Märchenerzähler: Scheherazade, Sandmann & Co.
Elfenschrift Märchen Erzähler
Über Erzähler-Figuren in bekannten Märchen habe ich vor ein paar Jahren intensiv nachgedacht. Herausgekommen ist dabei ein Aufsatz für die Elfenschrift über das Spannungsverhältnis zwischen Scheherazade und "Es war einmal", über die Brüder Grimm und einige interessante Gegenentwürfe von Hans Christian Andersen und Wilhelm Hauff. Da die Elfenschrift inzwischen nicht mehr erscheint, stelle ich euch hier den Artikel zum (Wieder-)Lesen noch einmal ein. Viel Spaß damit!
Scheherazade, Sandmann & Co.
Oder: Wer erzählt hier eigentlich?
„Es war einmal“, so beginnen die Märchen, die wir von den Brüdern Grimm kennen. Aber wer erzählt hier eigentlich? Im Text ist nicht zu erkennen, ob der Sprecher arm oder reich, Mann oder Frau ist. Im Orient dagegen wusste jedes Kind, wer die farbenprächtigen Geschichten erfunden hat: Die Märchen aus 1001 Nacht geben ihre Entstehungsgeschichte in einer Rahmenhandlung an: Scheherazade, die Heldin dieser Sammlung persischer, arabischer und indischer Abenteuer, erzählt 1001 Nächte lang um ihr Leben. Der Henker wartet, doch jeden Morgen wird er wieder fortgeschickt, denn die kluge Frau weiß stets, Erzählungen im spannendsten Moment abzubrechen und den Sultan auf die nächste Nacht zu vertrösten. Cliffhanger sind keine Erfindung der Neuzeit. Erst nach fast drei Jahren, in denen die Erzählerin nebenher auch drei Kinder gebiert, löst sich die Situation, der Sultan gibt den Hass auf das weibliche Geschlecht auf und macht Scheherazade zur Königin. Die Märchen ließ er aufschreiben. „Vierzig Bände wurden gefüllt und in der Schatzkammer aufgestellt“, hieß es. „Sie hatten goldene Einbände, um zu zeigen, daß sie nur goldene Lehren erhielten.“1
Jacob und Wilhelm Grimm und das Volksmärchen ohne Schöpfer
Sehr anders gehen Jacob und Wilhelm Grimm zu Werke. Geschichten, jahrhundertelang mündlich überliefert, im Volk entstanden ohne Schöpfer, ohne künstlerisch tätigen Autor, so sahen Sammler zur Zeit der Romantik die Märchen. Die Grimms sind auf der Suche nach Erzählern, nicht nach Dichtern. Ihre Quellen - Menschen, die aus dem Gedächtnis erzählen - sind ein Medium, durch das der Geist des Märchens selbst spricht. So wird in der Vorrede einer Bäuerin gedacht: „Sie bewahrte die Sagen fest im Gedächtnis [...]. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig, mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Übung nachschreiben konnte. Wer an leichte Verfälschung der Überlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung und daher an Unmöglichkeit langer Dauer als Regel glaubt, der hätte hören müssen, wie sie immer genau bei der Erzählung blieb und auf ihre Richtigkeit eifrig war; sie änderte niemals bei einer Wiederholung etwas an der Sache ab und besserte ein Versehen, sobald sie es bemerkte, mitten in der Rede gleich selber.“2
Im Märchen selbst taucht diese Frau nicht auf. Die namenlose Stimme spricht, als erzähle das Märchen gleichsam sich selbst. „Es war einmal“, beginnen knapp 30 der 86 Märchen im ersten Band der Sammlung, darunter die Klassiker Der Wolf und die sieben Geißlein, Rapunzel, Rotkäppchen, Schneewittchen und Rumpelstilzchen. Andere fangen schlicht mit „Es war“ an, „Es trug sich zu“, Es geschah“, insgesamt 50 mal lautet das erste Wort „Es“, nicht mitgezählt die hessischen oder plattdeutschen Einstiege: „Dar wöör maal eens en Fischer un syne Frau“3.
