Jahresrückblick Teil III: Juli bis September 2020
Jahresrückblick
Lese-Rückblick auf das dritte Quartal 2020. In diesem Sommer habe ich recht wenig gelesen. Dafür ist mit drei rotmarkierten Titeln auf dieser Liste die Zahl der Bücher, von denen ich euch ausdrücklich abraten möchte, diesmal besonders hoch. Ebenfalls auffallend hoch ist der Anteil an Hörbüchern. Der Rest ist erneut eine Mischung aus Phantastik, Haskala-Literatur, Antike, etwas Lyrik, dazu ein Thriller, Kinderbücher und Goslarisches. Schaut einfach mal rein, ob etwas für euch dabei ist ...
Hinweis:
Etwaige blau markierte Texte sind herausragende Spitzenbücher, rot steht für absoluten Mist, ein (e) hinter dem Titel bedeutet, dass ich den betreffenden Text in der eBook-Version gelesen habe, und hinter den Links verbergen sich ausführlichere Besprechungen innerhalb dieses Blogs.
Juli
Philo of Alexandria: Flaccus
Eine englische Übersetzung des Textes. Die Schrift entstand zu der Zeit, als Philo Leiter einer Gesandtschaft aus Alexandria nach Rom war und sich bei Kaiser Caligula über judenfeindliche Ausschreitungen beschweren wollte bzw. um den Schutz des Kaisers für die jüdische Gemeinde ersuchte. Flaccus war Chef der Gegen-Delegation, und in dieser Schrift stellt Philo seinen Gegner näher vor.
Der Text ist eines der On-demand-Produkte, von denen ich einige hier schon übelst verrissen habe. Diese Textfassung aber ist absolut in Ordnung, die Buchstaben sauber umgewandelt, alles sehr lesbar. Das Büchlein ist sehr dünn, der Preis etwas höher als für ein vergleichbares "normales" Buch, aber ebenfalls in Ordnung. Etwas schade finde ich, dass absolut keine bibliografischen Angaben gemacht werden. Aus dem Buch geht weder hervor, welche Ausgabe die Quelle war, noch erfährt man den Namen des Übersetzers. Zitierfähig ist es also nicht. Aber besser als nichts.
Günter Abramowski: das leichte ist im schweren
Ina Frodermann: Die jüdische Aufklärung in Preußen. Im Spiegel der Berlinischen Monatsschrift 1783-1796
Ich gestehe, ich war etwas schockiert, als ich das Buch aus dem Briefkasten fischte. Ich hatte beim Bestellen nicht auf die Seitenzahl geachtet und sah nun, dass ich ein weniger als 100 Seiten umfassendes, on demand produziertes Taschenbuch zum Preis von 49 Euro erworben habe. Und nicht mal ein besonders innovatives, wegweisendes wissenschaftliches Werk, sondern offenbar eine studentische Abschlussarbeit.
Ich möchte die Verfasserin nicht diskreditieren. Sie hat sorgfältig ihr Thema abgearbeitet, ein bisschen schulmäßig zwar, aber ich bin sicher, dass sie dafür eine gute Note bekommen hat. Trotzdem: Die zweibändige, gebundene Ausgabe der Schrift über die "bürgerliche Verbesserung der Juden" von Christian von Dohm (siehe meinen Rückblick aufs zweite Quartal) mit insgesamt 640 Seiten und vorbildlichen Beigaben kostet nur 44,95 Euro. Das mal zum Vergleich.
Beim Googeln nach dem Verlag, dem VDM Verlag Dr. Müller, stieß ich auf den Artikel "Die akademische Müllhalde" in der Zeit. Der erklärt vieles.
