von einem schwarzen Bocksfell; neben ihm saß ein zottiger Schäferhund mit seiner Laterne im Maul. - Er war ganz still und schien mit offnen Augen zu schlafen; zu seiner Rechten saß der Grubenhansel in seinem Knappenhabit, dann saß der Kautzenveitel in seinem Eulenwams, und dann der Kohlenjockel in seiner Kohlenjacke; alle in derselben Stellung, alle ganz still; die zwölf Knappen aber saßen ringsum auf der Erde mit dem Rücken an die Wand gelehnt.
Erstaunt über diesen Anblick wollte ich fragen, ob dieser alte wunderbare Schäfer mein ältester Ahnherr sei, und ob alle meine andern Urväter hier tot seien oder nur schliefen. Aber die liebe blonde Frau Lureley hielt mir den Mund zu und winkte mir mit dem Finger, zu schweigen; hierauf begann sie mit einer hellen Silberstimme zu singen:
Heil dem, der die Zeit erfüllet,
Der die ewgen Maße mißt
Und die Pein mit Schlaf umhüllet,
Wenn die Schuld versühnet ist.
(...)
Während diesem Liede ging Frau Lureley an dem Tische umher und stieß die vier Alten an: da erwachten sie, sahen sich einander und die Frau Lureley und mich gar innerlich freudenselig an und lächelten und weinten und nickten mir freundlich und küßten mich der Reihe nach auf die Stirne; und auch ich mußte heftig weinen; dann aber sang Frau Lureley wieder, und alle sangen mit:
Heil dem, der die Zeit erfüllet,
Der die ewgen Maße mißt
Und die Pein mit Schlaf umhüllet,
Wenn die Schuld versühnet ist.
(...)
Und unter diesem Gesang schliefen die vier wundersamen Greise einer nach dem andern wieder ein und sanken mit ihren Häuptern auf den Tisch nieder. Nun tat sich hinter ihren vier Sesseln die Felsenwand in vier Türen auf, und vier schöne wunderbare Frauen, jede mit einem Gefolge von seltsamen Jungfrauen kamen herein.
(...)
»Die Tage der Rache sind zu Ende, ihr treuen Diener eures unglücklichen Herrn! Geht auf den Hof des Schlosses, ich will euch seinen frommen Sohn vorstellen.« Nach diesen Worten hoben sich die Stare von dannen, und sie sprach zu mir: »Mein teurer Radlauf, erschrecke nicht über das, was ich dir sagen werde, unterbrich auch nicht meine Rede mit Worten und Fragen und Ausrufungen; sobald du redest, muß ich dich verlassen, und du zerbrichst ein Werk, was dich und mich beglücket; reiche mir deine Hand, umarme mich, o komm an mein Herz, ich bin deine Mutter.« Hier schloß sie mich in ihre Arme; Schauer und Entzücken nahmen mir die Sinne; aber sie benetzte mein Antlitz mit dem Quell, und mir ward unendlich wohl - dann fuhr sie fort: »Der schwarze Hans, den wir hier begraben haben, ist dein Bruder; hier diese Kapelle ist die Grabstätte deines Vaters, noch ruht er nicht hier, noch lebt er, du wirst ihn noch einmal umarmen; noch mehr Geschwister hast du, du sollst sie alle sehen; in wenigen Stunden muß ich dich verlassen; drum bleibt mir nicht die Zeit, dir alles zu erklären, was dich heute mit Erstaunen erfüllt; aber bald sehe ich dich wieder, und du lernst mich kennen; jetzt folge mir, daß ich dich deinen Untertanen vorstelle, die dich erwarten.«
Stumm und erschüttert, mehr durch ihre Erzählung, als durch ihr Gebot zu schweigen, folgte ich ihr in der Begleitung ihrer sieben Jungfrauen. Wir gingen aus der Kirche hinaus; auf schönen reinen Treppen stiegen wir zu heiteren Terrassen, mit mancherlei Bildsäulen und schönen Gefäßen, aus denen Wasser sprudelte, geschmückt; so gelangten wir durch geräumige Vorsäle in prächtig geschmückte Gemächer, die, bequem und vornehm aneinander gereiht, auf bunten Teppichen durchwandelt wurden, bis sie auf einer großen Marmorgalerie wieder zu Tage liefen. Von diesem Standpunkte übersah man den grünen Spiegel des Sees und das jenseitige Waldgebirge, das sozusagen erst die Folge dieser Säle beschloß; aber, hinausgetreten auf den Balkon, erblickte ich den Hof des Schlosses und die ihn umgebenden Gärten und Terrassen mit einer Menge von Menschen bedeckt, die mit Hüten und Tüchern wehend einem freudig stürmenden, jauchzenden Meere glichen, das mit tausend Wogen des Jubels an mein bestürztes Herz schlug und immer: »Heil! Heil! unserm Fürstensohne, Heil! Heil! seiner Mutter!« rief.
