Jahresrückblick 2024: Teil 2 - April bis Juni
Jahresrückblick
Willkommen zu Teil zwei meines Rückblicks auf mein Lese-Jahr 2024. In den Monaten April, Mai und Juni waren ziemlich viele Hörbücher und Hörspiele dabei. Ich habe meine alte ???-Sammlung wieder hervorgeholt, außerdem etwas Gruseliges und etwas von Karl May gehört. Meine große Entdeckung war die Hörspielserie "Kira Kolumna", die Abenteuer einer 16-jährigen Bloggerin, die um drei Ecken mit der rasenden Reporterin Karla Kolumna verwandt ist. Kinderhörspiele, die auch für Kinder jenseits der 50 geeignet sind. Dazu gab es Tierbücher (Ratten und Ponys), Indianerliteratur, May-Pastiches, Comics, Klassiker, Antikes und Goslaria. Recht wenig Phantastik diesmal, im nächsten Quartal wird das wieder mehr.
Hinweis:
Etwaige blau markierte Texte sind herausragende Spitzenbücher, rot steht für absoluten Mist, ein (e) hinter dem Titel bedeutet, dass ich den betreffenden Text in der eBook-Version gelesen habe, und hinter den Links verbergen sich ausführlichere Besprechungen innerhalb dieses Blogs.
April
Karin S. Wozonig: Ratten. Ein Porträt
Hübsches, in edles Rattengrau gebundenes Büchlein, das sich einem der meistgeschmähten Nagetiere der Welt widmet. Die Verfasserin ist eine bekennende Rattenliebhaberin und so ist diese kleine bibliophile Kostbarkeit auch eine ganz große Liebeserklärung an die kleinen Tierchen geworden. Man erfährt etwas zur Biologie und Mythologie, hört vom Sozialverhalten und der Intelligenz der Ratten und auch davon, was man beachten muss, wen man eine Ratte als Haustier halten will. Kurzporträts verschiedener Rattenarten - wie Hausratte, Wanderratte, Waldratte, Schweinsnasen-Spitzmausratte oder Sulawesi-Schlankratte - runden das Büchlein ab.
Es ist nicht ganz so zauberhaft und magisch wie das im gleichen Verlag erschienene Algen-Büchlein, das mich im vergangenen Jahr so begeistert hatte, aber auf jeden Fall ein hochinteressantes, liebens- und lesenswertes Buch.
Frank Elstner: Frances Densmore: "Ich hörte eine indianische Trommel"
Kleiner, knapp 50 Seiten starker Essay über die Ethnologin und Musikwissenschaftlerin, die mit ihrem Phonographen loszog und indianische Gesänge aufzeichnete und die Liedtexte dokumentierte. Erzählt wird etwas über ihre Arbeitsweise und darüber, wie sie das Vertrauen der alten Häuptlinge in den Reservationen gewann. Reich bebildert. Mit Notenbeispielen und Briefzitaten. Ich hatte es auf der Leipziger Buchmesse zusammen mit ihrem Buch "Die Lieder der alten Lakota" beim Palisander-Verlag erworben. Ein sehr knapper, aber gut lesbarer Einstieg in die Arbeit Densmores.
Angeline Boulley: Warrior Girl Unearthed
Rolf Ulrici: Tom und der Lachende Fuchs
Kinderbuch, das ich Anfang der 80er mal gelesen hatte. Jetzt fiel es mir in einem Antiquariat in die Hände, da hab ich es mitgenommen. Erzählt wird die Geschichte eines Jungen aus Deutschland und eines etwa gleichaltrigen Indianerjungen, dessen Stammeszugehörigkeit nicht erwähnt wird. Die Zeit der Indianerkriege ist vorbei, die Familienangehörigen des Lachenden Fuchses leben recht friedlich neben der Ranch, auf der Tom zu Gast ist, allerdings ist noch einiges Misstrauen und sehr viel Zurückhaltung vorhanden. Tom lernt von seinem neuen Freund Anschleichen und Reiten. Dann kommt es zu Rivalitäten mit einer Bande von weißen Jungen. Und der Lachende Fuchs soll in ein Internat gesteckt werden. Aber was wird dann aus seinem Pferd ...?
Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte
Der erste ins Deutsche übersetzte Roman einer nenzischen Autorin. Es erinnert ein bisschen an Juri Rytchëu. Die Nenzen sind, ähnlich wie die Tschuktschen, Rentiernomaden und leben im Norden Sibiriens. Die Autorin erzählt von einem jungen Mann namens Aljoscha, der nur eine einzige Frau liebt, die Tochter des alten Petko. Doch die ging fort und wird auch nicht wiederkommen. Nun liegen ihm seine alte Mutter und die Stammesgenossen in den Ohren: Er soll endlich heiraten und die Tradition fortsetzen, das Volk erhalten und vor allem eine junge Frau zu sich nehmen, die seine alte Mutter bei der Arbeit unterstützt ... Aljoscha sondert sich ab, ist verstockt. Und als man ihn schließlich zur Heirat mit einer anderen Frau zwingt, weigert er sich, die Ehe zu vollziehen.
Ein wunderbarer Roman, in dem man das Knirschen des Eises und den Geruch der Rentiere spürt, eine harte Geschichte ohne Kitsch und Pastelltöne. Sehr gut, von dieser Autorin möchte ich mehr lesen.
Hörspiele
Die drei ???, Folge 1: Der Superpapagei
Ich habe im Keller meine alte Drei-Fragezeichen-Sammlung wiederentdeckt, vier Schuhkartons mit Cassetten aus der Cassettenkinder-Zeit. Da musste ich mir einfach den Superpapagei nochmal reinziehen. Kann die Geschichte fast auswendig mitsprechen. Der dicke Mister Claudius auf der Jagd nach den Papageien. Schneewittchen und Sherlock Holmes, Robin Hood und vor allem Blackbeard mit seinen Sprüchen. Der erste Auftritt des gepflegten Gentleman-Meisterdiebs und Kunstexperten Hugenay. Morton und der Rolls Royce. Die erste Telefonlawine. Und Justus Jonas als brillanter Kopf des Ganzen. Einfach ein spezialgelagerter Sonderfall.
Kira Kolumna 1: Umzugsalarm
Meine neue große Liebe am Kinderhörspielhimmel. Kira Kolumna ist um drei Ecken herum verwandt mit der rasenden Reporterin Karla Kolumna aus den Benjamin-Blümchen- und Bibi-Blocksberg-Hörspielen. Sie ist Bloggerin, knüpft aber auch, sobald sie in eine neue Stadt kommt, Kontakte zur Lokalpresse. Und in neue Städte muss sie oft umziehen, denn ihr Vater Johannes ist Matheprofessor und international gefragt. Wenn er an eine neue Uni berufen wird, heißt es für Kira jedesmal: Umzugsalarm. Ihr Freundeskreis bleibt dann zurück, Verbindung kann sie meist nur noch über das Blog halten.
