Zion's Fiction. Phantastische Literatur aus Israel
Bücher - phantastisch Israel Kurzgeschichten Anthologie
"Zion's Fiction" ist eine Anthologie mit Kurzgeschichten aus Israel, die jetzt in deutscher Übersetzung im Hirnkost-Verlag erschienen ist. Der Titel spielt ein wenig mit der Genre-Bezeichnung "Science Fiction", doch ist das Spektrum wesentlich breiter, und es finden sich fantastische Texte der unterschiedlichsten Art. Einen großen Anteil haben soziale und psychologische Aspekte, biologische Entwicklungen und anthropologische Fragestellungen. Der Bereich Technik oder Dystopien sind seltener anzutreffen.
Sehr lesenswert und lehrreich ist die Einleitung der beiden Herausgeber Sheldon Teitelbaum und Emanuel Lottem. Sie stellen heraus, dass Israel eigentlich ein Staat ist, der seine Gründung zwei "phantastischen" Büchern verdankt: der Bibel und dem utopisch-prophetischen Roman "Altneuland" von Theodor Herzl, dem Entwurf eines jüdischen Staates und einer unglaublich mächtigen Inspirationsquelle der Zionisten, Siedler und Staatsgründer. Dennoch, oder vielleicht auch gerade deswegen, führte die phantastische Literatur in Israel jahrzehntelang ein Schattendasein. Als Hochliteratur und preiswürdig galt ein herber Realismus, der den Aufbau des Landes und die realen Sorgen, Nöte und Erfolge realer Menschen schilderte. Phantastik also als "Schmuddelliteratur". Das ist auch in Deutschland keine so ungewöhnliche Einschätzung. Umso erfreulicher, dass in "Zion's Fiction" nun ein paar echte Perlen israelischer phantastischer Literatur vereinigt und auch dem deutschen Publikum zugänglich gemacht worden sind.
Die Sammlung enthält 16 Kurzgeschichten oder auch längere Erzählungen. Die Leser begegnen mutierten Mäusen, die für Menschen todgefährlich sind, und einer Frau, die den Tod heiratet, außerdem einer Bibliothek, die durch die Zeiten reist, und einem Mann, der so intensiv von einer Frau träumt, dass er sie aus den unmöglichsten Situationen zu sich her träumen kann - was für die Frau mehr als unangenehm ist.
Herausragend "Das perfekte Mädchen" von Guy Hasson
Als herausragend möchte ich die Geschichte "Das perfekte Mädchen" von Guy Hasson bezeichnen. Es handelt sich eigentlich eher um eine kleine Novelle, die mit ihrem Umfang von 60 Seiten zugleich der mit Abstand längste Beitrag zu diesem Buch ist. Hasson erzählt von einer jungen Frau, die telepathisch begabt ist und nun in einem speziellen Institut ausgebildet werden soll. Sie selbst fühlt sich mit dieser Fähigkeit wie ein Monster, und der Umstand, inmitten dieser Telepathen-Kaserne im eigenen Kopf keinerlei Privatsphäre zu besitzen, ist für sie - aus nachvollziehbaren Gründen - unangenehm. Doch das am meisten Belastende dieser Ausbildung ist, dass sie und ihre Mitstudenten lernen sollen, die Gedanken von Toten zu lesen.
Als Neuling erhält die Heldin, offenbar als Schikane für Frischlinge, den Schlüssel zur Leichenkammer zugeteilt und muss nun auf- und zuschließen, wenn die einzelnen Kurse zu den Studienobjekten kommen. Als ihre erste Leiche eingeliefert wird, ist die Ich-Erzählerin noch schockiert und angeekelt. Doch dann muss sie selbst im Unterricht in die Gedankenwelt der toten Frau eindringen. Und irgendetwas ist dort ... etwas Angstmachendes und Anziehendes zugleich. Tiefer und tiefer dringt sie in die Seelenwelt der Toten ein, erlebt jede Entwertung und jede Verletzung mit, als sei es ihr eigenes Leben. Immer wieder schleicht sie sich heimlich in die Leichenhalle und erforscht das Leben dieser Frau. Oder ist es ihr eigenes?