Also, kurz zum Inhalt: Das Buch widmet sich der Haskala, der jüdischen Aufklärung, und zwar soll es besonders um die Haskala im Spiegel der Berlinischen Monatsschrift gehen. Die Autorin betrachtet dabei ausgewählte Artikel der Maskilim, der jüdischen Aufklärer. Mehr als eine Auswahl war sicher durch das zur Verfügung stehende Zeitfenster nicht möglich, eine Komplettanalyse erst recht nicht. Das ist in Ordnung. Weniger gefallen hat mir beim Lesen, dass ungefähr die Hälfte des Buches für Erklärungen der Vorgeschichte und der Grundlagen verwandt wird. Eher schulmäßig, das schrieb ich ja schon. Die Autorin referiert die Debatte über Dohms Schrift zur "bürgerlichen Verbesserung" und stellt andere Versuche zur Emanzipation der Juden vor, sie erläutert die Problematik der Judeneide und gibt kurz den Inhalt von Moses Mendelssohns Werk "Jerusalem" wieder. Sie stellt die Diskussion zwischen Mendelssohn und Michaelis dar und erklärt ausführlich, was Haskala eigentlich bedeuet. Außerdem referiert sie biografische Daten Mendelssohns, erzählt etwas über seine Bedeutung und über seine Positionen, über seine Freundschaft mit Lessing, sein Wirken, sein zweites großes Werk, den "Phädon".
So bleibt für das eigentliche Thema relativ wenig Platz. Im zweiten Teil widmet sie sich dann einigen wichtigen Texten jüdischer Aufklärer in der Berlinischen Monatsschrift. Dabei fokussiert sie sich auf Moses Mendelssohn, Salomon Maimon und Lazarus Bendavid sowie David Friedländer. Betrachtet werden Mendelssohns "Beantwortung der Frage: Was heißt aufklären?", David Friedländers "Rabbinische Parabel" und Texte zu Kant von Maimon und Bendavid. Weitere Themen sind die Debatte um die frühe Beerdigung bei Juden und ein Vorschlag, das Purimspiel abzuschaffen. Außerdem geht es um die Modernisierung des Schulwesens und die Gründung der jüdischen Freischule.
Sehr spannend fand ich den Vergleich zwischen jüdischem Außendiskurs und den innerjüdischen Debatten. Frodermann zieht in ihrer Schlussbetrachtung das Fazit, dass die Maskilim für die kontroverseren innerjüdischen Debatten nicht die Berlinische Monatsschrift als Podium wählten, sondern beispielsweise die hebräische Zeitschrift Hame'assef. Hier gab es durch die hebräische Sprache einen gewissen Schutzraum, und man konnte wirklich "unter sich" diskutieren. In der Monatsschrift dagegen diskutierten die Maskilim zum einen Themen der klassischen Spätaufklärung, mit denen sich auch christliche Aufklärer befassten, zum anderen versuchten die Maskilim dort, Verständnis für die jüdische Sondersituation zu finden und um Verbündete gegen antijüdische Angriffe zu werben.
Nochmal: Keine schlechte Arbeit, aber eben ein studentischer Text zu einem völlig überzogenen Preis.
Katharina Richmond: Die Entwicklung der jüdischen Erziehung während der Haskala
Und gleich noch ein zweites Mal reingefallen. Gleicher Bestellvorgang, anderer Verlag. Grin arbeitet nach demselben Prinzip wie der VDM Verlag Dr. Müller und veröffentlicht studentische Arbeiten zu horrenden Preisen. Dies Büchlein hat 10 Seiten, davon sieben Seiten Text. Kostenpunkt: 9,99 Euro. Der Studentin, die dieses Referat verfasst und auch ordentlich zitiert und viel Sekundärliteratur benutzt hat, gönne ich die Tantiemen von Herzen, aber geärgert habe ich mich doch. Und auf Grin werde ich nie wieder reinfallen.
Paul Wendland: Die philosophischen Quellen des Philo von Alexandria in seiner Schrift über die Vorsehung. Berlin, 1892. (Reprint Forgotten Books 2018.)
Rechtefreier Text aus der Public Domain, den Scan erhielt der Verlag für umme und warf ihn dann als Book on demand auf den Markt.
