Jahresrückblick V: Dezember 2022
Jahresrückblick
Und hier der Abschluss meines Lese-Rückblicks auf das Jahr 2022. Da der November wie üblich total aus dem Ruder gelaufen ist, folgt hier separat der Dezember-Nachklapp. Was haben wir hier? Antike, ein Märchen-Erzähler mit sehr berechtigten Trigger-Warnungen, ein Indianer-Roman, ein Aufklärer, ein Flugpionier und ein dreifacher stiller irischer Held aus der Antarktis.
Viel Spaß beim Durchstöbern! Und alles Gute für ein spannendes und glückliches (Lese-)Jahr 2023!
Dezember
Älian: Bunte Geschichten (Reclam Leipzig)
Der zweite Vertreter der antiken "Buntschriftstellerei". Älians Sammlung "Bunte Geschichten" wurde sogar Namensgeber für das Genre. Im Prinzip ist die Sammlung ähnlich wie das Gelehrtenmahl von Athenaios, das ich Ende November las, nur dass es hier keine Rahmenhandlung und keine unterschiedlichen Sprecher gibt. Die Geschichten und "Nutzloses Wissen"-Texte werden einfach unkommentiert hinter einander wegerzählt. Auch dieses vorliegende Buch, das ich wie die Athenaios-Sammlung antiquarisch erwarb, ist eine Auswahl. Es erschien im Jahr 1990 und bietet auf 278 Seiten bunte Geschichten aus den 14 Büchern, die Älian unter dem Titel herausgab, sowie ein Nachwort und ein Register. Und: Wer Athenaios und Älian nacheinander liest, wird feststellen, dass ihm einiges bekannt vorkommt. Die Jungs in der römischen Kaiserzeit haben nämlich geklaut wie die Raben.
Antonia Michaelis: Im Schatten des Märchenerzählers
Das Buch ist eine Fortsetzung des Romans "Der Märchenerzähler", eines Wahnsinnsbuchs, das mich im Jahr 2011 einfach nur umgehauen hat. Eine harte und doch poetische Geschichte über Kindesmissbrauch, Prostitution, Drogenhandel, Vergewaltigung und doch auch über Liebe und den Zauber der Märchen.
Auch die nun erschienene Fortsetzung ist ein extrem hartes Buch. Die Autorin gibt der Geschichte sicherheitshalber eine Inhaltswarnung bei. Und das zurecht. Wer in dieser Hinsicht in irgend einer Weise gefährdet ist, sollte das besser aus der Hand legen, denn es sind schlimme Stellen darin. Und doch ... Es hat einen Zauber. Antonia Michaelis kann den Zauber der Märchen beschwören und trotzdem die Härten und Grausamkeiten des Lebens ihrer Helden schildern, genau so hart, wie es tatsächlich vorkommt in der Welt, auch in unserer Umgebung.
Abel Tanatek, der Märchenerzähler, hatte sich damals erschossen. Doch er hat einen Sohn, Elias, gezeugt, als er seine Freundin Anna vergewaltigte. Nun ist Elias 18 Jahre alt und fühlt sich beobachtet. Ist ein Wolf in seiner Nähe, der ihn beschützt? Ist Abel damals doch nicht gestorben, sondern hat seinen Tod nur vorgetäuscht? Wem, wenn nicht ihm, schreibt Anna heimlich Briefe? Und wer, wenn nicht Abel, antwortet ihr? Die Schatten der Vergangenheit nehmen langsam Gestalt an. Kinderpornos tauchen auf, in denen Abel missbraucht und misshandelt wurde. Schlimmer noch, falls es überhaupt Schlimmeres gibt: Auch ein sehr kleines Mädchen ist in den Videos zu sehen. Und die Verbrecher, die damals für die Vergewaltigung der Kinder verantwortlich waren, sind noch aktiv ...
Es ist ein verdammt gutes Buch. Aber es ist auch eine verdammt widerliche Geschichte. Ich wünschte, sie wäre reine Phantasie.
Tanja Mikschi: Als der Mond zu sprechen begann
Christian Wilhelm von Dohm: Denkwürdigkeiten meiner Zeit II
Zweiter Teil der "Denkwürdigkeiten", Teil eins hatte ich im vergangenen Jahr gelesen. Zunächst muss ich festhalten, dass dieses Buch aus der Reprint-Fabrik von "Forgotten Books" absolut sauber eingescannt und durchgängig gut lesbar ist. Bei Teil eins waren ja viele Seiten unlesbar oder nur halb erfasst. Also: Für den Verlag an dieser Stelle mal ein Daumen nach oben.
