Jahresrückblick V: Dezember 2020
Jahresrückblick
Der fünfte und letzte Teil meines Lese-Rückblicks auf 2020. Offenbar hat der November mein Blog gesprengt, sodass ich hier den letzten Monat separat abfeiern muss. Dafür wird es jetzt kurz. Etwas SF und Phantastik, ein weiterer Oz-Band und etwas zur Aufklärung und Haskala, das wars dann mit dem alten Jahr. Fürs neue habe ich schon ein paar Lesungen geplant, auch soll demnächst eine Kurzgeschichte von mir erscheinen. Wir sehen uns wieder, sobald Corona es zulässt. Und wenn die Seuche noch weiter wütet, bleibt uns immer noch das Lesen. Alles Gute für dieses neue Jahr 2021.
Hinweis:
Etwaige blau markierte Texte sind herausragende Spitzenbücher, rot steht für absoluten Mist, ein (e) hinter dem Titel bedeutet, dass ich den betreffenden Text in der eBook-Version gelesen habe, und hinter den Links verbergen sich ausführlichere Besprechungen innerhalb dieses Blogs.
Dezember
Rund um die Welt in mehr als 80 SF-Geschichten
Engagiertes Projekt des Verlags Saphir im Stahl. Die im Titel angesprochene, von Jules Verne inspirierte Zahl 80 wurde allerdings durch die zur Verfügung gestellten internationalen SF-Storys bei weitem übertroffen. Es wurden 93 Geschichten von 93 Autoren aus 41 Ländern. Eine stattliche Sammlung. Und natürlich ist jede einzelne Geschichte auf ihre Art schön.
Meine absoluten Lieblinge waren vier Storys.
Da ist zunächst "Bevillinger" von Flemming R. P. Rasch aus Dänemark. Es handelt sich um eine Wissenschafts- und Bürokratie-Persiflage, eine sehr schöne Satire auf die Vorschriften zur Beantragung von Fördergeldern. Ein Wissenschaftler hat eine bahnbrechende Idee, schafft es aber leider nicht, den entsprechenden Förderantrag korrekt auszufüllen. Daher beantragt er für sein Institut die Einstellung einer Fachkraft, die sich um Antragssachen kümmert. Doch der Apparat legt ihm einen Stein nach dem anderen in den Weg. Auch sein Versuch, bei einem Institut in der freien Wirtschaft unterzukommen, wird blockiert, da die Beamten Rechte an seiner von ihnen verhinderten Idee geltend machen wollen. Am Ende ist durch das entstandene bürokratische System jede Wissenschaft und Forschung unmöglich geworden.
Weiterhin beeindruckt hat mich die Geschichte "Licht" von Ghassan Homsi aus Syrien. Es geht um Solartechnik. In der Wüste sind riesige Anlagen des Unternehmens Desertec für die Erzeugung von Sonnenergie entstanden, doch aufgrund von Verträgen fließt der Strom nur an bestimmte Länder, vor allem in Europa, während die Anwohner leer ausgehen. Doch dann schließen sich die Staaten des nahen Ostens zusammen, Araber und Israelis, friedlich vereint, stemmen ein Großprojekt zum Einfangen des Sonnenlichts bereits im Weltall. Und sie können das Licht von den Desertec-Stationen abfangen. Der milliardenschwere Konzern guckt in die Röhre. Schön und gerecht.
"Linber" von Galit Dahan Carlibach aus Israel ist eine berührende, in eingängigem, beinahe lyrischem Rhythmus geschriebene Geschichte, die in Berlin spielt und sich mit dem Holocaust beschäftigt, mit den dortigen Stolpersteinen und der Judenvernichtung in der Nazizeit, die sowohl von vielen heutigen Deutschen, als auch von afrikanisch-stämmigen Juden verdrängt beziehungsweise als nicht sie betreffend betrachtet wird. Doch in einer Nebelnacht in Berlin begegnet die Ich-Erzählerin den Geistern der Ermordeten und ihrer eigenen Identität. Nicht unbedingt etwas, das ich als Science Ficition bezeichnen würde, aber einfach eine sehr gute Geschichte.
Viertens schließlich möchte ich die Geschichte "Unterstadt" von Maria Eijo López aus Spanien hervorheben. Es ist eine sehr harte, böse Geschichte über ein Geschwisterpaar und mehrere andere Bewohner der Unterstadt, die in den falschen Zug steigen und umkommen, weil sie die Durchsage auf Neu-Esperanto nicht verstehen. Eine Säuberungsaktion, mit der sich die Herren aus der Oberschicht der ungebildeten Bewohner der ärmeren Stadtviertel entledigen wollen. Sehr böse.