Die liebe blonde Mutter aber sprach zu mir: »Sage, mein Sohn, an wen gedenkst du jetzt, du, der kummervoll und arm war und jetzt mit allem weltlichen Entzücken berauscht ist?« Da sprach ich: »Daß der Vater lebt, ist mir lieb; daß ich meine Mutter sehe, ist mir süß; aber ich wollte, ich wäre am Rhein und dieses Schloß wäre meine Mühle und dieses Volk wäre der Rhein; Ameley wäre in seinen Wellen, ich stürzte hinein, trüge sie in meinen Armen auf die Wiese ans Ufer und sähe in ihre holdseligen Augen; ach! das wäre süßer als alles.« Darauf sprach meine Mutter: »Du bist der treueste Mann, und glücklich, die dich liebet; bald sollst du sie wiedersehen.« Dann sprach sie zu dem Volke: »Rüstet das Land und das Schloß, in wenigen Tagen kehret euer Herr zurück.« Somit wendeten wir uns um und gingen durch die Gemächer, über die Treppen, durch die Kirche, hinab in das Gewölbe, wo die zwölf Knappen um den Tisch saßen wie Ratsherrn. »Nun«, sagte Lureley, »muß ich dich verlassen, bitte dir eine Gnade aus, bald sehe ich dich wieder.« Ich wußte über all der Herrlichkeit nicht, was ich begehren sollte, und da ich die zwölf alten Knappen so gewaltig besorgt sitzen sah, sagte ich: »Verzeihe diesen armen Schelmen und lasse sie deiner Milde genießen, und schenke sie mir zur Begleitung, daß ich nicht so einsam nach Hause ziehen muß.« Da umarmte sie mich und küßte mich und verschwand; ich aber wußte nichts mehr von mir, ein wunderbarer Schlaf befiel meine Augen."
Die Lureley als neue Melusine
Erst bei ihrem dritten Auftreten im "Rheinmärchen" erzählt die Lureley schließlich dem Müller/König, wie es sich mit ihrer eigenen Ehe verhielt. Sie hatte Christel, einen Spross aus der Familie der Starenberger geheiratet, in dessen Ahnenreihe bereits die vier anderen erwähnten übernatürlichen Wesen standen. Wie diese, nahm sie ihrem Mann das Ehrenwort ab, sie in jedem Monat eine Woche allein und unbeobachtet zu lassen. Es ist das alte Melusinen-Motiv, das in dieser Geschichte wieder auflebt, also eine sehr alte Wasserfrauensage. Die Heirat ist, wie schon zu Lohengrins oder zu Amors und Psyches Zeiten, daran gebunden, dass der Ehepartner in einem bestimmten Punkt Diskretion bewahrt. Alles könnte so schön und vollkommen sein, wenn da nicht Neider und böse Zungen wären. Schließlich gibt der Ehepartner nach, lässt sich zum Spionieren bereden - und alles zerbricht.
Im Buch ist es Frau Lureley, die ihre Geschichte selbst und als Ich-Erzählung vorbringt, wiedergegeben wird das Ganze allerdings vom Müller/König Radlauf, der diese Geschichte am Ufer des Rheins als Auslösemärchen vorträgt und damit seine Prinzessin Ameley wieder vom Grund des Flusses herauferzählt. Radlauf berichtet über seine Wieder-Begegnung mit seiner Mutter und über die Erzählung der Lureley, die Wasserfrau habe ein Liebesverhältnis mit dem Müller Christel gehabt, das ihre Mutter aber nicht billigte. Die Mutter habe die Lureley mit dem Hinweis, sie sei nun alt genug, eine eigenen See zu beherrschen, aus der Heimat fortgeschickt. Radlauf/Lureley erzählt über den weiteren Fortgang der Beziehung Folgendes:
"Als die Nacht herankam, schlich ich mich von ihrem Lager und eilte zu Christel in die Mühle, dem ich unter Tränen erzählte, daß ich ihn verlassen müsse. Er weinte auch sehr, und ich schwur ihm, sobald wiederzukehren als möglich und sein Weib zu werden.