Dohm setzt seine Geschichtsschreibung fort und legt in diesem Band einen Schwerpunkt auf Katharina die Große und den Kampf ums Schwarze Meer, man erfährt viel über die Krim und die russische Eroberung und Einverleibung dieses Landstrichs. Das Kapitel hätte ich vor einiger Zeit noch ganz unbeteiligt gelesen, aber nach der Krim-Annexion und jetzt während des Ukraine-Krieges merkt man, dass das alles eben doch nicht so weit weg ist.
Ferner geht es um Auseinandersetzungen Preußens und Friedrichs II. mit der Stadt Danzig und um Kämpfe zwischen Holland und den Niederlanden. Ein weiteres Kapitel widmet sich dem "System der bewaffneten See-Neutralität", das Katharina durch Verhandlungen mit vielen weiteren Staaten schuf. Es geht darum, dass bei Kriegen zwischen zwei Staaten neutrale Handelsschiffe nicht behelligt werde dürfen.
Was mir bisher überhaupt nicht klar war: Die amerikanische Erhebung gegen England und die Unabhängigkeitserklärung waren, wie Dohm hervorhebt, mit Folgen des Siebenjährigen Krieges. Die Briten wollten mehr Steuergelder von ihren Kolonien haben, weil der Krieg so teuer war. Aber die Amerikaner sagten: Keine Steuern ohne unsere Zustimmung, wir wollen dann wenigstens in eurem Parlament vertreten sein. So kam es zum Bruch, zumindest in der vereinfachten Form, wenn ein Preuße die amerikanische Unabhängigkeit erklärt, für den der Siebenjährige Krieg ja eine besondere Bedeutung hat ... Wieder was gelernt.
Otto Lilienthal: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst
Ein Buch, das ich im Rahmen meiner Recherchen für meinen Roman "Das Herz des Donnervogels" las. Sehr schöner, großformatiger Band, ein Faksimile der Ausgabe von 1889, herausgebracht von www.reprintpublishing.com. Reich illustriert mit Vogel- und Flügelzeichnungen und Abbildungen von Lilienthals selbst konstruierten Messgeräten und Versuchsaufbauten. Viele Messungen und physikalische Berechnungen, reichlich Formeln und Zahlen. Also durchaus etwas knifflig und kein Abenteuerbuch.
Wir wissen ja aus der Geschichte der Wright-Brüder, dass Lilienthal sich in vielen seiner Berechnungen geirrt hat, und wir wissen auch von seinem tragischen Ende. Darum bitte nichts von dem nachmachen, was hier beschrieben wird. Aber es war schon spannend, dem Flugpionier mal bei seiner Arbeit über die Schulter schaun zu können.
Michael Smith: Der stille Held Tom Crean
Geschichte eines irischen Seemanns, der an drei Polarexpeditionen teilnahm. Er war unter den letzten sechs, die Scott bis zur vorletzten Etappe zum Südpol mitnahm. Und er war zusammen mit Shackleton auf der Endurance-Expedition, gehörte zur sechsköpfigen Bootsbesatzung Shackletons, als dieser von Elephant Island nach Südgeorgien aufbrach, um seine Mannschaft zu retten, und war der dritte Man neben Shackleton und Worsley auf der lebensgefährlichen letzten Etappe über die Berge von Südgeorgien. Ein schlichter, bescheidener Mann, der von sich selbst nie großes Aufhebens machte, aber offenbar immer gut gelaunt war und seinen Teamkameraden mehrfach das Leben gerettet hat. Ich habe ja als Kind und Jugendliche immer den Berufswunsch "Polarforscher" gehabt und gerade über die Endurance-Expedition viel gelesen, aber Crean war mir bisher noch nie aufgefallen. Schön, dass diese Biographie ihn jetzt würdigt. Absolut lesenswert. Die Leute bei mare machen ja ohnehin schöne Bücher.
Hans-Martin Gutmann: Wendegier
Der Autor ist gebürtiger Goslarer und hat zudem kürzlich in der Stadt aus seinen Werken vorgelesen. Ich habe seinen Krimi daher in der Goslarschen Zeitung rezensiert.
Weitere Jahresrückblicke
Teil I: Januar bis März 2022
Teil II: April bis Juni 2022
Teil III: Juli bis Oktober 2022
Teil IV November 2022
© Petra Hartmann