Uta Lohmann: Haskala und allgemeine Menschenbildung
Eine sehr gute und umfangreiche Darstellung der Freundschaft und Zusammenarbeit von David Friedländer und Wilhelm von Humboldt. Eine Freundschaft, die über Religions- und Altersgrenzen hinweg trägt und sich in einem bildungspolitischen Dialog und gegenseitiger Inspiration zeigt. Beim Stichwort Freundschaft zwischen jüdischen und christlichen Philosophen fallen einem ja immer zuerst Lessing und Mendelssohn ein, aber das, was hier in der darauf folgenden Generation entstanden ist, hat mindestens die gleiche Qualität. Ein Austausch zweier sehr kluger Menschen, die sich im Bereich der Bildungspolitik engagieren, immer auf Augenhöhe und sehr offen für andere Kulturen und Perspektiven. Humboldt ging in die Geschichte ein als großer Bildungsreformer und Schöpfer des humanistischen Gymnasiums. Friedländer kämpfte für die Gleichberechtigung der Juden, für ein Bildungsprogramm und die Gründung einer Schule. Beide zusammen traten ein für Freiheit und Menschenwürde und eine offene, freie Menschenbildung jenseits aller Schranken der Herkunft und Konfession.
David Friedländer, der Ältere, war ursprünglich eine Art Mentor und väterlicher Freund Wilhelms und auch Alexanders, des jüngeren der Humboldt-Brüder. Beide gingen in ihrer Jugend sehr offen auf jüdische Zeitgenossen zu, diskutierten in den Salons jüdischer Gastgeberinnen jenseits aller Standesschranken mit Intellektuellen und Künstlern und lernten Hebräisch. Sprachstudien, die in Wilhelms sprachphilosophischem Werk eine herausragende Stellung hatten, neben Latein und Griechisch ein wichtiger Pfeiler in dessen Philosophie. Und als die Finanzierung von Alexanders Forschungsreise nach Südamerika auf der Kippe steht, ist es Friedländer, der dem Freund mit Geld und Kontakten beispringt und das Auslaufen möglich macht.
Uta Lohmann stellt die bildungspolitischen und sprachphilosophischen Positionen beider Denker dar und arbeitet unter anderem sehr schön heraus, dass vieles, was Friedländer anlässlich seiner Übersetzungsarbeit und der Thora-Übersetzung Mendelssohns als Grundsätze entwickelt hat, in die sprachphilosophischen Aufsätze Humboldts mit eingeflossen ist. Gerade beim Nachspüren von Wortbedeutungen und bei Gedanken über das Wesen von Sprachen und Möglichkeiten der Übertragung sind Humboldt und Friedländer sehr dicht beieinander. Und auch Humboldts bildungspolitische Arbeit wäre ohne den Austausch mit Friedländer sicher sehr anders ausgefallen. Auch in der Übersetzungsarbeit selbst berühren sich die Gedankenwelten und Problemkreise der beiden. Humboldt, der über 20 Jahre an der Übersetzung des aischyleischen Agamemnon arbeitete, und Friedländer, der rund 30 Jahre mit der Übersetzung des Jesaja rang, den Hiob übersetzte und eine Übersetzung des jüdischen Gebetbuchs veröffentlichte, haben sehr ähnliche Gedanken und Ideale bei der Übertragung von einer Sprache in die andere.
Die Grundsätze "Wir wollen ... gute und moralische Menschen bilden" oder "Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, das Gute wollen, das Beste tun" ziehen sich leitmotivisch durch die politische und reformatorische Arbeit beider Männer hindurch, und es ist sehr erhellend, Humboldts Positionen einmal vor dem Hintergrund der Bildungsdiskussion der Haskala (etwa der Wessely-Debatte) zu betrachten.
Uta Lohmann stellt die Wechselwirkungen zwischen jüdischer Aufklärung und neuhumanistischer Bildungstheorie ausführlich und gut nachvollziehbar dar. Der Band enthält auch den Briefwechsel Humboldts mit Friedländer, so weit erhalten, sowie weitere Schreiben von und an Friedländer und seine Familie, außerdem Briefe Alexanders von Humboldt, dazu Textanalysen, Faksimiles und Bildmaterial. Eine sehr schöne, gediegene Ausgabe, die mir sehr gefallen und beim Lesen sehr viel Spaß gemacht hat. Schön, wenn man seinen alten Freund Wilhelm von Humboldt nach so vielen Jahren mal von einer noch neuen Seite vorgestellt bekommt und wieder einmal feststellen kann, dass er auch dort ein sehr anständiger und kluger Mensch war. Gut so.