In Folge eins kommt Kira aus Madrid nach Südberg in Deutschland. Hier wohnt sie über dem Laden von Laura und freundet sich mit deren anfangs noch wenig begeistertem Sohn Lars an. Zusammen schaffen die beiden es dann auch schon, eine Einbruchsserie in der Nachbarschaft aufzuklären.
Sehr spannend erzählt, etwas schneller als die Bibi- und Benjamin-Abenteuer meiner Kindheit, poppig, peppig und auch für alte Leute wie mich ein echter Genuss. Und als ich meiner Nichte (11) den ersten Teil schenkte, war sie ebenfalls begeistert und hat jetzt auch schon über zehn Kira-Hörspiele intus. Also: Von uns beiden gibt es zwei Daumen nach oben.
Kira Kolumna 2: Plötzlich beliebt
Kira kommt nach dem Umzug in ihre neue Schule. Hier lernt sie ihre neue beste Freundin Nele und die eitle aber superbeliebte Angebertussi Sakia kennen, die einen superstarken Account betreibt und von ihren Reiseabenteuern erzählt. Saskia ist viel mit ihren Eltern unterwegs und jettet fast jedes Wochenende in eine andere coole Stadt. Allerdings hat aktuell gerade Kiras Freundin Nele den totalen Höhenflug mit ihrem Online-Account: Sie postet ein Selfie, das sie mit einem der angesagtesten Musik-Stars in der Eisdiele zeigt. Mehr noch: Sänger Jannis habe sie engagiert für den Dreh seines nächsten Musikvideos.
Da passt es recht gut, dass das neue Projektthema der Klasse "Social Media" lautet. Kira und ihr Team setzen sich mit dem Thema Schein und Sein im Internet auseinander und berichten schließlich ihrer Klasse Schockierendes über Fake News und die Wahrheit dahinter ...
Einfach gut gemacht, tolles Thema und super erzählt.
Die drei ???, Folge 2: Der Phantomsee
Eine alte Seemannstruhe, ein Schiffswrack, Hinweise auf einen versteckten Schatz - und immer wieder taucht der zwielichtige Java-Jim auf. Dazu Bobs Recherchen in der Bibliothek, eine Geisterstadt und die unheimliche Insel mit der Zypresse im Nebel ... Einfach alles, was ein ???-Hörspiel braucht.
Sherlock Holmes & Co.: Heim der Phantome
Eine Frau möchte ihren Vater in einem Seniorenheim besuchen. Doch der alte Mann ist nicht da. Wenig später teilt man ihr mit, er sei plötzlich verstorben. Warum waren seine Briefe in der letzten Zeit so seltsam? Und warum verschwinden immer wieder Bewohner des Heims? Die Ermittlungen der Tochter fördern Grauenhaftes zutage - und sind lebensgefährlich.
Sehr dichtes, atmosphärisches Gruselhörspiel, das man nicht unbedingt allein zu Hause hören sollte ...
Sherlock Holmes & Co.: Der Wiedergänger
Ein Häftling ersinnt eine makabere Möglichkeit, aus dem Gefängnis zu türmen. Die Wachen stehen vor einem Rätsel. Ist er mit dunklen Mächten im Bunde? Auf dem Friedhof jedenfalls gibt es in der Nacht Gruseliges zu beobachten.
Erzählerisch und akustisch vom Feinsten. Sehr gut gemacht.
Mai
Catrin Misselhorn: Künstliche Intelligenz - das Ende der Kunst? (Reclam)
Ist das eigentlich noch Kunst, wenn es von einer Maschine gemacht ist? Wer hat die Urheberrechte? Und wie verändert sich unsere Bewertung des Schaffensprozesses? Ein paar hochinteressante Gedanken über KI-Kunst, ihre Geschichte und ihre Einordnung. Spoiler: Das "Ende der Kunst" wurde schon oft beschworen, ist aber wohl auch im KI-Zeitalter noch nicht gekommen. Aber gruselig ist es trotzdem, vor allem der Blick auf das erste KI-Bild war ausgesprochen verstörend.
Yoko Tsuno Sammelband 9: Geheimnisse und böser Zauber
- Die Dienerin Luzifers
- Der Amethyst
- Khanys Geheimnis
Erneut ein sehr schöner Hardcoverband mit viel Zusatzmaterial, diesmal vor allem mit Zeichnungen der zahlreichen Flugzeugtypen, die in den Alben eine Rolle spielen. Der Titel "Geheimnisse und böser Zauber" erschließt sich mir mal wieder nicht. Zauber kommt in dieser Serie eigentlich gar nicht vor, nur Technik und Naturwissenschaft. Aber okay, die Geschichte um die "Dienerin Luzifers" hat auch mittelalterlichem Aberglauben zum Thema, das mag als "böser Zauber" durchgehen. Album eins und drei sind Geschichten über Yokos Freunde vom Planeten Vinea, der mittlere Band enthält eine Zeitreisegeschichte. Warum man diese mit den beiden anderen in einen Themenband zusammenfasste, erschließt sich mit nicht. Es mag etwas damit zu tun haben, dass dies der vorletzte Sammelband ist und die Auswahl gering wurde. Schön ist, dass Emily wieder an Yokos Seite ist, die junge Frau mag ich von allen Freundinnen Yokos am liebsten (außer vielleicht Morgentau). Emily lernt bei der Zeitreise ihre Urgroßmutter kennen, ein sehr berührender Moment. Die Begegnung mit der "Dienerin Luzifers" hat es auch in sich. Bei dem schlafenden Wesen Wesen, das Mönche seit Jahrhunderten bewachen, ist aufgrund der bläulichen Hautfarbe ziemlich schnell klar, dass es sich um eine Vineanerin handelt. Oder doch nicht? Im dritten Abenteuer spielt Khany eine etwas seltsame Rolle, fast wirkt sie zwielichtig. Kann Yoko ihrer Freundin noch trauen? Mit der Existenz des Wesens Tevy hat sie zunächst ihre Probleme. Roboter und Androiden sind ihr vertraut, aber ein Wesen aus menschlichen,. organischen Bauteilen ...? Ein sehr interessanter Band. Allerdings bekomme ich langsam Probleme damit, die Vineaner auseinanderzuhalten. Das ist mir zu viel Personal.