Gegen Morgen verließen wir uns, aber meine Mutter war mir gefolgt und hatte uns belauscht. Sie schmähte mich aus und sagte mir: 'Lureley! du wirst sehr unglücklich sein, du hast dich einem Starenberger verbunden, und er wird dich verraten, wie all seine Vorfahren ihre Frauen verraten haben; lasse von ihm ab.' Da weinte ich heftig und sagte ihr, daß ich das nicht könne. 'Wohlan', sagte meine Mutter, 'du sollst deinen Willen haben, die Bedingung aber sei, daß du sein Weib wirst, ohne daß er weiß, wer du bist, und daß du ihn nie ganz für seine Verräterei verlassen darfst.' ich mußte mich ihrem Willen fügen, und sie brachte mich den andern Morgen in den Laacher See.
Hier war ich einsam und traurig; meine Ufer waren mit alte Eichen bedeckt; nur der Glockenklang und Chorgesang der Kirche unterbrach die Stille, und ich hatte alle Zeit, meiner Sehnsucht zu meinem lieben Christel nachzuhängen.
Ein Jahr war herum, und da meine Mutter sah, wie ich mich kümmerte, sagte sie mir: 'Lureley! gehe hin, wohin dein Herz dich treibt, aber gebe dich nicht zu erkennen.' Ich verließ also beim Aufbruch des Frühlings meinen Aufenthalt und begab mich in der Gestalt, wie du mich siehst, nach Starenberg. Diese Kleidung, dieses Aussehen habe ich von einem hessischen Bauernmädchen entliehen, die ich auf meiner Reise im Walde um Erdbeeren suchen sah, und die an einem Brunnen, in dem ich übernachtete, heftig über ihre böse Stiefmutter weinte. Sie war so wunderschön und lieblich, daß ich sie der Brunnenfrau herzlich empfahl und mich ganz so gestaltete wie sie, und wenngleich meine eigene Gestalt glänzender und reizender ist als diese, so hat doch niemals ein so edles, frommes und schönes Menschenbild gelebt als dieses.
So kam ich nach Starenberg und setzte mich in den Wald, nicht weit von der Mühle, und hatte ein Körbchen voll Erdbeeren im Schoß. Es war am Morgen, Christel kam von der Mühle her, und es freute mich, zu sehen, daß er die Mühle noch besuchte. Er schien mir sehr traurig, als er mich aber sah, erheiterte sich sein Antlitz, er war durch meinen Anblick gerührt.
Er setzte sich zu mir ins Gras, er aß von meinen Erdbeeren und gewann mich so lieb, so lieb, daß er mich bat, seine Ehegattin zu werden. Traurig willigte ich ein, weil ich sah, daß er mich nicht kannte, und daß er mich also vergessen hatte. Doch machte ich ihm die Bedingung, mich unter harter Strafe am siebenten Tage in der Woche in der Nähe der Mühle allein zu lassen und nie nachzuforschen, was ich dann mache. Er versprach mir alles heilig und brachte mich nach Starenberg. Wir hielten Hochzeit und lebten glücklich."
Beide haben zwei Kinder, das Glück scheint vollkommen. Doch es kommt, wie es kommen muss: Auch dieser vierte Mann in der Reihe der Starenberger bricht seinen Schwur und beginnt, der Ehefrau während ihrer "Auszeit" nachzuspionieren. Mit fatalen Folgen.
"Nun hatten meine beiden Söhnlein einen Lehrer, der sehr weit gereist war; es war ein ernsthaft wunderlicher Mensch, trug immer rote Strümpfe und weiße Hosen und Rock; er war sehr pathetisch und melancholisch; und führte die Kinder zurück von der Mühle. Christel brachte, während ich abwesend war, immer seine Zeit mit ihm zu, und dieser verdrießliche Mann erregte zuerst die Neugierde in ihm, zu wissen, wer ich sei und was ich in der Mühle den Sonnabend mache. Christel ließ sich von ihm verführen; doch wagte er es nicht, selbst zu lauern, weil ich es ihm zu streng verboten hatte; der Hofmeister aber übernahm es, meine beiden Söhnlein dazu abzurichten, und die armen Kindlein ließen sich von dem Schelm verführen.