Dieser Nachdruck ist ein absoluter Reinfall. Offenbar wurde das Original falsch eingescannt oder die Druckvorlage schlecht formatiert. Jedenfalls fehlen auf jeder rechten Seite rund zwei Zentimeter vom Zeilenende, sodass nur die linken Seiten problemlos lesbar sind. Ich habe das Buch leider ziemlich lange auf meinem SUB liegen lassen, bevor ich es aufschlug, und da war es für einen Umtausch zu spät. Also: Finger weg davon. Ich hole mir mal irgendwann das Original in der Landesbibliothek, wenn Corona vorbei ist ...
Reimer Boy Eilers: Die Schiffbrüchigen von Tumbatu
August
Arno Herzig, Hans Otto Horch, Robert Hütte (Hrsg.): Judentum und Aufklärung
Eine sehr vielseitige und interessante Aufsatzsammlung, die ich mit viel Gewinn gelesen habe. Vor allem, da auch einige Themen enthalten sind, die ich bislang gar nicht auf dem Schirm hatte. Spannend fand ich den Aufsatz über den Dialog zwischen jüdischen Ärzten und Rabbinern über das Thema Beschneidung, in dem zwei Gruppen, die beide hohe Kompetenz und Autorität mitbrachten, miteinander ins Gespräch kamen. Ebenfalls interessant die Diskussion um verschiedene Architekturstile beim Bau von Synagogen, entweder stark an christlichen Bauten orientiert oder eben ganz bewusst als an den Orient erinnernder Gegenentwurf. Man erfährt etwas über die Rolle des Lehrers als Verfasser und Akteur der Ghetto-Literatur, über Hofjuden als Vorreiter und Wegbereiter, die durch ihre Kontakte und ihren Einfluss viel bewegen konnten. Außerdem etwas über die jüdische Freischule in Berlin und ihre Programmschriften, über eine Huldigungsrede an den Preußenkönig und über israelitische Kreisversammlungen in Bayern. War spannend und las sich sehr flüssig, viel gelernt.
Hans-Joachim Pülm: Ruß oder Hohlwanges Sicht der Dinge
Ein Krimi, verfasst von einem ehemaligen Goslarer. Es geht um einen Schornsteinfegerlehrling, der ein Verbrechen beobachtet. Eine Buchvorstellung von mir gibts in der Goslarschen Zeitung. Wer den Text lesen mag, findet ihn hier (hinter der Bezahlschranke):
https://www.goslarsc...id,1522115.html
Aufgeben ist keine Option! Die Storys zum Marburg-Award 2020
Woher wusste der Marburger Verein für Phantastik nur, dass wir in diesem Jahr wirklich jede positive Geschichte brauchen, die wir kriegen können? Die Ausschreibung zum Marburg-Award 2020 war ein Aufruf zum Schreiben von phantastischen Storys der mir noch völlig unbekannten Genres Solar Punk, Hope Punk oder Noble Bright. Gesucht waren optimistische Beiträge, die Mut machen und positiv in die Zukunft blicken. Herausgekommen ist eine sehr lesenswerte Anthologie mit spannenden Geschichten. Allerdings, das muss ich auch zugeben, Literatur scheint mir doch etwas eher auf das schlechte Ende, das großartige Scheitern ausgelegt zu sein. Irgendwie fehlte mir dann doch die Tragik. Trotzdem: ein guter Ansatz, sehr spannend.
Antonia Michaelis: Wind und der geheime Sommer
Ein zauberhaftes Buch, sowohl die Geschichte als auch die Illustrationen. Wind, die Titelheldin, ist ein seltsames Mädchen, das allein auf einem wilden Gelände hinter einem Bauzaun lebt und Geige spielt. Und: Wind kann zaubern. Oder jedenfalls so lebendig erzählen, dass all die abenteuerlichen Landschaften, die sie ihren Freunden beschreibt, wirklich und wahrhaftig spürbar werden. Afrikanische Savannen, Weltmeere, ein geheimnisvoller Cenote - eine überflutete Höhle im Urwald - oder ein Tempel südamerikanischer Indianer, die Kinder stürzen von einem Abenteuer in ein anderes, eines spannender und zauberhafter als das vorherige.
