Hippalektryon - ein Fabeltier ohne Fabel
Elfenschrift
Den Pegasus kennt vermutlich jeder Autor. Der eine oder andere hat auch Ariostos "Rasenden Roland" gelesen und weiß, was ein Hippogryph ist. Aber ist euch schon einmal ein Hippalektryon begegnet? Der folgende Artikel entstand vor einigen Jahren für die Zeitschrift "Elfenschrift". Für alle, die ihn damals verpasst haben - oder die ihn noch einmal lesen mögen - stelle ich den Text hier ein:
Hippalektryon - ein Fabeltier ohne Fabel
„Fliegende Pferde landen am Strand“, sang Achim Reichel im Jahr 1989. Ein niedergehender Pegasus-Schwarm an der Küste, das muss schon ein großartiger Anblick sein. Aber gibt es Pegasi (Pegasen? Pegasusse?) überhaupt im Plural? Wohl kaum, der „edle Renner“, wie ihn Wilhelm Busch nannte, war einzigartig. Gleichwohl gibt es auch Berichte über anders geartete Flügelpferde. Eines von ihnen möchte ich hier vorstellen.
Zu den skurrilsten Gestalten, die das antike Griechenland hervorgebracht hat, zählt der Hippalektryon. Das Hahnenpferd oder der Rosshahn, wie man den Namen übersetzen kann, besaß das Vorderteil eines Pferdes; seine Hinterbeine, die Flügel und der Schwanz stammten jedoch von einem Gockel. Das ungewöhnliche Tier stellt Wissenschaftler noch heute vor ein Rätsel.
Es gibt Vermutungen, es käme aus dem Orient, wo kühne Kombinationen aus verschiedenen Tieren sehr beliebt waren. Immerhin habe es dort ähnliche Wesen, etwa einen Panther-Hahn oder einen Mädchen-Hahn gegeben. (1) Doch ein orientalischer Hippalektryon wurde bisher noch nicht entdeckt.
Ebenfalls unklar ist, was den „Erfinder“ bewogen haben mochte, ausgerechnet Pferd und Hahn zu vereinigen. Die Theorie, man wolle damit ein äußerst schnelles Reittier erschaffen, wirkt jedenfalls wenig überzeugend. Immerhin sind diese Vögel weder besonders beeindruckende Läufer, noch machen sie als Flugkünstler von sich reden. Auch der Vorschlag, das Tier solle ein Symbol für Mut sein, hat angesichts eines in Panik ausbrechenden Hühnervolkes nur wenig für sich. Doch als dekoratives Element ist ein schöner, bunter Hahnenschwanz nicht zu verachten, und so mögen wohl optische Eigenschaften für die Wahl verantwortlich sein. Ein Grund mehr, dass der Hippalektryon vor allem die bildenden Künstler faszinierte.
Aischylos erfindet das Hahnenpferd
Als erster Dichter, der über das Hahnenpferd schrieb, gilt Aischylos. Der älteste der drei großen griechischen Tragödiendichter ließ das Tier in seiner - nur in Fragmenten enthaltenen - Tragödie „Die Myrmidonen“ auftreten. Hier ist der Rosshahn offenbar ein Wappentier oder eine Galionsfigur an Bord eines Schiffes, möglicherweise ähnlich den eindrucksvollen Wappen, die Aischylos in der Tragödie „Sieben gegen Theben“ ausmalte. In den „Myrmidonen“ geht es darum, dass die vor Troja lagernden Griechen, als sich der Held Achill zürnend aus dem Kampf zurückzieht, in arge Bedrängnis geraten:
„Die Not der Hellenen wird immer größer. Schon sind ihre
Schiffe von den Feinden in Brand gesetzt worden.
'Das braune Tier, halb Roß, halb Hahn, das darauf hockt',
Schmilzt mit dem Fleiß, der's ganz in Farben taucht', dahin.˜“ (2)
(Ludwig Wolde übersetzt, wohl aus metrischen Gründen, in der dritten Zeile sehr redundant. Im griechischen Text steht einfach nur: „xouthos hippalektryon“, also „der braune/gelbe Rosshahn“.)
Spott von Aristophanes
Das exotische Tier, vielleicht von Aischylos sogar mit entsprechendem Prunk auf die Bühne gebracht, auf jeden Fall aber im Vers zum Aufhorchen reizend, muss auf die Zuschauer im Athener Dionysos-Theater ungeheuer einprägsam gewirkt haben. Ein derart absurdes Wesen im ernsten Tragödienfach forderte Spott und Häme geradezu heraus. Der Komödiendichter Aristophanes, der für seine spitze Zunge bekannt war, verspottete das von Aischylos verwandte Bild gleich in drei seiner Komödien. So wird in den „Vögeln“ ein athenischer Reiterführer verspottet, er sei „Nun ein großer Mann geworden, wie ein Roßhahn aufgebläht!“ (3) Ebenfalls ein protziger Offizier wird in der Komödie „Der Frieden“ beschrieben. Der Mann bläht sich mächtig auf mit drei Helmbüschen und einem echten Purpurrock, aber: „Auf der Flucht ist er der erste, einem gelben Roßhahn gleich / Schüttelt er die Büsch˜ - indes ich lauernd steh' am Vogelgarn.“ (4)
Dichterwettstreit in der Unterwelt
Noch nach dessen Tod muss Aristophanes dem Verfasser seinen Hippalektryon vorhalten: In der Komödie „Die Frösche“ lässt er die verstorbenen Dichter Aischylos und Euripides in der Unterwelt gegen einander antreten und darum kämpfen, wer von beiden die besseren Tragödien verfasst hat und ins Leben zurückkehren darf. Und Aristophanes legt dem Preisrichter, dem Theatergott Dionysos, und den beiden Verstorbenen folgende Worte in den Mund:
„Dionysos: Ja, bei Gott mir ist's begegnet,
Daß 'eine lange, lange Nacht ich schlaflos nachgegrübelt',
Zu welcher Vogelspezies man zählt den gelben Roßhahn!