Am folgenden Morgen schlichen sie sich in die Mühle mit dem Schulmeister; ich saß in dem offenen Boden der Kammer, wo ich sonst Christel besucht hatte, in meiner Wasserjungfergestalt mit meiner Mutter, die mir die Haare kämmte, da trat der Schulmeister und meine zwei Kinder herein. Ich erschrak, daß ich ohnmächtig wurde, meine Mutter aber sagte: 'Sieh, liebe Lureley! daß ich recht prophezeite, man verrät dich.' Und somit verwandelte sie meinen Sohn Georg in eine weiße Maus, den Philipp aber in einen Goldfisch und den Schulmeister in einen Storch, und sprach: 'Ziehe fort mit ihnen, Verräter! und lasse dich nicht wieder sehen, bis die Kleinen durch ihre Treue und Tugend wieder gutgemacht haben, was sie jetzt verderben wollten.' Sogleich nahm der Storch die weiße Maus und den Goldfisch in den Schnabel und flog eilends davon. Ich war sehr traurig über den Verlust meiner Kinder; aber meine Mutter sagte mir: 'Sei ruhig, sie sind gut aufgehoben; du wirst sie einst in Ehren wiedersehen.'
Als ich nach Starenberg zurückkehrte, fragte mich Christel nach den Kindern, und ich sagte ihm, die Wasserfrau habe sie vor meinen Augen geraubt. Da ward Christel sehr traurig und dachte, es müsse eine Strafe der Wasserfrau sein, weil er sie verlassen und mich geheiratet.
Als ich aber am nächsten Sonnabend wieder in der Mühle war, ließ sich Christel von den zwölf Knappen verführen, mich zu überfallen, als ich im Bade saß, und Christel sah, daß ich von der Brust hinab die Gestalt eines Fisches hatte. Erzürnt sprach ich zu ihm: 'Du verrätst mich zum zweitenmal, dafür bestrafe ich dich und nehme dir das Gedächtnis', und somit bespritzte ich ihn und die Knappen mit Wasser und verschwand.
Christel wußte nun nichts mehr davon, daß er Fürst von Starenberg gewesen, daß ich sein Weib war; er und seine Knappen hielten sich für Müller von jeher und trieben es, wie es andere Müller auch treiben, und da die Einwohner von Starenberg sahen, daß ihm auf keine Weise einzureden sei, daß er jemals ihr Herr gewesen sei, ließen sie ihn bleiben, was er wollte, und brachten ihm ihr Korn zu mahlen. Da ich ihn nach dem Schwur meiner Mutter nicht verlassen konnte und ihn auch immer noch liebte, besuchte ich ihn wieder in dieser meiner Verkleidung und brachte ihm Getreide zu mahlen. Er liebte mich von neuem; ich machte von neuem den Bund mit ihm, daß er mich am siebenten Tag in einem Erlenwäldchen verlassen mußte."
Die Lureley als Verwandte der Frau Holle
Noch einmal tritt die Lureley in der Geschichte auf, als die Fischerin Marzeline am zweiten ihr Märchen erzählt und damit ihre Tochter aus dem Rhein erlöst. Hierbei entpuppt sich ausgerechnet Marzeline als das Mädchen, mit dem Lureley in Radlaufs Märchen die Kleider getauscht hatte. Marzellines Märchen erinnert an Frau Holle oder Aschenputtel, es geht um eine tugendhafte junge Maid (Marzeline), die von ihrer bösen Stiefschwester und deren Mutter gepeinigt und zu allerlei Arbeiten herangezogen wird. Erst der Zauber und die Hilfe Lureleys und der freundlichen Brunnenfrau befreien sie und machen sie zur Königin. Eine besondere Gabe der Lureley an das junge Mädchen ist, dass sie beim Kämmen Edelsteine und Perlen aus ihrem Haar herauskämmen kann.