Homer gibt es nicht, und der Dichter des Nibelungenlieds ist unbekannt
Nur ganz selten wird ein Gewährsmann genannt wie „mien Grootvader, van den ick se hew,“4 in der Erzählung von Hase und Igel. Doch eine Märchengestalt, eine deutsche Scheherazade, der man alle diese Geschichten in den Mund legen könnte, hätte nicht ins Weltbild einer Zeit gepasst, in der sogar der große Homer als Dichter „abgeschafft“ worden war. 1795 hatte Friedrich August Wolf die These aufgestellt, einen Dichter der Ilias und der Odyssee habe es nie gegeben. Es handele sich um im Volk entstandene Lieder, die später gesammelt und zu Epen zusammengestellt worden seien. Dazu passte gut, dass das deutsche „Nationalepos“, das Nibelungenlied, das Mitte des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, gleichfalls ohne Verfasser überliefert ist. Das Nibelungenlied hebt an mit dem bekannten Satz: "Uns ist in alten mæren wunders vil geseit" - "Uns wird in alten Geschichten viel Erstaunliches berichtet", das ist so recht die anonyme Quelle im Herzen des Volkes, nach der auch die Grimms suchen. So grenzte Jacob Grimm denn auch Volksmärchen von romantischen Kunstmärchen ab: „Beim Volksmärchen handele es sich um "Naturpoesie", die aus einem irrationalen Schöpfungsakt der kollektiven Volksseele, einem "Sichselbstmachen" entstanden sei.“5
Die Geburt des Märchens bei Ludwig Bechstein
Erst spätere Autoren griffen das Thema „Woher kennen wir die Märchen?“ auch in den Texten selbst auf. So berichtet Ludwig Bechstein in „Des Märchens Geburt“ von zwei Königskindern, die in Reichtum und Schönheit aufwachsen - und doch fehlt etwas, etwas Unbeschreibliches, dessen Fehlen sie unglücklich macht. Plötzlich erscheint ein Wundervogel und legt ein goldenes Ei auf den Schoß der Mutter: „Die Schale fiel auseinander, und aus dem Ei kam ein Wesen hervor, wunderbar anzusehen. Es hatte Flügel, und war nicht Vogel, nicht Schmetterling, Biene nicht und nicht Libelle, und doch von allen diesen etwas, aber nicht zu beschreiben; mit einem Wort, es war das buntgeflügelte, farbenschillernde Kinderglück, selbst ein Kind, nämlich das des Wundervogels Phantasie, das Märchen.“6
Hauff berichtet von der Vertreibung des Märchens
Und Wilhelm Hauff schildert im Vorwort zu seinem Märchenalmanach, wie das Märchen von den Menschen fortgejagt wird, bis seine Mutter, die Phantasie, es in einen schönen Almanach einkleidet und zu den Kindern schickt.
Hauff ist es auch, der im Märchenzyklus „Die Karawane“ die orientalische Märchenerzähler-Situation aus 1001 Nacht wieder aufgreift. Darin erzählen sich Kaufleute und ein geheimnisvoller Fremder auf ihrer Reise durch die Wüste Märchen, oft solche, in denen sie selbst die tragende Rolle spielen: „Mein Vater hatte einen kleinen Laden in Balsora“7, beginnt Achmet seine Geschichte und berichtet von seinem Abenteuer mit dem Gespensterschiff. Zaleukos erzählt, wie er seine linke Hand verlor, Lezah trägt ein Stück aus seiner Familiengeschichte bei, und zwar die Errettung seiner Schwester Fatmeh durch seinen Bruder Mustapha. Auch Muley, der die Geschichte vom kleinen Muck darbietet, betont, dass er den Titelhelden selbst gekannt habe, ja mehr noch: „Ich und meine Kameraden waren böse Buben, die jedermann gerne neckten und belachten, daher war es uns allemal ein Festtag, wenn der kleine Muck ausging [...].“8
Hans Christian Andersen: Ein Gegenentwurf zu den Brüdern Grimm
Am konsequentesten aber hat sich Hans Christian Andersen aus dem Schatten der Grimms gelöst. „Grimm und Andersen, sagt man. Ohne einen von den beiden herabsetzen zu wollen, müßte es heißen: Grimm, aber Andersen“9, merkt Erling Nielsen an.