Ursula Voß: Rilkes Sternenfrauen
Sehr schön gestaltetes Insel-Büchlein über die Frauen, die Rilke liebte, die mit ihm eine Beziehung oder Freundschaft und geistigen Austausch pflegten.Die Frauen sind jeweils in einem kurzen Porträt und mit einem Foto vorgestellt. Schon sehr beeindruckend, wer da alles in diesem Büchlein versammelt ist, fast alles große Namen, Künstlerinnen, Dichterinnen, Schauspielerinnen und Fürstinnen, die meisten kennt man heute noch. Dargestellt werden Lou Andreas-Salomé, Clara Rilke-Westhoff, Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, Anna de Noailles, Eleonora Duse, Sidonie Nádherný von Borutin, Marthe Bibesco, Catherine Pozzi, Baladine Klossowska, Wera Ouckama Knoop, Lally Horstmann und Lotte Pritzel. Ich bin mit Rilke nie so recht warm geworden, aber diese Sternenfrauen haben mich sehr für ihn eingenommen.
Galen: Gelassenheit. Was bedeutet das alles? (Reclam)
Ein Reclamheft aus der Philosophie-Reihe "Was bedeutet das alles?" Sehr interessant, wobei hier gesagt werden muss, dass der Titel "Gelassenheit" - im Innenteil steht auch "Über die Unverdrossenheit" - nicht von Galen stammt. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich vielmehr um einen Brief an einen alten Schulfreund, der ihn wohl gefragt hatte, wie man Schicksalsschläge gelassen einsteckt, ohne daran zu zerbrechen. Galen musste es wissen: Beim großen Brand Roms hatte er so ziemlich alles verloren: Seine Heilkräuter und medizinischen Geräte, seine Bibliothek, unzählige Fachbücher, Rezepte, ihm ihm ärztliche Kollegen im Austausch gegen eigene Rezepte anvertraut hatten, seine Bibliothek mit wertvollen, unwiederbringlichen Einzelstücken und eigene, noch unveröffentlichte Manuskripte, von denen es keine weiteren Abschriften gab - mithin sein Lebenswerk und seine gesamte Existenz. Und doch blieb Galen vollkommen gelassen. So gelassen, dass es auffiel und Freunde nachfragten. Im Brief gibt er nun Auskunft. Er verweist auf die Philosophie der Stoa, aber auch auf Aristipp. Und er erzählt auch von seiner ganz persönlichen Erfahrung: Immerhin erlebte der berühmte Arzt einiges am Hof des Kaisers Commodus. Dort habe er jederzeit drauf gefasst sein müssen, alles zu verlieren, in die Verbannung geschickt zu werden oder Schlimmeres. Wer sich mit dem Gedanken vertraut macht, dass im alles jederzeit genommen werden kann, den wirft die tatsächliche Erfahrung eines Verlusts nicht mehr um. Man solle sich vielmehr über das freuen, was noch da ist, sagt Galen. Sehr klug.
Als das Grüne Band noch grau war
„Grenzschicksale“ heißt ein voluminöser Sammelband mit Lebenserinnerungen aus der Zeit, als das Grüne Band noch grau war. Das knapp 600 Seiten starke Buch lässt 30 Zeitzeugen zu Wort kommen und erzählt von Biografien im Schatten der Grenze. „Erinnerungen werden blasser, Zeitzeugen werden weniger“, schreibt Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff in seinem Geleitwort. „Es ist von großer Bedeutung, Stimmen einzufangen, Erlebnisse zu dokumentieren und Bilder in den richtigen und wahrheitsgemäßen Kontext zu stellen, damit kommende Generationen ihre eigene Vorstellung der Ereignisse gewinnen können.“ Und die Menschen, die ihre „Grenzerfahrungen“ aufzeichneten, haben wahrlich eine Menge zu erzählen: Spannendes, Überraschendes, Alltagserfahrungen und Einmaliges sind hier versammelt. Manches zeugt von einem gewissen Galgenhumor, zum Beispiel, wenn im Vorwort der Herausgeber Kai Langer, Birgit Neumann-Becker und Maik Reichel an den Ausspruch von DDR-Bürgern nahe der Sperrzone entlang der Grenze erinnert wird: „Vor spontanen Verwandtschaftsbesuchen waren wir sicher.“
Wie ist das, plötzlich an eine Grenze zu stoßen? Für Christoph Dieckmann war es eine traurige Kindheitserinnerung an einen Brockenbesuch: „Auf dem Gipfel hatte ich mich in eine kecke Igel-Figur verliebt. Nach inständigem Gebettel kauften mir die Eltern diesen ‚Brocken-Mecki‘. Zwei Wochen später stürzte Mecki von der Waschkommode und brach sich ein Bein. Ich war untröstlich und wollte sofort wieder auf den Brocken, um einen neuen Mecki zu erhalten. ‚Das geht nicht‘, sagte Vater, ‚da ist jetzt die Grenze.‘“
Die Goslarerin Ursula Breustedt, geboren 1944 in Köthen, stellt beim Rückblick auf ihre Lebensgeschichte fest, dass sie mit dem Begriff „Heimat“ gar nichts anfangen kann: „Dazu wurde mir das, was ich für Heimat hielt, zu oft genommen“, sagt sie. Der Familie gehörte ein Rittergut bei Köthen, doch am 21. September 1945 wurden die Besitzer „entschädigungslos enteignet“, die Familie musste den Landkreis verlassen, es ging nach Heimburg im Harz. Der Vater konnte schließlich in Abbenrode einen Hof pachten. „Es war das letzte Grundstück vor der innerdeutschen Grenze“, erinnert sie sich. „Durch die Bäume konnten wir bis nach Lochtum in Niedersachsen blicken. Ich fuhr mit meinem Puppenwagen oft bis zum Grenzflüsschen Ecker und watete darin herum.“ Es blieb nicht bei Blicken nach „drüben“ und beim Waten im flachen Wasser: „Es herrschte ein reger Grenzverkehr. Irgendwann wurden sogar große Steine in die Ecker gerollt, damit die gegenseitigen Besuche einfacher wurden und man das andere Ufer trockenen Fußes erreichen konnte“, schreibt Breustedt. „Meine Mutter schickte mich sogar öfter nach Lochtum, um im dortigen Laden etwas einzukaufen.“ Doch die Idylle mit dem inoffiziellen, aber intensiven Grenzverkehr währte nicht lange. Am 7. Juni 1952 ändert sich alles. Den Eltern werden die Pässe abgenommen, ein Herr im grünen Ledermantel sagt: „Sie gefährden die Sicherheit der DDR“, die Familie soll innerhalb von 24 Stunden ihr zu Hause verlassen. Bis dahin steht die Familie unter Beobachtung, ein Polizist begleitet die sechsjährige Ursula sogar bis zum Plumpsklo. Der Vorwurf lautete: „Negative Einstellung zur DDR und S.U. Verbreitet Unstimmigkeiten politischen Charakters im Ort.“ Zusatz: „Verbreiter von Westmeldungen.“ Als die Familie schließlich in den Westen flüchtet, steht der 17-jährigen Tochter eine Mutprobe bevor: Sie muss allein mit dem Zug von Kleinmanchow nach Havelberg fahren – und am Bahnhof im West-Berliner Stadtteil Lichterfelde aussteigen. Inzwischen dürfen die Eltern wegen einer angeblich dringend notwendigen Operation der Mutter nach Hamburg ausreisen. Kurz danach, im Westen wieder vereinigt, kann die Familie nach Pappenheim reisen, wo der Vater seine neue Stelle antritt. Ursula Breustedt macht dann eine landwirtschaftliche Ausbildung in Einbeck, arbeitet später in Schladen und lebt jetzt in Goslar.