Eichendorffs "Waldgespräch" über die Lorelei
Neben Brentano und Heinrich Heine, auf den wir gleich zu sprechen kommen, hat sich noch ein weiterer Romantiker mit der Lorelei Befasst. Joseph Freiherr von Eichendorff schrieb sein Gedicht "Waldgespräch" wohl in der Zeit von 1807 bis 1810. Auch hier ist das Motiv der ungeheuren Schönheit der Lorelei zu finden sowie der Schändlichkeit der Männer. Die Lorelei weiß von deren Trug zu berichten und sagt, man habe ihr Herz gebrochen. Ihr Handeln geschieht demnach aus Rache für das erlittene Leid. Der Frau werden von den (wohl vom Geschlechtstrieb umnebelten) Männern Hexenkräfte zugeschrieben, und auch Eichendorf erinnert an den hohen Stein, auf dem die zauberische Frau saß.
Waldgespräch
Es ist schon spät, es wird schon kalt,
Was reit'st du einsam durch den Wald?
Der Wald ist lang, du bist allein,
Du schöne Braut, ich führ' dich heim!
"Groß ist der Männer Trug und List,
Vor Schmerz mein Herz gebrochen ist,
Wohl irrt das Waldhorn her und hin,
O flieh' Du weißt nicht, wer ich bin."
So reich geschmückt ist Roß und Weib,
So wunderschön der junge Leib,
Jetzt kenn' ich dich – Gott steh mir bei!
Du bist die Hexe Lorelei!
"Du kennst mich wohl – von hohem Stein
Schaut still mein Schloß tief in den Rhein.
Es ist schon spät, es wird schon kalt,
Kommst nimmermehr aus diesem Wald!"
Im Gegensatz zu Brentano lässt Eichendorf die Begegnung nicht am Rhein spielen. Die Lorelei ist hier eine Waldhexe, wie Eichendorf überhaupt eine große Liebe zu Waldszenarien hatte. Erst in der letzten Strophe wird ihr "Schloss am Rhein" erwähnt. Doch der Mann, mit dem sie sich hier unterhält, wird eben nicht in die Tiefen des Flusses gezogen und dem Tod durch Ertrinken ausgesetzt, sondern sein Schicksal lautet: "Kommst nimmermehr aus diesem Wald!"
Heinrich Heines Loreley
Angeregt von Brentanos Lore Lay-Gedicht aus dem "Godwi" (Die "Rheinmärchen" waren ja erst nach Brentanos Tod erschienen), entstand im Jahr 1824 Heinrich Heines Loreley-Gedicht, die bis heute bekannteste und verbreiteste Fassung der Stoffs. Das Gedicht wurde aufgenommen in die Sammlung "Buch der Lieder", Heines erfolgreichsten Gedichtband, und war vermutlich auch Heines erfolgreichstes Lied.
Heine nennt die Loreley-Geschichte "Ein Märchen aus alten Zeiten", und genau so kam das Brentano-Gedicht ja auch herüber. Dass hier eine Sagengestalt frei erfunden worden war, hat der Düsseldorfer Heine, der ja auch ein Kind des Rhein ist, offenbar gar nicht registriert.
Heine ist Brentano bei dessen "Volksliedern" auch an anderer Stelle auf den Leim gegangen, so schwärmt er in seinem Buch "Die romantische Schule" von den in "Das Knaben Wunderhorn gesammelten Texten: "Dies Buch kann ich nicht genug rühmen; es enthält die holdseligsten Blüten des deutschen Geistes, und wer das deutsche Volk von einer liebenswürdigen Seite kennenlernen will, der lese diese Volkslieder." (Heinrich Heine: Sämtliche Werke III. München: Winkler Verlag, 1972. S. 343). Aber gerade das "rührende" Lied "Zu Straßburg auf der Schanze", das Heine als Beispiel für die innigen Töne des Volksliedes und die Poesie und den Zauber dieser schlichten, im Volke entstandenen Weisen hervorhebt - "Die Kunstpoeten wollen diese Naturerzeugnisse nachahmen, in derselben Weise, wie man künstliche Mineralwasser verfertigt" (ebd. S. 344), schreibt er - ebendieses Lied, das er als Beleg für den echten, wahren und unkopierbaren Ton des Volkes anführt --- war eine freie Erfindung Brentanos.