Wenn die Welt klein wird und bedrohlich. Schreiben aus der Corona-Isolation
Anthologie, in der ich selbst mit einem Text vertreten bin, daher hier keine Bewertung. Wir waren 30 Autoren und haben den ersten Monat des ersten Lockdowns schreibend begleitet. Ich steuerte meine "Notizen aus der Lokalredaktion" bei.
L. Frank Baum: OZ, Complete Edition: 5: The Road to Oz (e)
Ein Landstreicher kommt an der Farm vorbei, auf der Dorothy zusammen mit ihrem Onkel und ihrer Tante lebt. Der Shaggy Man (Zottelmann) trägt nicht gerade vornehme Klamotten, aber er besitzt einen Herzmagneten, der ihm alle Menschen, denen er begegnet, sofort gewogen macht. Als er Dorothy nach dem Weg zu einem benachbarten Ort fragt, meint sie, es wäre einfacher, ihn dorthin zu begleiten. Doch Dorothy, Hund Toto und der Shaggy Man kommen nie dort an, obwohl sie sich auf der Straße eigentlich gar nicht verlaufen können.
Sie begegnen zunächst dem hübschen, aber ziemlich einfältigen jungen Buttonbright, der jede Frage mit "Don't know" beantwortet. Da der Junge nicht weiß, wo er zu Hause ist, beschließen Dorothy und der Shaggy Man, dass sie ihn nicht allein dort sitzen lassen können, und nehmen ihn mit.
Ihr Weg führt sie durch unbekannte Städte. Als sie in eine Stadt kommen, die von Füchsen bewohnt ist, hält der Fuchskönig Buttonbright aufgrund der ständigen Antwort "Don't know" für einen besonders klugen Menschen und zaubert ihm einen Fuchskopf. Buttonbright und seine Begleiter sind entsetzt, der Fuchskönig etwas betrübt, dass der Junge die große Ehre nicht zu würdigen weiß. Leider kann er das Geschenk nicht wieder wegzaubern, das könne nur der Brunnen der Wahrheit in Oz, sagt der Fuchs. Apropos Oz: Der Fuchs erzählt, dass Ozma, die Herrscherin von Oz, demnächst ihren Geburtstag feiert, und er hätte doch so gern eine Einladung ... Dorothy verspricht, dass sie Ozma bitten wird, den Fuchskönig einzuladen, sobald sie sie trifft. Die Wanderer haben jetzt also ein Ziel: Oz. Und Dorothy, die im Bereisen von Zauberländern erfahren ist, macht sich auch keine Sorgen.
Wenig später erreichen sie eine Stadt, die von Eseln bewohnt wird. Selbes Spielchen. Diesmal ist es der Shaggy Man, an dem der Eselskönig einen gewaltigen Narren gefressen hat. So ein höflicher Besucher wie der Shaggy Man ist doch wahrhaftig eines Eselskopfes würdig, meint das königliche Grautier. Ups. Nein, rückgängig machen kann eine solchen Zauber nur der Brunnen der Wahrheit in Oz. Apropos Oz, da ist ja bald diese Geburtstagsparty ...
Die Freunde wandern weiter und treffen ein wunderschönes Mädchen, das immer wieder zu tanzen anfängt, weil ihm so kalt ist. Es handelt sich um Polychroma, die Tochter des Regenbogens, die versehentlich vom Himmel fiel und nun nicht mehr zu ihrem Vater zurückfindet. Polychroma schließt sich der Gruppe an.
Eine weitere interessamte Begegnung haben sie mit einem "Musicker". Der Mann ist offenbar an Musik erkrankt, sein Körper macht bei jedem Atemzug musikalische Geräusche, zum Teil wunderschön, zum Teil aber auch extrem nervtötend, weil ja mit Geräusch verbunden. Auch der Musicker bittet um eine Einladung zu Ozmas Party.
Schließlich erreichen sie die tödliche Wüste, hinter der Oz liegt. Leider, wie gesagt, tödlich, also nicht so ohne weiteres zu überqueren. Doch der Shaggy Man hat einen Freund, den er offenbar in jeder Gefahrensituation anrufen kann: Johnny Dooit. Dieser seltsame, hilfreiche Deus ex Machina erscheint und zimmert für die Gruppe ein Sandsegelschiff, mit dem sie durch die Wüste fahren können. Den Dank dafür wartet Johnny Dooit gar nicht ab, er ist ein vielbeschäftigter Mann und verschwindet sofort. Und die Freunde segeln durch die Wüste. Das Schiff nimmt rasch Fahrt auf, es fährt schnell, aber mit dem Bremsen hapert es, so zerschellt es auf der anderen Seite an Klippen. Doch die Freunde sind in Oz. Und zwar genau am Brunnen der Wahrheit. Schnell baden Buttonbright und der Shaggy Man darin und erhalten ihre wahre Gestalt wieder.