Andersen brennt ein wahres Feuerwerk an Erzählfiktionen ab. Zwitschernde Vögel, noch ganz romantischer Volkslied-Tonfall, hätten ihm das Märchen von Däumelinchen zugetragen, heißt es augenzwinkernd. Und ein Grashüpfer, der das Springen um die Hand der Prinzessin verlor, singt ein Lied, aus dem es der Autor erfahren haben will.
Seine liebevollste, detailreich ausgestalteteste Erzählerfigur ist der Sandmann, der eine Woche lang dem kleinen Friedrich Märchen erzählt und ihn zu Abenteuern mitnimmt. „Es gibt niemanden in der ganzen Welt, der so viele Geschichten weiß wie der Sandmann!“10, heißt es. „Wenn die Kinder nun schlafen, setzt sich der Sandmann auf ihr Bett. Er ist gut gekleidet; sein Rock ist von Seidenzeug, aber es ist unmöglich zu sagen, von welcher Farbe, denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er sich wendet. Unter jedem Arm hält er einen Regenschirm.“ Nur der alte Großvater liebt den Sandmann nicht sonderlich. Er fordert, dass der Junge etwas Vernünftiges lernt.
Da ist Fliedermütterchen, eine Baumnymphe, die einer Kanne Fliedertee entsteigt und dem kranken Jungen ein Märchen erzählt. Da ist der eitle Halskragen, der zu Papier verarbeitet wird, auf dem dann seine Lebensgeschichte erscheint. In „Der Flaschenhals“ belauscht der Erzähler gar das stumme Selbstgespräch eines verkorkten Flaschenbruchstücks. Man merkt Andersen seinen Übermut und den Spaß am Erfinden immer abstruserer Quellen und Augenzeugen seiner Märchen an.
Richtig keck wird er schließlich im Märchen von Tölpel-Hans: „Aber weißt du auch, daß jedes Wort, das wir sprechen, niedergeschrieben wird und morgen in die Zeitung kommt?“, fragt die Prinzessin. „An jedem Fenster, siehst du, stehen drei Schreiber und ein alter Oberschreiber, und dieser alte Oberschreiber ist der Schlimmste, denn er kann gar nichts begreifen!“11 Und so erfährt es auch der Erzähler: „und das haben wir ganz naß aus der Zeitung des Oberschreibers - und auf die ist zu bauen.“12 Ein Ende, das bei den Grimms undenkbar gewesen wäre.
1 Märchen aus 1001 Nacht. Nach Paul Benndorf bearbeitet von Wilhelm Mennerich. Bindlach, 1963. S. 11.
2 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Jubiläumsausgabe zum 200. Geburtstag der Brüder Grimm. Stuttgart, 1985/86. Bd. 1, S. 19f.
3 Ebd. Bd. 1, S. 119.
4 Ebd. Bd. 2, S. 376.
5 Meinhard Prill: Kinder- und Hausmärchen. In: Kindlers Neues Literaturlexikon. Bd. 6, München, 1989. S. 914.
6 Die schönsten Märchen von den Brüdern Grimm, Ludwig Bechstein, Richard Leander, Hans Christian Andersen, Wilhelm Hauff. München, 1984. S. 12.
7 Wilhelm Hauff: Werke in zwei Bänden. Berlin und Weimar, 1979. Bd. 2., S. 30.
8 Ebd. S. 79.
9 Erling Nielsen: Hans Christian Andersen mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg, 1958. S. 135.
10 Hans Christian Andersen: Märchen. Berlin, 1938. S. 94.
11 Ebd. S. 85.
12 Ebd. S. 86.
Erstveröffentlichung:
Scheherazade, Sandmann & Co. Oder: Wer erzählt hier eigentlich? In: Elfenschrift. 22, Juni 2009, S. 6-8.
© Petra Hartmann
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