Aischylos: Ein Zeichen war's, du Ignorant, gemalt am Bug des Schiffes!
Dionysos: So, so? Ich hielt ihn für den Sohn Philoxenos', Eryxis!
Euripides: Ist die Tragödie denn der Mist, um Hähne drauf zu setzen?
Aischylos: Was hast denn du nicht alles frech ihr aufgehängt, Verfluchter?
Euripides: Roßhähne nicht, Bockhirsche nicht, wie du getan,
Auf persischen Tapeten wohl und Teppichen zu finden!“ (5)
Verwirrung um ein "Fabeltier"
Interessant ist, dass sich spätere antike Literaturfachleute, zum Beispiel Hesychios und Photios, wohl in Unkenntnis des Aischylos-Dramas, die Köpfe darüber zerbrachen, was der Komödiendichter überhaupt mit diesem „Rosshahn“ gemeint hatte. Sie vermuten, dass das Tier „einem Greifen ähnlich, also, da dieser ein Löwe mit Adlerkopf ist, doch wohl als Pferd mit Hahnenkopf zu denken war“ (6) Andere erklärten, das Wort „hippos“ könne nicht nur „Pferd“, sondern in Zusammensetzungen auch „groß“ bedeuten, es ginge damit also eher um einen pferdegroßen Hahn völlig ohne sonstige Pferdeattribute. (7) Noch in Meyers Konversationslexikon (1905-1909) wird der Hippalektryon definiert als „Fabeltier der Griechen, mit Hahnenkopf und Pferdeleib.“
Vasenbilder und Statuen zeigen den Hippalektryon
Dabei sind die archäologischen Befunde recht eindeutig und zeigen genau, wie ein Hippalektryon aussieht. Anders als in der Literatur scheint in der bildenden Kunst die Produktion von Hippalektryen nach ihrem ersten Auftauchen im 6. vorchristlichen Jahrhundert geradezu explosionsartig angewachsen zu sein. Zwischen 560 und 470 v. Chr. entstanden - fast ausschließlich in Attika - zahlreiche Darstellungen des Tieres. Sie zeigen einen Hahn mit Pferdevorderteil und Kopf, das Wesen hatte zwei Pferde- und zwei Hahnenbeine. Die Menge der gefundenen Bildnisse - Vasenbilder, Statuen und Statuetten, Verzierungen auf einem Fingerring oder kleine Tonfigürchen - zeigt auf jeden Fall, wie beliebt das Motiv damals war. Ob fliegend oder schreitend, meist mit einem hübschen Jüngling auf dem Rücken, war der Hippalektryon Mode in Attika geworden. So gelangte er schließlich auch in die Tragödie und die Komödien.
Das rätselhafte Verschwinden des Rosshahns
Genauso plötzlich, wie er auftauchte, verschwand der geheimnisvolle Rosshahn allerdings auch wieder. Lag es am Überdruss nach der Hahnenpferd-Mode, dass sich das Tier nicht dauerhaft etablieren konnte? Eine Theorie ist, dass „das allzu monströse Mischwesen die hoch gesteigerten ästhetischen Ansprüche des 5. Jhdts. gar zu wenig befriedigte“ (8). Auch könnte das Tier mit einer im 6. Jahrhundert aufgetauchten religiösen Idee aufgekommen und mit deren Untergang wieder verschwunden sein. (9) Als weitere Vermutung wird genannt, dass „das Tier, relativ spät aufgetaucht, in der Mythologie keine Stätte fand“. (10)
Wie auch immer: Der Hippalektryon, das Fabeltier ohne Fabel, verschwand nach einer kurzen und reichen Blütezeit hinter dem Horizont des klassischen Griechenland und überließ den Himmel seinem prominenteren Verwandten Pegasus. Aber vielleicht nimmt sich ja einmal ein neuerer Dichter seiner an?
(1) Johannes Scherf: Hippalektryon. In: Der Neue Pauly. Bd. 5. Stuttgart u. Weimar, 1998. Sp. 566.
(2) Aischylos: Tragödien und Fragmente. Verdeutscht von Ludwig Wolde. Berlin, Darmstadt, Wien, 1960. S. 330.
(3) Aristophanes: Sämtliche Komödien. Übertragen von Ludwig Seeger. Einleitung zur Geschichte und zum Nachleben der griechischen Komödie nebst Übertragungen von Fragmenten der Alten und Mittleren Komödie von Otto Weinreich. Zürich und München, 1987. S. 361.
(4) Ebd. S. 313.
(5) Ebd., S. 556f.
(6) H. Lamer: Hippalektryon. In: Paulys Real-Enzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 8. Stuttgart, 1913. Sp. 1651.
(7) Einen Beleg für diese Verwendung des Wortes „hippos“ bietet der Dichter Lukian in seinen „Wahren Geschichten“: Die hier auftretenden Hippogypen - „Rossgeier“ - sind Männer, die auf großen Geiern reiten - ganz ohne Pferdeanteile.
(8) Lamer: A.a.O. Sp. 1655.
(9) Ebd.
(10) Ebd.
Erstveröffentlichung:
Petra Hartmann: „Hippalektryon - ein Fabeltier ohne Fabel.“ In: Elfenschrift 34, Juni 2012. S. 14-17.
© Petra Hartmann
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