Zahlreiche Stimmen rund um die Grenze kommen zu Wort. Da ist Annemarie Reiffert, die am Tag der Grenzöffnung als erste DDR-Bürgerin wagte, den Grenzübergang Marienborn zu passieren. Oder die Pastorin Ursula Meckel aus Thale, die von Stasi-Spitzeln im Gottesdienst berichtet. Oder Katrin Schmidt, die die Welt sehen wollte und über China aus der DDR ausreiste. Das opulent aufgemachte Hardcover-Buch mit Schutzumschlag und zwei Lesebändchen in Grün und Silber besticht durch seine aufwendige Gestaltung. Zahlreiche ganzseitige historische und aktuelle Fotografien wecken Erinnerungen an früher und regen zu Wanderungen durch das heutige Grüne Band an. Vor allem dürfte das gewichtige Buch als Präsent für Menschen aus dem ehemaligen Grenzland geeignet sein. Und die darin festgehaltenen Erinnerungen sind es allemal wert, bewahrt zu werden.
Thomas Ostwald: Der schwarze Josh
Christine H. Bauer: Das Rathaus in Goslar. Geschichte und Bauphasen
Ein neues Buch über das Goslarer Rathaus ist jetzt erschienen. Verfasserin ist die Goslarer Welterbebeauftragte Dr. Christine H. Bauer, die sich bemühte, Geschichte und Architektur des Rathauses kompakt zusammenzufassen und eine handliche Überblicksdarstellung zu schaffen.
Das Buch „Das Rathaus in Goslar. Geschichte und Bauphasen“ ist unter anderem für diejenigen bestimmt, die nach Rathausführungen all die Informationen noch einmal nachlesen möchten, die sie von Stadtführern und aus den interaktiven Angeboten erhielten – aber eben nicht komplett im Kopf behalten konnten. Es ist mit seinen 81 Seiten recht handlich und lässt sich leicht und schnell lesen. Vor allem ist es großzügig ausgestattet mit Illustrationen wie Skizzen der Räume und einzelnen Etagen sowie mit Fotos. Gezeigt werden historische Aufnahmen, Details der Innenräume und Wandmalereien.
Bauer stellt die Entwicklung der Goslarer Bürgerschaft vor und erzählt etwas zur Geschichte der Stadt, von der Zeit, in der Kaiser Heinrich I. ein „vicus goslariae“, vielleicht als Jagdhof oder königlichen Wirtschaftshof, gegründet haben soll, sie berichtet über Bergbau und die Kaiserpfalz, die Rechte einer freien Reichsstadt, den Streit mit Braunschweig um den Rammelsberg … Auch den Vorgängerbauten des Rathauses spürt sie nach. Der Leser erfährt etwas über den Marktbereich, die Verkaufshallen und Wechselstuben und die im Jahr 1151 erstmals urkundlich erwähnte Marktkirche. Schon 1269 wird in städtischen Urkunden ein bürgerliches Rathaus als „domus communitatis“ erwähnt, doch ohne Ortsangabe. 1293 erwarb der Rat der Stadt vom Kloster Neuwerk dessen Kaufhallen zwischen dem Schuhhof und dem „Brunwordeskeller“ (wohl Kaiserworth).
In sechs Kapiteln widmet sich Bauer den einzelnen Bauphasen. Sie stellt das Rathaus der Spätromanik/Gotik vor, das um 1300 entstand. Man erfährt mehr über den Keller, Ratsdornse (beheizbarer Sitzungsraum), Arkadenhalle und Ratsdiele. In der Bauphase um 1430, in der Spätgotik, wurde die Ratsdiele umgebaut. Ratsdiele und -dornse wurden ausgestaltet, das Rathaus erhielt einen südlichen Anbau. Weitere Bauphasen erfolgten in der Zeit um 1500 (Übergangszeit Spätgotik-Renaissance), um 1560 (Renaissance) und Mitte des 17. Jahrhunderts (Barock). In einem Kapitel zusammengefasst hat Bauer die Baumaßnahmen des 19. und 20. Jahrhunderts, in dem es um Renovierungen zum Stadtjubiläum 1922 und Umbaumaßnahmen 1936 bis 1938 geht. Was bleibt aus der Nazizeit? „Während alle anderen Umbauten der nationalsozialistischen Zeit in den Jahren 2015/16 rückgängig gemacht wurden, blieb die von Rudolf Nickel gestaltete Sitzbank als einziges Zeugnis dieser Zeit erhalten“, schließt Bauer ihre Rathausgeschichte.
Das ist ein Abschluss, der Fragen aufwirft. Ein Kapitel über das Rathaus in den 2010er und 2020er Jahren fehlt. Dabei wird dieser Rathaus-Krimi den Goslarern noch lange als die Hauptsache in Erinnerung bleiben. Einige Entdeckungen, etwa Ergebnisse von dendrochronologischen Untersuchungen, wurden in den historischen Kapiteln erwähnt. Im buchstäblich letzten Absatz des Buchs schreibt die Goslarer Welterbebeauftragte immerhin, dass der Stadtrat 2012 beschloss, das Rathaus nach 700 Jahren als Verwaltungssitz aufzugeben, es aber weiterhin für Ratssitzungen nutzt. Das ist alles? Vielleicht folgt ja bald ein zweiter Teil des Buchs, der über die turbulente und weit langwierigere und teurere Sanierung des Goslarer Aushängeschildes berichtet?
Hans-Martin Gutmann: Der tote Bischof
Ein Pastor als Ermittler, ein emeritierter Theologie-Professor als Autor – da fehlt nur noch ein Landesbischof als Mordopfer, und der Krimi ist perfekt. Der gebürtige Goslarer Hans-Martin Gutmann lässt seinen Helden Lukas Bentorff erneut in einen Kriminalfall hineingeraten. Der Pastor des fiktiven Doppel-Orts Groß und Klein Samtleben im Salzgittergebiet muss herausfinden, wer für die Anschläge auf seinen Chef verantwortlich ist. Und seine Ermittlungsmethoden sind, gelinde gesagt, etwas unkonventionell.
