Jahresrückblick Teil I: Januar bis März 2022
Jahresrückblick
Das Jahr neigt sich dem Ende zu, Zeit also für einen Blick zurück. Ich möchte euch einladen, mit mir meine Lesefrüchte zu sichten und die eine oder andere Entdeckung mit mir zu teilen.
Zuvor noch ein paar Worte über meine persönliche Situation. Ich lebe, habe noch immer keine Corona-Infektion gehabt, bin nur ein Jahr älter geworden und noch unsportlicher als im Jahr zuvor. Und ich bin immer noch bei der schönsten Zeitung der Welt beschäftigt.
Veröffentlicht habe ich dieses Jahr - außer haufenweise Artikeln für die Goslarsche Zeitung - nur eine Kurzgeschichte aus Movenna, nämlich "Die Blaubeerbrücke" in der Anthologie "Met-Magie" und ein paar Gedanken darüber, dass man Gott unbedingt neu erfinden muss im Magazin für Gemeindereferenten.
Geschrieben habe ich ein Kinderbuch über eine dreibeinige Straßenhündin (Arbeitstitel: "Bertha sucht das Sonnenpferd") und ein paar skurrile Kurzgeschichten aus fremden Weltraumwelten, dazu vielleicht mehr im nächsten oder übernächsten Jahr. Außerdem habe ich die Schreibwerkstatt der Goslarer Wortwerkerin besucht und dort einen Spontantext verfasst.
Was ich für das nächste Jahr schon ankündigen kann, ist mein Indianerroman "Das Herz des Donnervogels", der voraussichtlich im Mai 2023 im Blitz-Verlag erscheinen wird.
Schön war, dass ich wieder auf Cons und Veranstaltungen lesen konnte. Noch arg durch Corona-Ausfälle gebeutelt war das Helgoländer Lesefestival in der Woche nach Ostern. Sehr viel Spaß hat mir die Lesung auf dem Conventus Leonis in Braunschweig gemacht. Ich habe im Rhüdener Freibad, auf dem Marburg-Con und dem - ebenfalls heftig von Corona heimgesuchten - Buchmesse-Con gelesen.
Sehr traurig bin ich, dass ich aufgrund der Seuche gleich zwei lieb gewordene Veranstaltungsorte verloren habe. Corona, die Lockdowns und die auch später ausbleibenden Kulturfreunde haben dafür gesorgt, dass sowohl der "Trollmönch" als auch die Nürnberger Galerie im Weinlager in diesem Jahr geschlossen wurden. Da freut es mich, dass ich im Sommer die Kamikaze-Aktion mit dem Neun-Euro-Ticket gewagt und die Galerie im Weinlager nochmal gesehen habe.
Doch nun zum Lese-Rückblick auf das Jahr 2022. Das erste Quartal ist noch recht überschaubar. Es sind ein paar moderne Klassiker dabei, Comics, etwas Phantastik, etwas über amerikanische Ureinwohner, Goslar-Bücher und relativ viele Hörbücher. Viel Vergnügen damit!
Hinweis:
Etwaige blau markierte Texte sind herausragende Spitzenbücher, rot steht für absoluten Mist, ein (e) hinter dem Titel bedeutet, dass ich den betreffenden Text in der eBook-Version gelesen habe, und hinter den Links verbergen sich ausführlichere Besprechungen innerhalb dieses Blogs.
Januar
Antje Babendererde: Wie die Sonne in der Nacht
Walhalla. Die gesammelte Saga. Band 4
- Die Gaben der Götter
- Das Mysterium des Dichtermets
- Durch Feuer und Wasser
Friedrich Dürrenmatt: Grieche sucht Griechin
Humorvoller Roman (Achtung: Kein Schenkelklopfer), den ich mir wegen des Namens der Hauptperson zugelegt habe. Der griechische Lyriker, genauer gesagt: Jambograph, Archilochos ist ja einer meiner Lieblingsdichter. Hat aber damit nicht viel zu tun, wie sich herausstellte. Arnolph Archilochos ist Schweizer, hält sich aber viel zugute auf seine griechische Abstammung, auch wenn seine Vorfahren bereits zur Zeit Karls des Kühnen ins Land gekommen waren. Er ist beschäftigt als "Unterbuchhalter eines Unterbuchhalters" in einer Riesenfirma aus der Rüstungsindustrie, die aber auch eine Geburtszangen-Abteilung hat, in der Archilochos arbeitet. Der Mann ist nicht gerade mit weltlichen Gütern gesegnet und insgesamt ziemlich unscheinbar. Aber er beschließt, jetzt endlich zu heiraten. Beim Herumformulieren an einer Kontaktanzeige meint seine Wirtin energisch, er solle auf keinen Fall nach einer Jungfrau suchen, einer in der Ehe müsse mindestens Bescheid wissen. Aber Archilochos weiß ohnehin schon, was er schreiben will. Die Anzeige lautet daher kurz und feurig: "Grieche sucht Griechin".
