Sappho: Lieder (Reclam)
Klassiker Lyrik Sappho Griechenland
Lieder für Aphrodite, Brautpaare und die Tochter Kleis
Detailreich und liebevoll besingt Sappho ihre Welt. Ob es um die bunte Haube geht, die sie ihrer Tochter Kleis nicht kaufen kann oder um gute Reisewünsche für ihren Bruder, ob es Hinweise für das Tragen von Blumenkränzen und edler Kleidung sind oder persönliche Zeilen für die jungen Frauen ihres Kreises, stets gewinnt sie die Poesie aus der sehr konkreten, beinahe schlichten Anschauung ihres Gegenstandes, da ist nichts Gesuchtes oder Gekünsteltes in ihren Versen. Sappho besingt die Schönheit der Mädchen und ihres Putzes, gestaltet Feste zu Ehren der Götter, vor allem der Liebesgöttin Aphrodite, und trägt ihre Lieder bei den Hochzeitsfeiern ihrer Mädchen vor. Dazu gehören die würdevolle Anrede an Braut und Bräutigam, die Lobpreisungen des Brautpaars, Gebete und Festjubel, auch schon einmal eine Bemerkung darüber, dass die betreffende Frau doch recht spät in den Ehestand tritt, wie ein Apfel, der schon lange reif ist, aber von den Pflückern noch nicht vom Baum geholt wurde - nicht etwa, weil er vergessen worden war, nein, er hing so hoch, man konnte ihn nicht erreichen. Da sind Spottverse über den Türwart, der darauf aufpasst, dass das junge Paar in der Hochzeitsnacht nicht gestört wird, da sind wehmütige Verse über die verschwindende Jungfernschaft, die nie wieder zurückkehren wird. Und immer wieder auch der Abschiedsschmerz, denn nun heißt es, dass die frisch verheiratete Frau ihre Jugendfreundinnen und den Sappho-Kreis verlässt und womöglich weit fortzieht.
Zorn und Hass in Sapphos Liedern
Sappho kann hassen und sehr böse über ihre Gegner und vor allem Gegnerinnen herziehen. Andere Frauen etwa, die ihr die Mädchen ihres Kreises abspenstig machen, werden hart angegriffen und niedergemacht, teils, weil sie weniger elegant auftreten als Sappho, teils auch, weil sie keinen Anteil am Geschenk der Musen haben, sprich: sich in Dichtung und Gesang nicht mit Sappho messen können. Der Tyrann Pittakos, der Sapphos Familie in die Verbannung schickte, wird angegangen. Aber auch die Hetäre Doricha wird heftig angegriffen, und Sappho ruft ihre Schutzgöttin Aphrodite zur Rache an Doricha auf, die Sapphos Bruder verführt und ihn offenbar hemmungslos ausgenommen hat.
Umfangreiche Sappho-Ausgabe mit starkem Kommentarteil
Zunächst zu den Stärken des Bandes: Die Sammlung der Sappho-Fragmente ist allein schon aufgrund ihres Umfangs ausgesprochen wertvoll. Ein großes Lob verdient auch der Anhang, der etwa die Hälfte des 448 Seiten starken Buches ausmacht. Jedes einzelne Gedicht wird hier ausführlich und sachkundig kommentiert und eingeordnet. Da die Fragmentnummern mit den klassischen Sammlungen von Diehl und West abgeglichen wurden, ist auch der Vergleich mit den älteren Standardausgaben möglich. Ein Nachwort, Hinweise zum Metrum und eine Literaturliste runden das Werk ab.
Misslungene Übersetzung: Anton Bierl möchte "modern" wirken
Nun zu den Schwächen des Buches: Die Übersetzung ist einfach nur ein Ärgernis. Anton Bierl mag ein anständiger Philologe sein, aber sein deutsches Ausdrucksvermögen ist einer literarischen Übersetzung leider nicht gewachsen. In dem Bestreben "modern" zu wirken, benutzt er immer wieder Ausdrücke, die aus der Jugendsprache der 70er Jahre entnommen zu sein scheinen. Ein Mann ist ein "Typ", ein junges Mädchen wird als "sexy" bezeichnet, eine homosexuelle Frau wird in seiner Übersetzung "eine, die auf Mädchen abfährt". Eine junge Frau wird gelobt, sie sei einer "prominenten Göttin" ähnlich.