Aber: Winds Zauberzeit ist begrenzt. Wenn die Sommerferien zu Ende sind, ist alles aus, sagt sie. Ob sie sterben wird oder nur wegziehen? Ihre Freunde wissen es nicht, aber vor allem für John-Marlon ist die Vorstellung beängstigend. Wer verstreut die sonderbaren Blütenblätter in Winds Welt und dringt sogar in ihr Baumhaus vor? Die dunklen Gestalten, die manchmal auf dem Gelände auftauchen, sind jedenfalls keine Abenteuer-Figuren aus Winds Märchen.
Liebenswürdig, melancholisch, zauberhaft, ein echter Michaelis eben.
September
Linda Budinger: Der siebte Schrei (e)
Packender Thriller um einen Serienmörder, der kleine Jungen entführt und zu Tode quält. Sechsmal hat der Mann bereits zugeschlagen. Fünf Jungen starben. Der sechste konnte entkommen. Aber der sechste Junge ist stumm, er war es schon vor der Entführung, und nun ist er verstört und traumatisiert, sodass seine Aussagen bei der Suche nicht sehr hilfreich sind. Dann wird ein siebter Junge entführt. Für die Polizei beginnt ein Rennen gegen die Zeit. Ist der siebte Junge noch am Leben, und kann er gerettet werden? Ein FBI-Agent versucht noch einmal, mit dem entkommenen Jungen ins Gespräch zu kommen - in der Hoffnung, doch noch Informationen über den Täter zu erhalten.
Linda Budinger versteht viel von Psychologie und Charakterzeichnung. Die Begegnung und die Gespräche zwischen dem neunjährigen Steve Wells und dem Special Agent Deacon Hamilton sind unglaublich intensiv und berührend. Ja, es ist ein Thriller, Gewalt und Action gehören auf jeden Fall mit dazu bei diesem Fall und diesen Ermittlungen, und es sind ausgesprochen harte Szenen dabei. Linda Budinger kann das sehr gut. Aber das, was diesen Roman vor allem ausmacht, was die Geschichte wirklich unter die Haut gehen lässt, das ist die Spannung, die entsteht, wenn die unterschiedlichen Personen aufeinandertreffen. Wenn Hamilton versucht, in die stumme Welt Steves vorzudringen. Wenn ein tumber, karrieregeiler Kollege Steve "hart rannimmt", um die Ermittlungen zu beschleunigen, der daraufhin wieder vollkommen blockiert. Wenn Steve bei seiner Pferdetherapie langsam wieder zu sich zurückfindet, Rückfälle erlebt, neues Vertrauen fasst. Und wenn der gestörte Mörder sich seiner besonderen Liebe mit Hingabe widmet.
Langsam fügt sich ein Puzzleteil zum anderen. Und endlich erkennt Deacon etwas Ungeheuerliches: Steve entkam dem Mörder nicht trotz seiner Behinderung, sondern gerade weil er stumm ist ...
Beeindruckend.
Eine Kleinigkeit am Rande: Ein bisschen schmunzeln musste ich, als die Autorin einen klassischen Lapsus deutschsprachiger Schriftsteller machte, die ihre Geschichten im englischsprachigen Raum spielen lassen: Deacon und Steves Reitlehrerin Marina River kommen einander durch ihren gemeinsamen Kampf für den Jungen so nahe, dass sie irgendwann offiziell ins "vertrauliche Du" wechseln. Dann steht einer intensiveren Beziehung ja nichts mehr im Wege ...