Als sich daraufhin die schöne Chloé Saloniki meldet, kann Archilochos sein Glück gar nicht fassen. Sie ist bereit, ihn zu heiraten. Mehr noch: Seit er ihr Ehemann in spe ist, geht es mit seiner Karriere rasant bergauf. Es grüßen ihn Leute, die er bisher nur aus der Ferne angebetet hat: der Chef seines Rüstungs-und-Geburtszangenbetriebs, der Bischof der altneupresbyterianischen Kirche, der Archilochos angehört, und so weiter. Der Mann ist geradezu berauscht davon, wie ihm fast alle bedeutenden Männer der Stadt grüßen und seiner Karriere beförderlich sind. Warum, das kann der naive und vollkommen uninformierte Mensch allerdings nicht ahnen. Es stellt sich heraus, dass Chloé Saloniki die größte Edelprostituierte der Stadt ist und mit allen diesen Männern schon intim war.
Und nun? Wie wird Archilochos mit der Sache umgehen? Wird er sie verlassen oder die angenehme Lage und den neuen Wohlstand genießen? Dürrenmatt schrieb für seinen Roman zwei Enden. Das eine zeigt Archilochos als wütenden Kriegsgott und Bombenwerfer, wie er die Familie seines Bruders, die sich auf seine Kosten durchs Leben schmarotzt, niedermacht. Und das "Ende für Leihbibliotheken" bietet ein herrlich-kitschiges Happy End. Insgesamt sehr nett, ziemlich skurril, manchmal grotesk. Sehr schön.
Februar
Umberto Eco: Der Name der Rose
Das Buch steht schon seit langem auf meiner To-do-Liste. Jetzt also habe ich es geschafft. Ich muss gestehen, ich war überrascht, dass ein solches Buch es auf die Bestsellerlisten geschafft hat. Immerhin bietet es nicht gerade leichte Kost, sehr viel Geschichtsreferat und theologische Grundsatzdiskussionen, eine Menge lateinische Zitate ... Nicht, dass es schlecht ist, aber ich hätte nicht gedacht, dass so etwas massentauglich ist. Sherlock Holmes und Doktor Watson ermitteln in einem frühneuzeitlichen Kloster. Holmes heißt hier Baskerville, konsumiert aber gleichwohl ebenfalls Drogen und verblüfft mit kühnen Schlussfolgerungen, legt auch eine gewisse Arroganz an den Tag wie sein Kollege aus der Bakerstreet. Watson heißt hier Adson und schaut mit Staunen und Bewunderung zu ihm auf. Das Ganze gut komponiert, und die Geschichte gewinnt nicht nur durch den historischen Hintergrund, sondern auch durch den abgeschlossenen Kosmos, in dem sie spielt. Ach, Mensch, die verschwundene Hälfte der "Poetik" hätte ich auch gern gelesen. EIn gutes, aber auch sehr forderndes Buch. Der Erfolg sei ihm gegönnt.
Katja Brandis: Khyona. Im Bann des Silberfalken
Carl Ludwig Reuss: Carl & Anna: Eine Harzer Forst- und Familiengeschichte. Autobiografie von Carl Reuss und Anna Reuss.
Ich habe das Buch mit der Autobiografie des ehemaligen Goslarer Stadtförsters in der Goslarschen Zeitung vorgestellt. Der Artikel ist hier zu finden.
Hörspiel
Maja Nielsen: Abenteuer! Julius Caesar. Feldherr und Staatsmann im alten Rom
Ein lehrreiches Stück, nicht ganz schlecht. Aber die Rahmenhandlung hat mich etwas enttäuscht. Es ist halt ein Erzählstück: Bei Caesars Begräbnis trifft ein junger Soldat auf einen alten Soldaten, der Caesar von Anfang an begleitet hat, und bittet ihn, ihm etwas über den Feldherrn zu erzählen. Beide setzen sich an einem Lagerfeuer nieder, und der alte Soldat erzählt eben ...
Ich frage mich auch immer, wie es zu dieser Verherrlichung des Mannes kam. Er war der Mann, der die römische Republik zerstörte und sich zum Tyrannen aufschwang. Kein Grund, ihn zu feiern. Wollte es nur mal gesagt haben.