Eine Landpomeranze im Fummel
Als gelungen muss die Übersetzung des Wortes "agroiotis" im Fragment 57 mit "Landpomeranze" hervorgehoben werden. Hier boten ältere Übersetzer meist so etwas wie "bäuerische Magd" für die geschmähte Rivalin Sapphos. Wenn aber Bierl gleich in der übernächsten Zeile schreibt, diese "Landpomeranze" sei nicht in der Lage "ihren langen Fummel" bis über die Knöchel hochzuziehen, dreht sich dem Leser schier der Magen um. Sappho, die das mindere Niveau ihrer Kontrahentin anprangert, soll dies im schrillen Soziolekt der Fummeltrienen oder des Zille-Milieus getan haben? Ein eklatanter Stilbruch. Im griechischen Text steht "brake", was ein Frauengewand bezeichnet. Robe, Stola, Gewand, Kleid, alles das wäre angemessener gewesen. Aber ein "Fummel"?
Auch sonst ist das Vokabular teilweise befremdlich. "... zwei Gedankenoptionen habe ich", lässt Bierl Sappho sagen. Gedankenwas? Ist das eine Lyrik-Übersetzung oder ein Hegelkommentar?
Was hat ein Wort wie "Ekeldrangsal" in der Aphrodite-Ode zu suchen? Derartig bombastische Wortungetüme sind Sappho fremd, ihre Sprache ist immer schlicht und stilvoll, da ist nichts Gesuchtes und zu Ungeheuerlichkeiten Zusammengeschraubtes zu finden. Nicht einmal die Ausrede, der Übersetzer habe ein längeres Wort wählen müssen, um das Metrum zu wahren, verfängt hier. Denn diese Übersetzung ist eine Prosa-Übersetzung.
Lyrik in Prosa-Übersetzung
Schlimm, aber dem Zeitgeist geschuldet, ist, dass der Verlag Reclam schon seit Jahren auf die Wiedergabe des Metrums bei Übersetzungen verzichtet. Dies mag bei einem epischen Text gerade noch angehen - aber bei Lyrik? Metrum ist Inhalt, Form ist Botschaft in einem Gedicht. Wer nur eine Wiedergabe des platten Wortinhalts bietet, hat das "Eigentliche" eines Verses nicht verstanden und unterschlägt wichtige Aussagen. Ein Großteil der weltweit verfassten Gedichte lässt sich dem reinen Textinhalt nach auf Stichworte wie Mann, Frau, Liebe, Blumen, Wetter usw. reduzieren. Erst die Form macht das Gedicht zu etwas Lesenswertem. Hier wurde Sappho getötet und eingeebnet. Tragisch.
Dass Bierl auch im deutschen Kommentar nicht allzu sensibel auf seine Sprache achtet, sei hier der Vollständigkeit halber noch vermerkt. Die Konsequenz, mit der er Sapphos Liedvorträge bei Hochzeiten und Kultfesten oder auch im privaten Kreis ihrer Mädchen als "Performance" bezeichnet, tut einfach weh. Dieses Eventmanager-Denglisch hat die große zehnte Muse der Antike wahrhaftig nicht verdient.
Fazit: Lobenswerte und unverzichtbare Textausgabe, sehr umfangreich und mit den neuen Fundstücken die aktuellste und vollständigste Sappho-Ausgabe auf dem Markt. Ordentlicher und informationsreicher Kommentarteil. Furchtbare, möchtegern-moderne Übersetzung in unangemessener Sprache, absolut ungenießbar.
Sappho: Lieder. Griechisch / Deutsch. Hrsg. und übersetzt sowie mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Anton Bierl. Ditzingen: Philipp Reclam jun., 2021. 448 S., Euro 14,50.
© Petra Hartmann