Geisterstunde auf Helgoland
Elfenschrift Helgoland Geister
Der November ist die Zeit der Stürme und auch die Zeit, in der ich mich meist auf meiner Lieblingsinsel Helgoland herumtreibe. Der folgende Artikel für die "Elfenschrift" entstand vor eingen Jahren in einem Internetcafé auf dem roten Felsen, weil ich es einfach nicht geschafft hatte, meinen Beitrag zum Geister-Themenheft rechtzeitig vor Urlaubsantritt zu verfassen. Hier also die Zweitveröffentlichung in stürmischer Zeit. Viel Spaß beim (Wieder)Lesen!
Geisterstunde auf Helgoland
Da sitze ich in meinem kleinen Ferienzimmer auf dem Oberland der Insel Helgoland, draußen heult der Sturm um den roten Felsen, und der Vollmond wandert langsam auf Mitternacht zu. Die Fähre zurück zum Festland wird wegen des Orkans wohl ausfallen, prophezeit meine Wirtin. Ich sitze hier fest, einer der letzten Touristen, und nur ein paar alte Sagenbücher werden mir diese Nacht Gesellschaft leisten. Novembersturm, Schatten und Spukgeschichten. Und eine Kerze, die langsam herunterbrennt.
"Welcher andere Quadratkilometer Deutschlands könnte sich so vieler Sagen und Legenden wie Helgoland rühmen?", fragt sich die Sagensammlerin Gundula Hubrich-Messow1. Und beginnt, mir "von Vorspuk und Spuk, von Frevel und Sühne, von Toten und Gespenstern, von Hexen und vom Teufel, von Wassergeistern und Kobolden, von Seeräubern und Mönchen, von Glocken und Schätzen" zu erzählen. So sollen einst auf dem "Steanacker" - so heißt heute noch die Straße direkt neben meiner derzeitigen Unterkunft - in einem verschlossenen und leerstehenden Haus Poltergeister ihr Unwesen getrieben haben. Lärm, Fußtritte und Klopfen, konnte die neugierige Menge hören, die sich zum Lauschen allabendlich vor dem Haus einfand. Das alles hatte begonnen, als man für kurze Zeit die Leiche eines ertrunkenen Badegastes in dem Haus abgelegt hatte2.
Wo Maricke Peters' Geist spukt
Neben der alten Predigerwohnung am Hartbrunnen sei oft bei Nacht "eine graue schattenhafte Gestalt mit schweren schlürfenden Schritten seufzend und stöhnend über den [...] Hingstplatz gegangen, und man hörte sie dann etwas Schweres hinunterwerfen", berichtet Hubrich-Messow3. Sie vermutet, dass es sich um den Geist von Maricke Peters gehandelt hat. Die Frau hatte seinerzeit eine Nachbarin mit einer Mistgabel erstochen und war 1719 auf dem Hingstgars enthauptet worden. Auch von einer in weiße Tücher gehüllten Frau wird berichtet, die man fast in jedem Winter die Straße entlanggehen sah. Kinder sollen große Angst vor ihr gehabt haben. Vielleicht genau so große Angst wie vor dem Kliffmann, der unter der Klippe hauste. Es scheint sich um einen Verwandten des Schwarzen Mannes gehandelt zu haben. Ob Helgoländer Kinder das damals auch riefen? "Wer hat Angst vorm Kliffmann? - Niemand!"
Helgoland und der Aberglaube
"Die Helgolander stecken voll Aberglauben und ich begreife diese Richtung auf das dunkle Reich der Geister", notiert Ludolf Wienbarg 1838 in seinem "Tagebuch von Helgoland"4. "Der nordische Gespensterglaube hätte sich keinen geeigneteren Sitz wählen können. Ein langer Aufenthalt auf diesem Felsen möchte für Manchen ansteckend sein. Die Leute sind hier, namentlich im Winter, mit sich und dem Tode allein. Die Mährchen voriger Jahrhunderte, diese schauerlichen verwesungsduftigen Mährchen unserer Urgroßmütter, welche das neue Jahrhundert immer mehr zerstreut, haben sich auf den Klippen und Inseln der Nordsee erhalten."