Lukas Bentorff ist den Lesern bereits bekannt durch Gutmanns „Wende“-Tetralogie. Die vier Romane „Wendewölfe“, „Wendehälse“, „Wendeblues“ und „Wendegier“ spielten, wie der Name schon sagt, in den Jahren vor und nach der Wiedervereinigung. Der Verfasser hatte seinen Helden darin miterleben lassen, was alles schief lief bei der Vereinigung von BRD und DDR. Es ging um Geschäftemacherei, Entwertung von Arbeit, Lebensleistung und Biografien im Osten und um das eklatante Anwachsen des Rechtsextremismus. Und nun? Der neue Krimi ist anders. Zumindest durch die zeitliche Einordnung: Lukas Bentorffs fünfter Fall spielt sich 24 Jahre nach seinem Ermittler-Debüt ab, nämlich in der Weihnachtszeit des Jahres 2023 und in den Tagen „zwischen den Jahren“. Der Pastor ist ein Vierteljahrhundert älter geworden, hat zu seinem Zuständigkeitsbereich noch zwei Dörfer hinzugewonnen, doch im Prinzip ist er ein „Sitzengebliebener“, bei dem man, wenn er nicht schon einundsechzigeinhalb Jahre alt wäre, Ansätze einer Midlife-Crisis diagnostizieren könnte. Mit seiner Freundin, der inzwischen pensionierten Kriminalpolizistin Anne Hartmann, ist er noch immer auf dem Stand von vor 25 Jahren. Und die dörflichen Institutionen sterben so langsam vor sich hin. Sogar die beiden dauerverfeindeten Karnevalsvereine, deren Streitigkeiten ein Running Gag der „Wende“-Bücher waren, mussten aufgrund des allgegenwärtigen Personalmangels fusionieren.
Doch das beschauliche Vor-sich-hin-Sterben des Dörferquartetts wird durch einen Paukenschlag aufgestört. Bentorffs Freund und früherer Schützling, Landesbischof Kai Grübner, erlebt mehrere Attacken auf sein Privatleben – von Beschimpfungen und Drohungen über Schmierereien bis hin zu aufgeschlitzten Autoreifen – schließlich wird er durch einen Ford F 150 von der Straße abgedrängt und ruft, verletzt und blutüberströmt – Bentorff zur Hilfe. Waren es tatsächlich die freundlichen Worte des Bischofs über die geflüchteten Ukrainier und die Aufforderung zu deren Unterstützung, die nun rechte Kreise auf den Plan riefen? Geht es um die Erpressung eines Konkurrenten im innerkirchlichen Machtkampf? Oder nimmt Frau Bischof ihrem Gemahl sein Fremdgehen übel und engagierte einen Mörder?
Der Pastor und seine Freunde entwickeln einen Plan: Der Bischof muss sterben, um vor künftigen Anschlägen sicher zu sein und um den ermittelnden Oldies Raum für die Mörderjagd zu verschaffen. Allerdings: Das Kirchenoberhaupt ausgerechnet von einer umstürzenden riesigen Plastik-Lutherfigur kurz vor der Weihnachtspredigt „erschlagen“ zu lassen, ist ein ermittlungstechnischer Schachzug, der die Gemeinde nicht unbedingt in die typische, besinnliche Christfest-Stimmung versetzt ...
Die Geschichte um den Bischofsmord lebt – außer von skurrilen Details und einem actionreichen Showdown – vor allem von den Einblicken in die Arbeit eines Dorfpastors und seinen Umgang mit aktuellen politischen Themen und Katastrophen. Gutmann, der bisher in „historischen Krimis“ die Wendezeit Revue passieren ließ, ist diesmal ganz nah dran an der Gegenwart. Gewalt gegen ukrainische Flüchtlinge, Bauernproteste, das Massaker der Hamas beim Überfall auf Israel am 7. Oktober, all das hat der Autor in diese Geschichte einfließen lassen. Hochinteressant sind dabei die Predigten Bentorffs. Der Groß Samtlebener Geistliche kann da durchaus mal das wenig barmherzige Verhalten seines Heilands zum Thema machen, als dieser einer kranken Frau die Hilfe verweigert, da sie nicht zum Volk Israel gehört. Oder er spürt einer Überlieferung aus dem Talmud nach, derzufolge Gott, als die Ägypter im Roten Meer ertranken, jeglichen Jubel untersagte – immerhin habe er auch diese geschaffen, und ein Jubel über den Tod so vieler Menschen sei völlig unpassend. „Der tote Bischof“ ist flott geschrieben und lässt sich gut und flüssig lesen. Spannung, politische Stellungnahmen und interessante Gedankengänge machen das Lesen zu einem Vergnügen. Nur mancher Kriminalpolizist wird sich vermutlich die Haare raufen beim Lesen. Denn dass Bentorff und seine Freunde ihren Fake-Mordanschlag mit Rückendeckung durch Polizei und Staatsanwaltschaft durchziehen können, klingt doch ein wenig fabelhaft.
Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz
Ein Klassiker, den ich schon lange auf dem Zettel habe. Eine Geschichte, die durch die Vielstimmigkeit und die Montagetechnik nicht ganz einfach zu lesen ist. Werbesprüche, Zeitungszitate, Lieder und Parolen, Berliner Halbwelt und moderne Technik, Glanz und Elend der Großstadt. Mittendrin Franz Biberkopf, frisch aus dem Gefängnis entlassen, der sich eine neue Existenz aufbauen will. Als Zeitungsverkäufer kann er sich zunächst redlich über Wasser halten. Aber dann wollen alte Kameraden ihn zu einem Bruch mitnehmen. Franz will nicht, schliddert aber doch mit in eine Geschichte hinein, die ihn am Ende einen Arm kostet. Und dann wird auch noch seine Lebensgefährtin tot aufgefunden, und er ist der Hauptverdächtige.
Ein Roman, in den man sich erstmal einlesen muss und der seinen Charme nicht sofort entfaltet. Aber wenn man "drin" ist, nimmt er einen wirklich mit. Keine Lektüre für zwischendurch. Erinnert als Großstadtroman der Moderne tatsächlich an den "Ulysses", mit dem er oft in einem Atemzug genannt wird, ist aber dann doch noch etwas weniger spröde.
Lucian Caligo: Der Fluch des Ritters Anastasius
Hörbuch/Hörspiel
Karl May: Winnetous Erben
Eines meiner Lieblingsbücher von Karl May, die Inspirationsquelle für meinen Roman "Das Herz des Donnervogels". Klar, dass ich mir das Hörbuch gegönnt habe, als es herauskam. Es hat mich in den ersten Monaten des Jahres auf einige weite Autofahrten begleitet. Mit knapp 19 Stunden Laufzeit reicht es für massenweise Kilometer.
Zunächst war ich ein bisschen befremdet von der Stimme des Sprechers. Nein, dachte ich, so klingt doch Old Shatterhand nicht. Aber Jean-Marc Birkholz zeigte ziemlich schnell, dass er als Interpret einiges auf dem Kasten hat, und seine Art, den unterschiedlichen auftretenden Personen mit seiner Stimme Farbe und eigenes Profil zu verleihen, hat mich überzeugt.