März
Claudi Feldhaus: Zimazans
Eine mögliche Zukunft? Der Mensch hat sich weiterentwickelt zum "homo pennatus", zum geflügelten Menschen. Riesenhafte Menschen mit Flügeln beherrschen die Welt. Der homo sapiens ist allerdings nicht ausgestorben. Die weiterhin existierenden Sapiens fristen entweder ein Dasein als Sklaven in den Metropolen der Pennati, oder sie leben in der Wildnis als Jäger und Sammler auf der untersten Kulturstufe, immer in Angst, von den Flügelwesen als Jagdbeute getötet oder versklavt zu werden. Aber dann vergewaltigt ein Pennatus eine Sapiens-Frau. Deren Tochter entwickelt ungewöhnliche Körperkraft und nicht minder hohe Geistesgaben. Ein Kampf um die Freiheit der Sapiens beginnt. Allerdings: Der junge Erbe der Pennatus-Herrschaft und die Anführerin der Aufständischen lieben einander ... Eine spannende Geschichte und eine interessante Zukunftsvision. Und zum Zugreifen hat mich vor allem das zauberhafte Titelbild animiert.
Günter Abramowski: Die Umarmung
Ich hatte hier im Blog ja schon einige Gedichtbände des Lyrikers Günter Abramowski vorgestellt. Dieses Buch hier ist etwas anderes. Es handelt sich um sein Erstlingswerk, erschienen 1994. Ein Buch, das keine Gedichte enthält, sondern in einer Art lyrischen Prosa verfasst ist. Kurzgeschichten mag ich die fünf enthaltenen Texte nicht nennen, eher sind es Klanggebilde, zum Teil Traumbilder oder Handlungen vor surrealem Hintergrund. Der Autor selbst nennt die fünf Beiträge im Untertitel "Innenraumfiktionen". So erzählt die titelgebende Geschichte von einem Mann, der im Krankenhaus erwacht und sich in den Garten begibt und dort den Gärtner - ja, was genau eigentlich? Umschreibungen wie "Der Schürfverwundete geht unter", "Diese Kraft reverberiert den Gärtner zum Patienten" oder "Des Patienten Leben zerplatzt wie eine Seifenblase" lassen auf eine körperliche Auseinandersetzung schließen. Da ist es nur folgerichtig, dass am Ende zwei "sportive Pfleger" hinter seinem Rücken die Jacke verschnüren ...
Andere Geschichten erzählen von skurrilen, in sich kreisenden Personen, seltsamen Reisegruppen, Traumreisen oder Wirklichkeiten, die aus einem leicht verzerrten Winkel betrachtet werden. Vor allem aber ist dieses Buch ein Spiel mit Worten und Sprache, das durch überraschende Wort-Erfindungen immer wieder aufhorchen lässt.
Insgesamt eine Sammlung, für die man viel Ruhe und ein offenes Auge braucht. Auch eine zweite Lektüre tut den Texten wohl.
Urs Allemann: Carruthers-Variationen
Urs Allemann ist gebürtiger Schweizer und Wahl-Goslarer, daher landete sein Buch auf meinem Schreibtisch bei der Goslarschen Zeitung. Meine Rezension dazu ist hier zu finden.
DC: Shazam-Anthologie
Klassische Geschichten um Captain Marvel und seine Familie. Die Geschichte vom bettelarmen Zeitungsjungen und der magischen U.Bahn. Die Halle der sieben Todsünden. Der alte, weise Zauberer Shazam. Hach, ja, eben magisch. Schade, dass die Origin-Story von Captain Marvel junior nicht drin ist, aber immerhin ist die Geschichte drin, wie Billy seine unbekannte Schwester Mary findet. Und die vier Captains. Und Uncle Marvel natürlich. Die Freundschaft und ständige Rivalität mit Superman. Das Zusammentreffen der Marvels mit der Superman-Familie. Die Geschichte von Captain Thunder. Black Adam. Und das epische Werk "The Power of Hope", das ich auch als überformatiges Album besitze. Alles in allem eine schöne Sammlung.
Anna Müller-Tannewitz: Avija, das Mädchen aus Grönland
Geschichte einer jungen Inuit, damals noch Eskimo genannt, die gern "Benze" werden möchte. Benze ist das Inuit-Wort für Krankenschwester. Wieder eine schöne Vokabel gelernt. Als ihr Vater verletzt wird, pflegt sie ihn und ist dabei so geschickt, dass der dänische Arzt ihr Talent erkennt und ihr die Möglichkeit einer Ausbildung eröffnet. Avija träumt davon, in Kopenhagen zu lernen und dort so etwas wie Bäume zu sehen, die sie nur von Fotos kennt. Aber dann kommt alles ganz anders, und sie soll in einem grönländischen Krankenhaus ausgebildet werden.