Das war so ungefähr die erste Hälfte des Buchs. Die andere Hälfte besteht aus Besuchen bei Dorothys alten Freunden, Wiedersehensfreude, Erzählen, dann die Ankunft bei Ozma, Gespräche, Empfänge, Festessen, schöne neue Klamotten, wobei die für den Zottelmann zwar aus sauteuren Stoffen hergestellt werden, aber seinem persönlichen Stil folgend als Zottelklamotten gestaltet werden. Es gibt haufenweise Besucher, das Ganze liest sich wie eine endlose Folge von Namedroppings. So wird natürlich die ganze Königsfamilie von Ev bewirtet, jedes Volk, das in den vorigen Bänden irgendwann mal erwähnt wurde, ist hier vertreten. Hinzu kommen auch viele noch unbekannte Völker und Länder. Auch Johnny Dooit ist zu Gast. Der Fuchskönig und der Eselskönig sind da. Der Musicker erhielt keine Einladung, wegen des Krachs, den der Mann macht. Der verrückte Erfinder aus dem vorigen Band schenkt Ozma Knisterer für ihre Kleider usw usw usw.
Zum Glück taucht auch der Weihnachtsmann auf, der als Freund aller Kinder auch Buttonbright kennt und weiß, wo er zu Hause ist. Und auch wo sich Polychromas Vater gerade aufhält, wird nun klar.
Der Zauberer von Oz führt seine neue Luftblasenmaschine vor. Die Riesenblasen sind stabil und lassen sich steuern, sodass alle Gäste, einschließlich Buttonbrights, mit ihnen nach Hause fliegen können. Einzig Dorothy will lieber mit dem Zaubergürtel Ozmas nach Hause geschickt werden. Alle wieder daheim. Ende gut, alles gut.
Die erste Hälfte fand ich ganz nett, allerdings war es wieder ein stereotypes Wiederholen von üblichen Reisegeschichten in und nach Oz. Immer wieder neue seltsame Leute, die sich ihnen anschließen oder ihnen Köpfe aufsetzen, und alles soll sich, wie gehabt, in Oz lösen. Das kennt man aus Teil 1, 2 und 4. Die zweite Hälfte war einfach nur fad, da wurden nur endlos lang Leute aufgezählt, Klamotten und Festessen beschrieben, Wiedersehensfeiern mit alten Freunden gefeiert und alte Erinnerungen aufgewärmt. Verzichtbar.
Was mir aufgefallen ist: Bisher konnten alle Tiere, die Dorothy nach Oz mitbrachte, sprechen: Henne Billina, Kutschpferd Jim, Katze Eureka ... Nur Toto bleibt auch bei seinem zweiten Besuch in Oz stumm. Wieso?
Interessant ist auch, dass das Transsexualitätsthema fortgesetzt wurde. Beziehungsweise Wesen mit scheinbar männlichem Geschlecht werden als Frauen erkannt, während scheinbar weibliche Wesen plötzlich Männer sind. Billina, ehemals Bill, hat inzwischen zahlreiche Nachkommen. Alle ihre zehn Kinder nannte sie Dorothy. Allerdings musste sie dann drei von ihnen umtaufen, da sie sich als Gockel entpuppten, die heißen jetzt alle David, da sie unbedingt einen Namen mit D brauchten, weil Ozma ihnen ja jeweils ein Halsband mit einem D darauf geschenkt hatte ...
Heike Wüller: Christian Wilhelm von Dohm. Ein Mann der Aufklärung im preußischen Staatsdienst
Kleiner Nachklapp zu meinen Dohm-Studien im Frühjahr. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine schmale 42-seitige Broschüre, Herausgegeben vom Landesverband Lippe und der Stadt Lemgo, Dohms Geburtsstadt. Das schlanke Bändchen bietet eine Überblick über Leben und Werk Dohms, ist reich bebildert und erschien in einer Reihe mit dem Titel "Lemgo.Persönlichkeiten". Sehr gute Einstiegslektüre, mit der Lemgo einen der bedeutenden Söhne der Stadt vorstellt. Inhaltlich aber nicht beschränkt auf sein Wirken in Lemgo und seinen Bezug zur Stadt, sondern eine Gesamtdarstellung. Kurz, knapp, handlich, hilfreich.
© Petra Hartmann
Weitere Jahresrückblicke:
Teil I: Januar bis März 2020
Teil II: April bis Juni 2020
Teil III: Juli bis September 2020
Teil IV: Oktober und November 2020
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