Hans Baumann: Orpheus
Sehr schön illustriertes Kinderbuch, das inzwischen 30 Jahre alt ist. Ich habe es auf Amazon Marketplace gefunden, und da ich Baumanns Kinder- und Jugendbücher sehr schätze, habe ich natürlich zugegriffen. Da es sich um ein Bilderbuch handelt, wird keinen wundern, dass das dramatische Finale der Orpheus-Sage ausbleibt. Der Mann wird nicht am Ende von schwärmenden Mänaden zerrissen. Er sitzt am Ende traurig da, als er seine geliebte Eurydike ein zweites Mal verloren hat, doch dann kommt ein Hirte, der den wundersamen Sänger um Hilfe bittet: Ein furchtbarer Löwe bedrohe sein Dorf, erzählt er. Und Orpheus steht auf, nimmt seine Leier und folgt dem Hirten, um den Löwen zu zähmen.
Erzählt wird die Geschichte eines jungen Mannes, der ein wenig anders als die anderen ist. Verstoßen von seinem Vater, weil er nicht Bogenschießen, sondern die Leier spielen will. Ein Mann, der die wilden Tiere mit seinem Leierspiel zähmt, von einer jungen Taube begleitet wird und einen Löwen als Freund gewinnt. Als Teilnehmer des Argonautenzugs tut sich Orpheus besonders hervor. Seine Musik gibt den ermatteten Ruderern neue Kraft, weckt den Wind, stillt Stürme, teilt einen Fluss.
Es ist seine Taube die den Flug zwischen den zusammenschlagenden Donnerfelsen hindurch wagt, dann bannt Orpheus die Felsen und lässt sie stillstehen, sodass die Argo sicher hindurchgleiten kann. Schließlich singt er sogar den Drachen in den Schlaf, der das Goldene Vlies bewacht. Ja, und dann die große Liebe, der Tod Eurydikes, der Weg durch die Unterwelt. Sehr schön. Solche Kinderbücher gibt es heute wohl nicht mehr ...
L. Frank Baum: OZ - The complete edition (e)
- Teil 1: The wonderful wizzard of Oz
Kostenloses eBook, das ich mir auf den Kindle geladen habe. Es enthält die komplette Oz-Serie, alle 14 Teile. Gebt zu, dass es so viele gibt, habt ihr nicht gewusst.
Teil 1 ist wahrscheinlich allerseits bekannt. Dorothy wird durch einen Tornado samt Farmhaus und Hund Toto ins wundersame Land Oz geweht, wird als Retterin betrachtet, da ihr Haus auf eine böse Hexe gefallen ist und diese erschlagen hat, und muss sich nun auf die Suche nach dem Zauberer von Oz machen, der sie vielleicht wieder nach Hause bringen kann. Unterwegs trifft sie eine Vogelscheuche, die sich selbst für strunzdumm hält und gern Verstand hätte, einen furchtsamen Löwen, der gern mutiger wäre, und einen Holzfäller aus Zinn, der sich ein Herz wünscht. Das große amerikanische Märchen. Und den Film kennt vermutlich auch jeder. Die Sprache fand ich sehr einfach, ich kam mit meinem Englisch gut durch und hatte keinerlei Probleme. Klar, ich wusste ja auch, worum es geht. Ab Folge drei gab es etwas mehr zu knabbern, aber das hört ihr dann im nächsten Quartal ...
Hörspiel/Hörbuch
Abenteuer & Wissen: Ludwig van Beethoven. Musik für eine bessere Welt
Das wird auch Zeit, dass ich im Beethovenjahr endlich mal dem Meister meine Reverenz erweise. Das Hörspiel stammt aus der Reihe "Abenteuer & Wissen", die ich in der Zeit, als die Hörspiele noch von Maja Nielsen stammten, sehr geliebt habe. Das hier ist, sagen wir, redlich. Es wird sehr redlich die Lebensgeschichte des Komponisten abgearbeitet, die Pflichtstationen werden besucht. Vom kleinen Jungen, der Eier stahl und nachts von seinem Vater mit Klavierunterricht gequält wurde, zum selbstbewussten Genie, das auch der kaiserlichen Kutsche in Teplitz nicht auswich: Goethe tritt zur Seite und verneigt sich, Beethoven bleibt stehen, und die Kaiserin muss ihm ausweichen ... Von der Formel "Mozarts Geist aus Haydns Händen" bis zum Heiligenstädter Testament, vom tauben Genie, das die neunte Sinfonie dirigiert und nach der Aufführung umgedreht werden muss, damit es den tosenden Beifall sehen kann. Alles da. Aber es fehlt einfach der Zauber. Und irgendwie kommen die Abgründe und die Dramatik nicht rüber. So bleibt es die Geschichte eines weitherzigen Menschenfreundes, die jemand in hölzerne Dialoge umgesetzt hat, damit Kinder sie auf eine vermeintlich kindgerechte Weise lernen sollen. Alles inhaltlich ganz okay, aber es hat einfach nicht das gewisse Etwas.