Trotzdem: In seiner Bearbeitung des "Loreley-Stoffes" erwies sich Heine als derjenige, der den Nerv des Volkes wesentlich besser getroffen hatte als sein Vorläufer Brentano. Heines Loreley kommt wesentlich kürzer und geschlossener daher, ist "singbarer" und fand beim Volk offene Ohren. Zwar bemüht sich Heine teilweise um eine ironische Brechung des romantischen Tonfalls, doch der Volksliedzauber gelang trotzdem. Hier also die Loreley in ihrer "klassischen" Gestalt:
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
dass ich so traurig bin;
ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein;
der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar;
ihr goldnes Geschmeide blitzet,
sie kämmt ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei;
das hat eine wundersame,
gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh;
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn;
und das hat mit ihrem Singen
die Lore-Ley getan.
Ja, singbar war sie, diese Loreley. Das Gedicht wurde im 19. Jahrhundert mehr als 40 mal vertont, die bekannteste Fassung stammt von dem Komponisten Philipp Friedrich Silcher (1789-1860) und entstand im Jahre 1837. Und das Lied soll sogar so populär gewesen sein, dass selbst die Nazis, die sonst alle Werke des jüdischen Dichters aus der Literatur zu tilgen suchten, vor der Loreley kapitulierten. Sie soll in Liedsammlungen als "Volkslied mit unbekanntem Verfasser" weiterhin abgedruckt worden sein. Von der Wikipedia habe ich mich allerdings belehren lassen, dass diese Einzelheit zwar von Walter A. Berendsohn und Theodor W. Adorno zwar berichtet wurde, es bislang jedoch keinen Beweis dafür gebe. Auf jeden Fall hat Heine mit diesem Werk das geschafft, wovon viele Dichter nur träumen können: ein Volkslied schreiben ...
Vermutlich liegt es auch daran, dass ausgerechnet Silchers Vertonung relativ anspruchslos ist und das Lied auch von ungeübten und unbedarften Laien einfach so gesungen werden konnte. "Wenn der Deutsche fröhlich ist, so singt er gewiss: 'Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin'", stellte Karl May denn auch sehr treffend in seiner "Felsenburg" ("Satan und Ischariot" I) fest.
Dabei gibt es durchaus einige namhafte Komponisten, die Heines Gedicht auf spannende, teilweise auch angemessenere Art vertont haben. Unter den anderen Fassungen finde ich vor allem die Vertonung von Clara Schumann interessant:
In der verlinkten Aufnahme klingt eher Dämonisches und ein Hauch von Wahnsinn mit, wenn Diana Damrau die sirenenhaften Töne aus der Höhe des Felsens interpretiert, da flackert es, und das von Heine dreimal beschworene Goldmotiv - goldenes Geschmeide, goldenes Haar, goldener Kamm - kommt hier sehr schön und verstandesraubend zur Geltung.
Sehr mag ich auch die auf Silcher basierende, aber etwas modernisierte Version von Achim Reichel
Womit wir in der modernern Zeit angekommen werden. Und dass heutzutage eigentlich die Zeit der Mythen und Legenden vorbei ist und somit auch die Zeit der Loreley, machte Erich Kästner in seinem eingangs zitierten Gedicht "Der Handstand auf der Loreley" deutlich.
"Wir wandeln uns. Die Schiffer inbegriffen", schrieb er,
"Der Rhein ist reguliert und eingedämmt.
Die Zeit vergeht. Man stirbt nicht mehr beim Schiffen,
bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt."
Schade eigentlich. Aber der Mythos der Loreley wird wohl bestehen bleiben. Schiffsunglücke kommen dort immer noch von Zeit zu Zeit vor, wie damals am am 28. September 2003, als ein Fahrgastschiff, das ausgerechnet den Namen Loreley trug, bei extremem Niedrigwasser auf Grund lief.
Und dass die Dame auf dem Felsen auch im Schlager eine gute Figur macht, stellte 1981 die Gruppe Dschingis Khan unter Beweis:
Und wenn ihr mich jetzt fragt, wo in Nestis' Nordsee-Kosmos die Loreley vorkommt ... Habt ihr euch nie gewundert, warum Meerjungfrau Mira immer so eitel ihre blonde Lockenpracht schüttelt?
© Petra Hartmann
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Ran und die Wellenmädchen
Die schöne Lau