Die Geschichte ist so intensiv und geht derart unter die Haut, dass es für den Leser ähnlich schwer ist, sich aus ihr wieder zurückzuziehen, wie es der Heldin unmöglich ist, die Gedankenwelt der Toten zu verlassen. Kein Wunder, dass Guy Hasson mit der Geschichte "The perfekt Girl" im Jahr 2006 den israelischen Geffen-Award für die beste Kurzgeschichte gewann. Auf jeden Fall hochverdient, und allein schon für diese Geschichte ist dieses Buch meine Anthologie des Jahres. Bitte mehr von diesem Autor auf Deutsch.
Die "Langsamen" kämpfen um ihre Kinder
Sehr gelungen und nachdenklich machend ist auch die Geschichte "Die Langsamen" von Gail Hareven. Es geht darin um ein Reservat, das aufgelöst werden soll. In dem Reservat waren die Menschen untergebracht, die ihre Kinder "langsam" aufwachsen lassen wollen. Also mit Baby- und Kleinkindphase, Pubertät und allem, was auch im 21. Jahrhundert die Entwicklung eines Menschen ausmacht. Doch in der hier geschilderten Zukunft ist diese "Rückständigkeit" längst überwunden. Dank des BNW, des Beschleunigten Nachkommen-Wachstums, sind die Kinder quasi sofort groß, die Eltern ruinieren sich nicht mehr das Leben mit Stillen, Windelnwechseln und jahrelanger Brutpflege bis zur Volljährigkeit, sondern die Nachkommen können fast vom Start an ihr Leben als Erwachsene führen, arbeiten und selbst Kinder haben.
Die "modernen Menschen" verstehen überhaupt nicht, warum sich die "Langsamen" so sehr quälen, und wollen nun die Primitiven zu ihrem Glück zwingen. Die kämpfen dagegen an. Sie wollen ihre Babys nicht hergeben, es bräche ihnen das Herz ... Schockierend und packend. Und auch wenn es so etwas wie das BNW in Wirklichkeit nicht gibt, die Unterjochung und Zwangsbeglückung, die so genannte "Primitive" von "Zivilisierten" zu erdulden hatten, kennen wir aus der Geschichte zur Genüge.
Weltmeisterschafts-Puzzle-Team startet zwei Minuten zu früh
Als drittes schließlich ist mir die Geschichte "Zwei Minuten zu früh" von Gur Shomron aufgefallen. Es geht um drei Geschwister, die an einer Puzzle-Weltmeisterschaft teilnehmen und den Weltrekord brechen wollen. Die drei sind krasse Außenseiter im Kreis der 100 Teilnehmer, die anderen sind allesamt hochgezüchtete Genies aus Eliteschulen und Nobelgegenden. Doch die Geschwister waren von einem freundlichen Nachbarn ausgebildet und gefördert worden und konnten sich so qualifizieren. Am Tag des Wettkampfes passiert etwas Ungewöhnliches: Der Bote, der das streng geheime 20.000-Teile-Puzzle bringt, ist zwei Minuten früher da als erwartet. Wo doch alle Teams gleichzeitig die Aufgaben erhalten sollen. Die drei Kinder denken sich zunächst nichts dabei und legen los. Doch diese zwei Minuten ermöglichen eine Sensation, die die gesamte Welt der Puzzler erschüttern wird ... Eine der wenigen humorvollen Geschichten und gleichzeitig spannend und tiefsinnig. Sehr schön.
Insgesamt ist die Anthologie eine sehr vielschichtige und vielstimmige Sammlung, die außer durch ihre guten Texte auch durch ihre ausgesprochen werthaltige Aufmachung punktet. Die solide Harcover-Ausgabe mit Lesebändchen und mit jeder Geschichte vorangestellten Schmuckseiten ist eine Zierde für jedes Bücherregal. Mit einem Vorwort von Robert Silverberg, einem Nachwort von Aharon Hauptmann, der bereits erwähnten Einleitung der Herausgeber und außergewöhnlich umfangreichen Autorenbiographien hat der Hirnkost-Verlag hier ein wirklich reichhaltiges und gut gestaltetes Schmuckstück aufgelegt. So muss Literatur präsentiert werfen.
Fazit: Geschichten, die unter die Haut gehen, mit viel Hintergrund-Informationen und in ansprechender Verpackung. Ein herausragendes Buch.
Zion's Fiction. Phantastische Literatur aus Israel. Hrsg. v. Sheldon Teitelbaum und Emanuel Lottem. Mit einem Vorwort von Robert Silverberg und einem Nachwort von Aharon Hauptmann. Berlin: Hirnkost, 2023. 402 S., Euro 30.
© Petra Hartmann