André Wiesler: Protektor - Monsterjäger mit Sockenschuss
Bingo - Volltreffer! Das war das absolut Genialste, was ich dieses Jahr gehört habe. Die Konstellation "Loser wird berufen, die Welt zu retten, und schafft es auch" ist zwar nicht neu, aber das, was André Wiesler daraus macht, ist einfach nur umwerfend.
Sein Held, Klaus Holger, Langzeitarbeitsloser, der schon lange die Kontrolle über sein Leben verloren hat, Zyniker und Pechvogel, ist vollkommen perplex, als die bildschöne Veronique ihn anspricht und abschleppen will. Und Veronique, altgediente Monsterjägerin schon aus Zeiten der Inquisition, ist genau so perplex, als sie kapiert, zu was für einem Volltrottel ihn ihre übersinnlichen Begleiter geführt haben. Dieser Idiot soll tatsächlich ihr Nachfolger sein und die Menschheit vor Dämonen und Teufeln retten?
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf, als Klaus Holger das mächtige Protektorensiegel in die Handfläche eingebeizt bekommt. Und es wird auch nicht besser, als sich sein "Tierbegleiter" zu ihm gesellt. Jeder Protector hat ein seelenverwandtes Tier an seiner Seite, das ihn im Kampf gegen das Böse unterstützt. Veroniques animalischer Seelenfreund war ein stolzer Silberlöwe. Das Entsetzen ist groß, als vor Klaus Holgers Tür plötzlich eine Kuh auftaucht, die bei ihm einziehen will. Aber nützlich ist diese Kunigunde mit ihren großen treuen Augen und ihrem noch größeren Herzen allemal. Zum Beispiel, wenn man einen Rammbock braucht, um eine Tür zu aufzusprengen, hinter der der eigene Vater Messdiener bei einem satanischen Ritual ist und sich an einem Huhn vergeht.
Verdammt nochmal, warum habe ich dieses Hörbuch erst jetzt entdeckt. Kauft! Dieses! Hörbuch!
Abenteuer und Wissen: Alexander von Humboldt
(Nach dem Beethoven-Hörspiel stieß ich auf die "Kennenlernbox" der Reihe "Abenteuer und Wissen" und dachte mir, man kann es ja nochmal versuchen, auch ohne Maja Nielsen. Ich bekam also drei CDs: Alexander von Humboldt, Albert Einstein und Edmund Hilary. Das Angebot ist sehr günstig.)
Ich habe es ja eigentlich mehr mit Wilhelm von Humboldt, aber ab und zu bin ich doch auch mit seinem kleinen Bruder unterwegs. Das vorliegende Hörspiel beginnt mit einem abenteuerlichen beinahe-Schiffbruch auf dem Orinoco und blendet dann zurück und erzählt, wie der Wissenschaftler und Weltreisende dorthin kommen konnte. Los geht es mit der Kindheit in Tegel, wo die beiden Brüder von einem Hauslehrer erzogen werden, Wilhelm ist recht fleißig beim Lernen, Alexander träumt sich davon in die Welt. Doch bis er dahin kommt, fließt noch viel Wasser den Orinoco hinunter.
