Angeline Boulley: Warrior Girl Unearthed
Indianer Ojibwe Angeline Boulley Chippewa Anishinabe
Wer den Roman "Warrior Girl Unearthed" von Angeline Boulley zur Hand nimmt, tut gut daran, die Widmung auf der ersten Seite ganz langsam zu lesen und darüber nachzudenken. Und am besten nach der Lektüre des Romans noch einmal:
"Für unsere 108.328 Vorfahren, die immer noch in Institutionen aufbewahrt werden; und für alle, die daran arbeiten, sie nach Hause zu holen."
Perry, die Heldin des Romans ist eine junge Ojibwe-Indianerin, die, wie auch ihre Zwillingsschwester Pauline und zahlreiche Gleichaltrige in der Zeit zwischen Schule und College ein Praktikum in den Institutionen ihres Stammes machen. Perry, die eigentlich lieber fischen als aufs College gehen will, wird von ihrer Tante genötigt teilzunehmen. Sie erhält eine Stelle im Stammesmuseum, obwohl dessen Leiter Cooper sonst nie Praktikanten annimmt. Der bärbeißige Cooper nimmt sie mit auf eine Sitzung, in der es um die Rückführung indianischer Kulturgüter und - noch wichtiger - um die Rückerstattung menschlicher Körper und Körperteile an ihre Angehörigen geht.
Wenn die eigenen Vorfahren im Museum liegen
Für Perry handelt es sich zunächst einfach nur um "Zeug", wie sie despektierlich bemerkt. Doch dann sieht sie selbst dieses "Zeug" im Keller einer staatlichen Institution: Schädel, Knochen, Zähne - Überreste ihrer Ahnen. Für die junge Indianerin, für die die Verbundenheit mit ihren Vorfahren wesentlich mehr bedeutet als für einen Weißen, der vielleicht noch etwas über seine Großeltern weiß, nicht aber über seine Urgroßeltern, ist es ein Schock.
Da ist dieses eine Skelett, von den weißen Wissenschaftlern als "Warrior Girl Unearthed" bezeichnet, das ausgegrabene Krieger-Mädchen. Angefallen von einem Raubtier. Als Grabbeigabe hatte man der jungen Frau ein Messer mitgegeben. Und nun liegt sie skelettiert im Kellerarchiv des Mackinac State College, und der bleiche Doktor "Leer-wah" betrachtet sie als seinen persönlichen Schatz, nennt sie "mein Mädchen" und erklärt Perry stolz, man habe den Leichnam ausnahmsweise nicht "exartikuliert", also in seine Einzelteile zerlegt und mit anderen Leichenteilen gemeinsam eingelagert, Knochen zu Knochen, Zahn zu Zahn.
Das Gesetz gebietet die Rückerstattung an den Stamm, aber ...
Perry lernt, was "NAGPRA" bedeutet. Der "Native American Graves Protection and Repatriation Act" ist ein Gesetz, demzufolge jede Institution, die Native-American-Sammlungen besitzt und staatliche Förderungen erhält, verpflichtet ist, Grabbeigaben und menschliche Überreste an die betreffenden Stämme herauszugeben. Das ist die Theorie. In der Praxis ist da die oft fehlende Dokumentation der Gegenstände. Museen können sich oft jahrelang um die Herausgabe drücken mit der Auskunft, die Bestände seien noch nicht dokumentiert, und man habe zu wenig Personal, die Stücke abschließend zu erfassen. Außerdem ist da die Beweislast. Denn die Stämme müssen zweifelsfrei belegen können, dass bestimmte Knochen eindeutig von einem ihrer Angehörigen stammt. Und: Das Gesetz gilt nicht für private Sammlungen ...
"Und jetzt frage mich, wie viele unserer Vorfahren das Museum bereit war unserem Tribe zurückzugeben", fragt Cooper nach dem Besuch beim Warrior Girl seine Praktikantin. Und gibt sofort die Antwort: "Die Antwort lautet keinen, Perry. Kein einziger Vorfahr wurde zurückgegeben."
Kampf um das Warrior Girl
Perry schwört Cooper, mit ihm zusammen um die Herausgabe des Warrior Girls zu kämpfen. Aber sie macht einen Fehler: Sie steckt im College, das das Warrior Girl in Besitz hat, ein paar uralte Samen ein, die aus einen traditionellen Ojibwe-Grab stammen, und sät sie zu Hause ein. Als der Diebstahl herauskommt, ist sie für Cooper als Praktikantin untragbar geworden und muss sich einen neuen Praktikumsplatz suchen. Doch Perry kämpft auf eigene Faust weiter. Sie kommt einem Raubgräber auf die Spur, der noch heute indigene Grabstätten sucht und plündert und deren Inhalt illegal im Internet verkauft. Brandgefährlich wird es, als im Reservat junge Frauen entführt werden, und schließlich auch Perrys Freundin verschwindet.
Ein Roman, der unter die Haut geht
"Warrior Girl unearthed" ist ein Roman, der unter die Haut geht. Dem Leser wird klar, was es bedeutet, in Museen präparierte Leichen und Knochenreste fremder Völksgruppen zu betrachten. Und er versteht, was das für ein Gefühl sein muss, Teile seiner Vorfahren in Magazinen staatlicher Institutionen zu wissen.
Die Autorin Angeline Boulley, die selbst Mitglied des Ste. Marie Tribes der Chippewa / Ojibwe ist, weiß sehr genau, worüber sie schreibt, und hat einen packenden Roman verfasst, der die Leser in die Welt der Ojibwe mitnimmt. Jenseits von Indianer- und Reservations-Klischees schildert sie lebendige Helden und ihre alltäglichen Probleme. Manche davon sind dem europäischen Leser gar nicht so fremd: Autounfälle, eine resolute Tante, Schulprobleme, Zwist mit der Schwester ... Boulley macht deutlich, dass die Ojibwe als recht wohlhabender Stamm durchaus eine moderne Lebensweise haben und sich vor den Europäern nicht verstecken müssen. Aber die Tradition ist nicht tot. Kunsthandwerk, Spiritualität und die Verbindung mit den Ahnen prägen noch immer die Welt der heutigen Ojibwe.
Perry spürt der Geschichte gestohlener Artefakte und Kultgegenstände nach. Zusammen mit ihr lernt man, welche Bedeutung etwa traditionelles Flechtwerk und von den Großmüttern hergestellte Körbe haben, von denen jeder seine eigene Handschrift aufweist und seine eigene Geschichte hat.
Und auch der europäische Leser kann deutlich nachfühlen, wie sich Perry fühlt, als sie bei einem Einbruch in die privaten Räume der Institutsleiterin plötzlich im Bad eine Cornflakes-Schachtel entdeckt, die mit dem Wort "Zähne" beschriftet ist. Nein, besonders achtsam und respektvoll oder auch nur sachgemäß gehen diese "Wissenschaftler" mit den Überresten der indianischen Ahnen nicht um. Ein Grund mehr, sie zurück zu holen.
Fazit: Ein Buch, das den Leser auch nach dem letzten Kapitel nicht wieder loslässt. Ein Buch, bei dessen Lektüre einem 108.328 Vorfahren über die Schulter blicken. Lest. Dieses! Buch!
Angeline Boulley: Warrior Girl Unearthed. Aus dem amerikanischen Englisch von Petra Bös. München: cbj, 2023. 442 S., Euro 20.
© Petra Hartmann