Der Geist des Offiziers
1837, nur ein Jahr vor dem Erscheinen des „Tagebuchs“, hatte der Geist eines fremden Offiziers auf Helgoland von sich reden machen. Der Mann sei "schwach und elend" gewesen und suchte im Seebad Helgoland nach Heilung, so berichtete man es Wienbarg, er habe in Hamburg das Dampfboot bestiegen, musste jedoch wegen Unwohlseins das Schiff wieder verlassen und in sein Hotel zurückkehren, sodass nur sein Koffer die Fahrt zur Insel antrat. Das herrenlose Gepäck wurde nach der Ankunft vorläufig im Speicher eines der Badedirektoren eingelagert. Für den Direktor gab es darauf eine gruselige Begegnung: "Diesen führte irgend ein Geschäft nach seinem Speicher; er schloß auf und erblickte [...] auf dem eingebrachten Koffer eine Person in sitzender übergekreuzter Stellung, mit verzogen schmerzlichen Gesichtszügen, dem Anschein nach Militair. Sie war stumm und unbeweglich und schien über dem Koffer Wache zu halten."5 Das nächste Schiff brachte die Nachricht vom Tode des verhinderten Badegastes. "Der Offizier hatte sich wahrscheinlich sehr lebhaft mit seinen nach Helgoland vorangegangenen Sachen beschäftigt und sein Geist hatte denselben bis in den Speicher des Unterlandes nachgespürt", schlussfolgert Wienbarg.6
Spuken nach und vor dem Tode
Auch soll es noch kurz vor Wienbargs Helgolandfahrt einen Jungen auf der Insel gegeben haben, der vorhersagen konnte, ob jemand auf See umkam: "Er bekam ein Gesicht, worin sich die Schreckensscene mit allen Umständen darstellte."7 Ein anderer Helgoländer soll den Tod eines Mannes vorausgesagt haben. Woher er das gewusst habe? "Er hatte einen Totenschleier um."8 Von einem Mädchen wird erzählt, es hätte einen üblen Traum gehabt: Drei Finger hätte es sich bei der Hausarbeit versehentlich abgeschnitten. Kurz darauf, am 5. Dezember 1817, stachen drei ihrer Brüder in See und verunglückten tödlich.9
"Auch stirbt man nicht leicht auf Helgoland, ohne vorgängig als Gespenst umherzuwandern", erfuhr auch Wienbarg. "Seit einigen Abenden zeigt sich ein Schatten im Unterlande; er ist Mehren verbeigeschritten, die Treppe auf und nieder; noch hat man ihn nicht erkannt, man weiß nicht ob er Fremder oder Helgolander ist, seine Figur ist groß, sein Gang schleppend und unsicher."10 Er merkt an: "Einige sehen nichts, alle sind gläubig."
Die Heilige Ursula und die elftausend Jungfrauen
Überhaupt, der Glaube. Fast alle, die die Insulaner bekehren wollten, fanden heftigen Widerstand. So soll die Heilige Ursula mit ihren elftausend Jungfrauen sehr ungastlich aufgenommen worden sein. "Aber zur Strafe verwünschten die Jungfrauen alles auf der Insel, außer die Menschen", weiß Ludwig Bechstein zu erzählen. "Da verwandelten sich alle Geräte in Stein. Ein Prediger hat davon lange ein Endchen Wachslicht in Verwahrung behalten, das ganz zu Stein geworden."11 Zu Stein geworden sein soll auch ein Lutheranischer Mönch, der die Helgoländer von der Reformation überzeugen wollte: "Die Einwohner stürzten ihn vom Felsen herab ins Meer. Da wuchs ein steinern Gebilde aus der Tiefe, ganz wie ein Mönch gestaltet, und auf der Klippe ging der Geist des Bekehrers um und predigte mit einer Donnerstimme, solange, bis sich die Leute dennoch zur neuen Lehre bekehrten, dann hatte der Geist Ruhe, aber der steinerne Mönch blieb als ein sonderbares Wahrzeichen stehen."12
Wo der Teufel auf Stelzen geht
Nur den Satan braucht man auf Helgoland wohl nicht zu fürchten. Jedenfalls behauptete der Apostel Ludger, er habe den Höllenfürsten von der Insel vertrieben. Bechstein schildert dies so: "Ludger schiffte [...] auf die Insel zu, und sang den sechzigsten Psalm. Da ward ein Rauch erblickt, der von der Insel aufstieg und hoch sich über sie ausbreitete und alsdann verschwand. Da sprach Ludger: Wisset, meine Brüder, daß dieser Dampf Satan selbst war, den nun der Herr von diesem Insellande vertrieben."13 Seither kannte man den Gehörnten offenbar nur noch von einem Gemälde in der alten Kirche: „Wo geht der Teufel auf Stelzen?“ fragt man bei uns zu Lande: Antwort: auf Helgoland. Da ist nämlich in der Kirche die Versuchung Christi abgemalt und der böse Feind dabei in jener Positur dargestellt, was ihm ein ganz sonderbarliches Aussehen gibt.“14
Der Vollmond ist weitergewandert, von der Nikolaikirche schlägt es ein Uhr. Die Geisterstunde ist beendet, auch wenn der Sturm noch immer heult. Vielleicht fährt morgen doch die Fähre wieder. Wenn mich heute Nacht der Kliffmann und der Geist von Maricke Peters heimsuchen, will ich den 60. Psalm bereithalten: "Mit Gott tun wir Heldentaten, und er wird niedertreten unsere Dränger."15 So lange ich nicht das 6. und 7. Buch Mose aufstöbere, von dem es auf Helgoland heißt, man könne damit Diebe und Bösewichte "stehen lassen"16, muss das als Schutz gegen böse Geister ausreichen.
1 Gundula Hubrich-Messow (Hrsg.): Sagen und Legenden von der Insel Helgoland. Husum, 5. Aufl. 2009. S. 5.
2 Ebd. S. 15.
3 Ebd. S. 11.
4 Ludolf Wienbarg: Tagebuch von Helgoland. Hamburg, 1838. S. 68 f.
5 Ebd. S. 70.
6 Ebd. S. 71.
7 Ebd.
8 Hubrich-Messow: A. a. O., S. 8.
9 ebd. S. 8f.
10 Wienbarg: A. a. O., S. 72.
11 Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig, 1930. S. 134.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 Hubrich-Messow: A. a. O., S. 29.
15 Psalm 60, 14. Übersetzung nach Zunz. Tel Aviv, 1993. S. 110.
16 Hubrich-Messow: a. a. O., S. 10.
Erstveröffentlichung:
Petra Hartmann: Geisterstunde auf Helgoland. In: Elfenschrift. 36. Dezember 2012, S. 16-18.
© Petra Hartmann
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