Was den Autor und sein Buch angeht ... nun, mir ist erst jetzt beim Vorgelesen-Kriegen, aufgefallen, wie unendlich langsam, betulich und wie mäandrierend sich May seinem Thema nähert, bevor er wirklich in die Handlung einsteigt. Ein paarmal war ich tatsächlich so weit, beim Autofahren auszurufen: "Mensch, komm endlich zu Potte!" Beim Selbst-Lesen spürt man diesen unendlich lahmen, immer wieder mit Rückblenden und dem Hinweis "Ich bitte, dies in meinem Buch xxxx nachzulesen" versehenen Warmlauf-Vorgang nicht so. Egal, es bleibt trotzdem eines meiner Lieblingsbücher von Karl May. Auch und gerade, weil es ein klassisches Alterswerk ist und weil hier Bilanz gezogen wird und all die alten Abenteuer zusammenfließen.
Inhaltlich dürfte es vielen bekannt sein. Karl May/Old Shatterhand bekommt von alten Weggefährten und alten Feinden zahlreiche verwirrende Briefe. Es gibt Pläne, ein Denkmal für Winnetou zu erreichten. Die Künstler, die den Apachenhäuptling in Szene setzen wollen, sind Young Surehand und Young Apanatschka, die Söhne von Old Surehand und Apanatschka. Ein schmeichelhafter Plan? Mitnichten. Viele Freunde, die Winnetou noch live erlebt haben, sind entsetzt und empfinden die klobige Kolossalstatue als "Ermordung" Winnetous und all dessen, für das der Apache stand. Old Shatterhand schlägt sich entschieden auf die Seite der Denkmalsgegner. Unterwegs trifft er auf alte Freunde und ebenso alte, unversöhnliche Feinde. Schließlich kommt es zu einer letzten Begegnung mit dem uralten Kiowa-Häuptling Tangua, den nur noch der Hass auf Old Shatterhand zusammenhält.
Karl May hat in diesem letzten Werk Erfahrungen aus seiner Amerikareise verarbeitet (Ja, er war tatsächlich einmal dort, am Ende seines Lebens, als er sich die Reise leisten konnte). Das Besondere an diesem und an einigen anderen Werken der Spätphase ist aber vor allem der magisch-mystische Ton und der Versuch, die ganze Menschheit zu versöhnen und Frieden zu schaffen. Es geht weniger um Abenteuer und Prügeleien, nicht um den legendären Jagdhieb und die Schießkünste mit dem Henrystutzen und dem weittragenden Bärentöter, als vielmehr um Frieden, Humanismus, Seelenwachstum ... Und wir begegnen außer den "alten Bekannten" auch einigen faszinierenden neuen Helden. Etwa dem Jungen Adler, einem indianischen Flugpionier, oder Athabaska und Algonka, zwei indianischen Linguisten, dem beinahe tausend Jahre alten Medizinmann Tatellah Satah und den Jungindianern vom Clan Winnetou. Auch die beiden Söhne Santers sind ausgesprochen eindrucksvolle Charaktere. Ach, lest einfach das Buch.
Kira Kolumna 3: Verpeilte Weihnachten
Die Weihnachtsfolge von Kira Kolumna habe ich, chronologiebedingt, im Mai gehört. Nele bekommt eine geheimnisvolle Zimtseife von einem geheimen Verehrer. Romantisch oder bedrohlich? Kira und Nele recherchieren auf dem Weihnachtsmarkt, woher das wohlriechende Geschenk kommen könnte, das Neles Geschmack so perfekt getroffen hat. Und noch jemand zeigt kriminalistische Ambitionen: Schulfreund Sirdan hat die Aufnahmeprüfung bei der Polizei geschafft und freut sich riesig. Nur auf Nele reagiert er etwas übellaunig. Warum nur?
Wieder eine mitreißende Folge, die Lust auf mehr macht. Und bei der Frauen-Weihnachtsfeier, die dann so turbulent gesprengt wurde, wäre ich gern dabeigewesen.
Kira Kolumna 4: On-Off Liebeschaos
Hier kommt Rapha ins Spiel. Rapha ist Kiras Freund aus Barcelona. Wobei Freund zu wenig sagt. Die beiden sind ein Paar. Allerdings gibt es, bedingt durch die räumliche Trennung, inzwischen einiges, was Kira und Rapha nicht von einander wissen.
Rapha ist Grafitti-Künstler. Und betont, er sprühe "nur noch" legal. Da kommt er gerade rechtzeitig nach Südberg, um die Front von Lauras Laden zu retten, die von einem erbärmlichen Stümper beschmiert worden war. Rapha verspricht, die Wand in ein großartiges Kunstwerk zu verwandeln, und berichtet auf seinem Online-Auftritt über seine Pläne. Doch am nächsten Morgen ist die Wand vollkommen versaut. Schlimmer noch: Der Verdacht fällt auf Rapha, da der unbekannte Vandale die Wand "in Raphas Stil" besprüht hat. Doch der spanische Künstler kann zeigen, in welcher minderwertigen Handwerksqualität die Schmierereien ausgeführt wurden. Er und Kira recherchieren in der Sprayer-Szene, wer die Front von Lauras Laden verdreckt hat. Und dann zeigt der Meister aus Barcelona seine Kunst ...
Spannend, temporeich und mitreißend. Wenn mir das so gut gefällt, ist es dann noch jugendgerecht? Ich wünsche der Serie jedenfalls viel Erfolg.
Juni
Mariana Leky: Die Herrenausstatterin
Das Buch hat mir meine Schwester geschenkt. Sie war von "Was man von hier aus sehen kann" (das Buch mit dem Okapi) total begeistert, ist aber in dieser "Herrenausstatterin" stecken geblieben. Ich fand die Geschichte sehr schön, zauberhaft und voller Alltagsmagie und mit ganz erstaunlichen Charakteren. Die Ich-Erzählerin dieses Buchs ist die Übersetzerin Katja. Ihr Mann, der bereits früh stirbt, ist Zahnarzt, und zwar ein außerordentlich empathischer und beliebter Vertreter seiner Zunft. Später lernt Katja Blank kennen, einen freundlichen, weisen älteren Herrn, der sie als väterlicher Freund begleitet. Allerdings kann nur sie Blank sehen, denn er ist, wie sich später herausstellen wird, bereits verstorben. Und dann ist da auch noch ein Feuerwehrmann, der irgendwann ungerufen vor ihrer Tür steht und einen Brand löschen will, den es nicht gibt. Ein schönes, ausgesprochen poetisches Buch mit einem gewissen Schuss herben Humors. Man muss sich allerdings darauf einlassen und sollte es lesen, wenn man gerade etwas Ruhe hat und sich entspannen kann. Nichts, was man sich mal eben an stressigen Tagen zwischendurch reinpfeifen sollte. Mir hat es sehr gut gefallen.