Gezeichnet wird das Bild eines Mannes, der sehr offen und wertschätzend auf seine Mitmenschen, auch auf Angehörige anderer Völker und Kulturen, zugeht, und ich denke, dass das der Zug ist, den das Hörspiel wirklich am besten eingefangen hat. Ein Europäer, der nicht als Eroberer in die neue Welt fährt, sondern ernsthaft am Gespräch interessiert ist, der von den dortigen Menschen lernen will und der auch an die Natur nicht mit dem Skalpell, sondern mit Bleistift und Skizzenbuch herangeht, Zusammenhänge begreift, Ökosysteme und Klimazonen erkennt und versteht.
Ein wenig gewurmt hat es mich, dass der Autor den großen Bruder Wilhelm so herablassend über den kleineren reden lässt. Naja, die beiden werden als Kinder schon so oder so ähnlich mit einander umgegangen sein. Letzten Endes sind beide aber ganz besondere Menschen geworden.
Übrigens, eine interessante Duplizität der Ereignisse: Im November habe ich ein Buch über Wilhelm von Humboldt gelesen, in dem erwähnt wird, dass er einmal beinahe ertrunken wäre, wenn ihn ein Freund nicht gerettet hätte. Hier im Hörspiel ist die Szene, als Alexander beinahe im Orinoco ertrunken wäre, wenn ihn sein Freund Bonpland nicht herausgefischt hätte, sehr eindrucksvoll dargestellt. So ist das wohl mit Geschwistern, vieles wiederholt sich ...
Abenteuer und Wissen: Albert Einstein
Ordentlich erzählte Lebensgeschichte eines genialen, etwas weltfremden Mannes, der Atome und die Lichtgeschwindigkeit verstand, aber es nicht auf die Reihe brachte, sein Haar ordentlich zu kämmen oder gleichfarbige Socken anzuziehen. Tragisch die Geschichte mit seiner ersten Ehefrau Milena, dem vorehelichen Kind und ihrer wohl deswegen verpatzten Prüfung. Sehr gut getroffen seine Ablehnung von Uniformen und Gleichdenkerei. Ein Mensch, der für Menschenwürde und humanistische Werte eintrat - und dann der große Sündenfall, als die Nazis immer stärker wurden und er dem amerikanischen Präsidenten zum Bau der Atombombe riet. Das Hörspiel ist lang und enthält viele Details. Aber es fehlt auch hier wieder das Berührende, der Haken, der hängen bleibt und unter die Haut geht. Es ist okay, nicht mehr und nicht weniger. Aber mir fehlt das Mehr.
Abenteuer und Wissen: Edmund Hillary
Geschichte der Erstbesteigung des Mount Everest. Und was davor war. Man erfährt einiges über Hillarys Jugend, seine furchtbaren Verbrennungen bei einem Bootsunfall, seine Frau und die Faszination des Bergsteigens. Und auch das ist ein wichtiger Faktor: Geld. Denn ein guter Freund und mindestens ebenso guter Bergsteiger aus Hillarys Team kann dem Ruf an den Everest einfach nicht folgen, weil ihm die nötige Kohle fehlt. Dann ist es tatsächlich so weit: Edmund Hillary und Tenzing Norgay machen sich auf zum höchsten Gipfel der Welt.
Interessant ist auf jeden Fall, dass die Hörspiel-Macher als Gesprächspartner Reinhold Messner gewinnen konnten, der an einigen Stellen die Situation Hillarys kommentiert und eigene Erfahrungen als Everest-Besteiger beisteuert.
Es ist nicht schlecht. Aber gerade hier ist der direkte Vergleich zu Maja Nielsens Hörspielen möglich: Kennt ihr das packende, unter die Haut gehende Hörspiel, das sie über die Everest-Expedition von George Mallory und die Suche nach seiner Leiche gemacht hat? Die Gänsehaut davon habe ich noch immer.
© Petra Hartmann
Weitere Jahresrückblicke:
Teil I: Januar bis März 2020
Teil II: April bis Juni 2020
Teil IV: Oktober und November 2020
Teil V: Dezember 2020