Ein sehr liebenswürdiges Kinderbuch von einer der Urmütter der Indianerliteratur, das auch viel vom Alltag der Inuit zeigt. 1971 erschienen und daher ein wenig angestaubt, aber nett zu lesen.
Walhalla. Die gesammelte Saga. Band 5
- Die Ballade von Balder
- Die Mauer
- Völvas Visionen
Hörspiel/Hörbuch
Berit Hempel: Abenteuer & Wissen: Nelson Mandela - Ein Leben für die Freiheit
Gut gemachtes Hörspiel über die Lebensgeschichte eines beeindruckenden Mannes. Ich habe eine Menge gelernt daraus.
Ute Welteroth: Abenteuer und Wissen: Wolfgang Amadeus Mozart - Wunderkind und Musikrebell
Ordentlich gemacht, bietet aber keine größeren Überraschungen. Vielleicht, weil ich einfach schon zu viele Mozart-Hörspiele gehört habe. Arbeitet eben die Pflicht-Stationen ab.
Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch
Die Geschichte spielt im Juni 1945, und jeder, der das Datum liest, weiß natürlich, dass der Krieg damals schon seit einem Monat beendet war. Nur der Junge Jakob weiß das nicht. Jakob ist Jude, genauer gesagt: Halbjude. Durch seinen "arischen" Vater hatten Jakob und seine Mutter einen gewissen Schutz genossen. Doch als der Vater kurz vor Kriegsende stirbt, erhält die Mutter sofort die Aufforderung, sich bereit zu machen, sie werde abgeholt. Sie schärft ihrem Sohn ein, sich sofort zu seinen Großeltern zu begeben. Die haben die jüdische Schwiegertochter und ihren Sohn zwar nie geliebt, aber sie sollen sich nun um den Jungen kümmern.
Doch Jakob verirrt sich in der großen zerbombten Stadt Hamburg. Ein alter Mann versteckt ihn schließlich in einem halbzerstörten Haus und bringt ihm regelmäßig etwas zum Essen. Aber dann bleibt der Alte plötzlich aus. Jakobs Vorräte schwinden. Irgendwann muss er es wagen, die Ruine zu verlassen. Er versucht, Nahrungsmittel zu stehlen. Dann gerät er an eine Kinderbande, die etwas pikiert ist, als er sie mit einem zackigen "Heil Hitler!" begrüßt. Unter dem Namen Friedrich versucht er, bei der Gruppe mitzumischen. Was nicht leicht ist, zumal bei den Kindern Hermann das große Wort führt. Der war überzeugter Nazi und HJ-Führer und hasst alles, was irgendwie nach Jude oder Ausland riecht. Zum Glück ist Friedrich ja ein echter deutscher Junge ...
Es ist eine Geschichte, die unter die Haut geht. Und der Titel ist durchaus Programm für die Härte, mit der einige der Beteiligten auf ihr Leben blicken. Neben Jakob ist auch der widerliche Junge Hermann sehr detailliert und mit einigen tieferen Charakterstrichen gezeichnet. Der schwerbehinderte Vater und die tyrannische Art, wie der beinlose zynische Mann seine Familie schikaniert, haben auch Hermann hart und mitleidslos gemacht. Wenn er Mitleid empfindet, dann einzig und allein mit sich selbst, weil er an diese Familie gebunden ist, seinen Vater ständig aufs Klo tragen muss und keine Chance hat, mit einem Verwandten nach Amerika zu gehen.
Das einzige freundliche Wesen in der Gruppe ist das Mädchen Traute, die Bäckerstochter, die so gern beim Fußball mitmachen möchte und sich schließlich ihren Platz in der Mannschaft mit einem gestohlenen Brot erkauft. Aber was passiert, wenn der Vater nun ausgerechnet die mit im Haus einquartierte Flüchtlingsfamilie des Diebstahls bezichtigt? Traute muss gestehen, so schwer es ihr fällt.
Ein beeindruckendes, spannendes Hörbuch über eine schlimme Zeit, das zeigt, dass nach dem Krieg eben nicht alles vorbei war mit Hass und Gewalt.
Weitere Jahresrückblicke
Teil II: April bis Juni 2022
Teil III: Juli bis Oktober 2022
Teil IV: November 2022
Teil V: Dezember 2022
© Petra Hartmann