Liselotte Welskopf-Henrich: Der Bergführer
Novelle aus der Feder der Verfasserin der "Söhne der großen Bärin" und der Pentalogie "Das Blut des Adlers". Hier bewegt sie sich eher in der Welt ihres großen Widerstandsromans "Jan und Jutta". Sie erzählt die Geschichte eines Bergführers in den Dolomiten. Karl Unteregger ist ein erfahrener, sicherer Bergsteiger. Touristen buchen ihn oft als Begleiter für den Aufstieg auf anspruchsvolle Berge. Nun hat ihn ein großkotziger Nazifunktionär engagiert, der zusammen mit seiner Verlobten Lotte eine besondere Tour unternehmen will. Zunächst läuft alles recht gut. Doch ein Wetterumschwung und heftiger Schneefall machen den Aufstieg zum Gipfel todgefährlich. Unteregger will die Tour beenden, doch der Obernazi ist gewohnt, dass das Volk vor ihm kuscht, und besteht auf der Gipfeltour. Der finanziell nicht gerade üppig ausgestattete Bergführer gibt schließlich nach, als der Nazi ihm droht, er werde dafür sorgen, dass Unteregger nie wieder Kunden durch die Berge führen könne. Unterwegs passiert dann das vorausgesehene Unglück. Der Nazi überlebt, der Führer nicht. Die Verlobte des Nazis ist so angeekelt von seinem Verhalten, dass sie sich von ihm trennt. Zielstrebig, herb und schnörkellos erzählt, sichere Personenzeichnung, eine klassische Novelle mit schönem Spannungsbogen. Lesenswert.
Bessy 79: Bessys seltsamer Freund
Andy, Bessy, Ronny und Rhawik sind in den Bergen auf Jagd. Ein furchtbarer Schneesturm zieht heran. Ronny wird von einem Bären verletzt, Andy pflegt ihn in einer Höhle, während Adler Rhawik mit einem Hilferuf zur Farm zurückfliegt. Inzwischen freundet sich Bessy mit einem "wilden Mann" an, der allein in den Bergen lebt. Der Fremde ist offenbar geistig eingeschränkt und hält sich selbst für einen Wolf. Schließlich schaffen es die Freunde, den Mann in eine Klinik zu bringen.
Ein Nachwort befasst sich mit Klaus Dills Filmplakaten und der Zensur in den 60er Jahren. Was für eine furchtbar verklemmte, spießige Zeit.
Plutarch: Arbeiten im Alter? (Reclam)
Soll man im hohen Alter noch arbeiten? Ein eindeutiges "Ja" kommt von Plutarch. Der Philosoph schreibt zu dem Thema einen Brief an einen Freund, der sich anlässlich der Tatsache, dass Sportler irgendwann nicht mehr fähig sind, ihren "Beruf" auszuüben, fragte, ob sich nicht auch andere Senioren aufs Altenteil zurückziehen sollten. Nein, sagt Plutarch, ganz im Gegenteil, ihre Erfahrung und ihre altersbedingte Ruhe und Gelassenheit seien ein wertvoller Beitrag zur Gemeinschaft, und die jüngeren Kollegen würden sehr von ihnen profitieren.
Allerdings: Das Büchlein taugt wenig als Argumentationshilfe für die aktuelle Diskussion über ein höheres Renteneintrittsalter. Es geht hier nicht um körperliche Arbeit und auch eigentlich nicht um Lohntätigkeit. Der Focus liegt vielmehr auf der Tätigkeit in Staatsämtern. Nicht umsonst heißt eine wichtige Einrichtung bei vielen Völkern Ältestenrat beziehungsweise wie im alten Rom Senat. Hier ist die Erfahrung der langgedienten Politiker Gold wert, und es wäre eine Verschwendung von Ressourcen, wenn man diese über Jahrzehnte erworbenen Fähigkeiten nicht nutzen und die politischen Fachleute mit 60 Jahren in den Ruhestand schicken würde. Gerade ihre Abgeklärtheit und der Umstand, dass sie nichts mehr beweisen müssen, macht solche "Elder Statesmen" zu einem kostbaren Gut des Volkes. Auch als Berater - Plutarch nennt hier den alten, weisen Nestor im Trojanischen Krieg - oder als Dichter - verwiesen wird auf Werke des späten Sophokles - sind Senioren wertvolle "Arbeitskräfte". Zumal es auch ihnen selbst gut tut und sie geistig fit hält, während sie durch das Nichtstun im Ruhestand Gefahr laufen, schnell zu verblöden ...
Also: Kein Plädoyer dafür, den vielbeschworenen Dachdecker auch mit 70 Jahren noch aufs Dach zu schicken. Aber der deutliche Hinweis, man solle die Fähigkeiten der Alten und ihre Erfahrung mit Wertschätzung behandeln und ihren Beitrag zur Gesellschaft weiterhin möglich machen. Profitieren würden alle Generationen davon.
Das Büchlein enthält eine Einleitung, einen Kommentarteil, ein Personenverzeichnis und Literaturhinweise. Die Übertzung von Marion Giebel ist sehr eingängig und gut lesbar. Gut gemacht.
Horaz: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lat./Dt. (Reclam)
Neben der Poetik des Aristoteles eine der berühmtesten Poetiken der Antike. Sie hält allerdings den Vergleich mit dem Werk des Stagiriten in keiner Weise aus. Schon aufgrund ihres Umfangs wird klar, dass Horaz sein Thema nicht erschöpfend behandeln konnte: Der Lateinische und der deutsche Text machen jeweils nur 17 Seiten aus.
Das Besondere an dieser Abhandlung über die Dichtkunst ist, dass sie selbst eine Dichtung und in Versen abgefasst ist. Die deutsche Übersetzung kommt mal wieder nur in Prosa daher, was mich ärgert. Metrum ist Botschaft bei solchen Texten, es geht eben nicht nur um reine Inhaltswiedergabe.
Inhaltlich ist das Büchlein, wie gesagt, recht "dünn", sowohl vom Umfang als auch vom Informationsgehalt her. Aber es gibt einige berühmte Kernzitate, die man einfach beim Lesen wiedererkennt. Da ist natürlich die vielzitierte Aussage, dass Dichter entweder Nutzen bringen oder unterhalten wollen. Und auch der Anfang war mir vertraut, in dem Horaz einige poetische "Unmöglichkeiten" schildert, nämlich Monstrositäten wie ein Mischwesen mit Menschenkopf, Pferdehals und -gliedern und glänzendem Gefieder, und klarmacht, dass so etwas in einer ordentlichen Dichtung nichts verloren habe, sondern nur in Fieberträumen seinen Platz habe.
Das Büchlein ist sehr nett zu lesen und mit Anmerkungen, einem Nachwort und Literaturhinweisen versehen. Ganz ordentlich, abgesehen vom Missstand der Prosa-Übersetzung.
Rainer Kottmann: Die große Häuptlinge der Apachen
Kompakte Überblicksdarstellung, die sich den vier Häuptlingen Mangas Colorados, Cochise, Victorio und Geronimo widmet. Geboten werden, so weit bekannt, biografische Informationen und Darstellungen ihrer Kämpfe gegen die Weißen. Letztere sind naturgemäß am besten dokumentiert. Man erfährt etwas über Strategien und Ziele, über die für die Apachen günstige Situation im Grenzland zwischen USA und Mexiko, über Verträge, Verrat und Verbannung. Außerdem gibt es ein paar allgemeine Informationen über die Apachen und ihre Herkunft. Reich bebildert. Mit Literaturhinweisen und einem Register. Hilfreich.
Kerstin Lange: Rebenfluch
Lokalkrimi aus der Eifel. Camper Christof, der auf einem Campingplatz in Nideggen lebt, ist den Lesern bereits bekannt aus seinem ersten Fall, "Grasträume". Nun geht es um einen Überfall auf einen Aachener Juwelier und einen Mord. Bei dem Überfall wurde einer der Verbrecher angeschossen. Er erinnert sich, dass er in Nideggen noch eine "alte Bekannte" aus Jugendtagen hat, und zwingt sie mit vorgehaltener Waffe, seine Wunde zu versorgen. Ärztin Ramona erinnert sich zunächst nicht mehr an ihn, doch er fühlte sich in seiner Kindheit von Ramonas Familie gedemütigt und hat noch eine Rechnung mit ihr offen. Als sie ihm Betäubungsmittel in seinen Whisky gießt, wird er schläfrig, aber es reicht noch für einen Mord. Wenig später wird Camper Christof in den Fall hineingezogen ... Spannend und angenehm zu lesen, nicht nur für Leute aus der Gegend interessant.
Hörbuch/Hörspiel
Achim Reichel: Ich hab das Paradies gesehn
Achim Reichel kann nicht nur gut singen, sondern auch gut erzählen, und er hat auch eine sehr schöne Vorlesestimme. Vor allem aber hat er viel erlebt, ein paar Jahrzehnte Musikgeschichte breitet er vor einem aus. Von Kinderabenteuern im Hamburger Hafen über erste Auftritte im Starclub, Die Rattles, die "Machines"-Zeit, Wonderland, die Shantys und Balladen ... Ich hätte auch noch ein paar Stunden länger zuhören können. Etwas ärgerlich ist, dass beide CDs, zumindest meine, am Ende plötzlich mitten im Satz mit einem Kratzen abbrechen. Aber da hatte ich die Quittung schon nicht mehr, wer bewahrt sowas auch auf? Und die Tracks hätten gern etwas kürzer sein dürfen. Wenn man sich eine bestimmte Stelle nochmal anhören möchte, weil zum Beispiel das Navi dazwischengequatscht hat, und dann die letzte halbe Stunde wiederholen muss, ist das, trotz der schönen Erzählstimme etwas anstrengend.
Alexander Emmerich: Abenteuer und Wissen: Der Wilde Westen - Pioniere, Glücksritter und Eisenbahner
Hörspiel, dessen besonderer Schwerpunkt auf der Eisenbahn liegt. Eigentlich geht es fast nur um die Eisenbahn. Stimmungsvoller Beginn ist der Augenblick, an dem sich die Bahnarbeiter, die von Osten und Westen kommend die Bahnlinie gebaut haben, treffen und es zum großen Lückenschluss kommt. Spannend, aber ich hätte mir doch ein paar mehr Infos bzw. ein breiteres Panorama gewünscht als nur Eisenbahn. Okay, ein wenig erfährt man auch über das Schicksal der Indianer und Büffel - in der Folge des Eisenbahnbaus eben.
Kira Kolumna 5: Klima-Krach
Kira ist entsetzt. Als sie zu ihrem Lieblingsplatz am Fluss kommt, steht sie plötzlich vor einem Bauzaun. Die alten Bäume sollen gefällt werden, hier entsteht eine Baustelle. Kira will das verhindern. Sie organisiert eine Demonstration, schreibt einen flammenden Aufruf in ihrer Lokalzeitung, organisiert den Widerstand über das Internetportal "Klima-Alarm". Besonders die alte Nachbarin Frau Machnikowski tut sich im Malen von Plakaten und Erfinden von Slogans hervor. Auch die Baurätin stellt sich - im Namen ihrer Öffentlichkeitsarbeit - auf der Demo neben Kira und versichert, sie wolle "den Fall noch einmal prüfen". Aber Pustekuchen. Kurz darauf heult die Kettensäge auf, der erste Baum fällt. Sollte ausgerechnet die eitle Hohl-Tussi Saskia jetzt noch etwas ausrichten können, um die Bäume zu retten ...?
Eine Folge über ein extrem wichtiges und hochaktuelles Thema. Allerdings auch die am wenigsten überzeugende Folge. Klar, ein Kinder-Hörspiel braucht ein Happy End. Aber dass es am Ende so einfach geht, nein, das glauben auch junge Hörer nicht. Gerade junge Hörer nicht, die gegen die Klima-Katastrophe kämpfen.
Immer noch eine gute Folge, aber die Kira-Macher sind hier weit unter der bisher gezeigten Qualität geblieben.
Kira Kolumna 6: Sommer in Südberg
Abenteuer pur: Zwei Mädchen, etwa in Kiras Alter, kommen mit ihrem Hausboot nach Südberg. Sie reisen von Ort zu Ort und handeln mit selbst genähten Taschen. Das Ganze hat etwas von Huckleberry-Finn-Feeling. Als Kira und Nele in den Sommerferien über den Südberger Markt streifen und die genialen Taschen-Unikate entdecken, sind beide hin und weg. Sie freunden sich mit den Hausboot-Mädchen an. Kira schreibt an einer großen Reportage über ihre beiden neuen Freundinnen, während Nele begeistert mit-designt und tolle Ideen für die Taschen-Gestaltung entwickelt. So eine Sonnenuntergangstasche, das wäre doch das Allergrößte. Neles Mutter aber ist entsetzt über die neue Bekanntschaft ihrer Tochter. Wie sieht es denn aus mit der Schule, und was wollen sie später einmal werden?, fragt sie inquisitorisch. Und dann sind da auch noch diese Diebstähle und der verschwundene Laptop. Haben die beiden etwa lange Finger gemacht?
Abenteuerlich, spannend, sommerlich und mit dem Duft der Freiheit. Bisher meine Lieblingsfolge von Kira Kolumna.
Weitere Jahresrückblicke
Teil 1 - Januar bis März 2024
Teil 3: Juli bis September 2024
© Petra Hartmann