Jahresrückblick 2024: Teil fünf - Dezember 2024
Jahresrückblick
Und hier der Abschluss meines Literatur-Jahresrückblicks. Der Dezember bescherte mir mein persönliches Buch des Jahres, außerdem findet ihr auf meiner Lese-Liste etwas Phantastik, Comics, einen Roman einer Autorin aus Hahnenklee, die eigentlich ein Mann ist, zweimal Heinrich Heine, etwas Römisches, etwas aus der germanischen Mythologie, einen Band mit Vorträgen über nordamerikanische Indianersprachen, grönländische Sagen und einen Kinderbuch-Klassiker. Viel Spaß damit!
Hinweis:
Etwaige blau markierte Texte sind herausragende Spitzenbücher, rot steht für absoluten Mist, ein (e) hinter dem Titel bedeutet, dass ich den betreffenden Text in der eBook-Version gelesen habe, und hinter den Links verbergen sich ausführlichere Besprechungen innerhalb dieses Blogs.
Dezember
Knud Rasmussen: Mythen und Sagen aus Grönland
Schöne, günstige Ausgabe aus dem Anaconda-Verlag mit Zeichnungen von Kârale. Das Original erschien im Jahr 1921 auf Dänisch. Rasmussen hat zahlreiche Mythen und Sagen der Grönländer gesammelt. Man erfährt etwas über die Hilfsgeister der Schamanen und darüber, wie sich letztere auf Zauberreisen begeben. Ein Ziel ist das Jenseits, wobei es zwei mögliche Orte gibt, an denen Verstorbene weiterleben: Den Himmel und das Meer. Es gibt aber auch epische Texte über Reisen in fremde Länder und Begegnungen mit fremden Völkern, den nordamerikanischen Indianern oder phantastischen Wesen, Riesen, Zwergen und Monstern. Man findet Geschichten über Blutrache, über arme Waisen, die Unterstützung durch magische Wesen finden, über besonders erfolgreiche Jäger, kluge Tiere, Bedrohungen durch Naturgewalten und Raubtiere, und trotz der harten Lebensbedingungen in der Arktis findet man auch viel Humor, Spottlieder und lustige Anekdoten. Eine Fundgrube zum immer wieder Hineinschauen.
Alexandra Bauer: Die Midgard-Saga - Jötunheim
Der zweite Teil der Midgard-Saga. Thea, die in einem früheren Leben das magische Schwert Kyndill gedschmiedet hat, wird erneut von den Göttern um Hilfe gebeten. Diesmal ist es etwas "offizieller", da Wal-Freya Theas Mutter klipp und klar erklärt, ihre Tochter werde in Asgard gebraucht, und sie werde sie jetzt mitnehmen. Die Mutter hat zwar viel dagegen, aber einer Göttin widersetzen kann sie sich nicht. Außerdem ist diesmal Theas Freund Tom mit der Partie, der ganz begeistert ist, die germanische Götterwelt kennen zu lernen. Und Thor holt eigens seine Seelenverwandte Juli aus dem Urlaub ab. Die Aufgabe, bei der die Jugendlichen den Göttern helfen müssen, ist alles andere als einfach: Der Fenriswolf ist verschwunden. Jener Wolf, der einer Prophezeiung zufolge einst Odin verschlingen wird. Der Verdacht liegt nahe, das Fenrirs Vater Loki bei der Flucht die Hand mit im Spiel hatte. Loki, den Thea noch immer nicht für den durch und durch Bösen halten kann, als den ihn alle darstellen. Im Eisenwald, wo die Mutter des Wolfs haust, finden sie eine Verbündete, die eigentlich in eine andere Mythologie hineingehört: Die Baba Jaga in ihren drei Gestalten und mit ihrem wandernden hühnerbeinigen Haus unterstützt sie. Und Hilfe haben die Helden sehr nötig. Denn beim Angriff der Monster des Eisenwaldes taucht auch Loki auf ...
Spannende und humorvolle Abneteuer in einer eigenwilligen mythologischen Welt. Hat mir gefallen.
Fabienne Siegmund: Die Papierprinzessin
Natasha Pulley: Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
Mein absoluter Lese-Höhepunkt des Jahres 2024. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der im Jahr 1898 aus einem Zug aussteigt und plötzlich sein Gedächtnis verloren hat. Er erinnert sich lediglich an seinen Namen - Joe Tournier - und den Namen einer Frau, von der er glaubt, es könne seine Frau sein: Madeline ... Und er wundert sich, warum überall in London Französisch gesprochen wird und die Bahnhöfe französische Namen tragen. Jahrelang lebt er daraufhin mit einer ihm fremden Frau zusammen, von der man ihm sagt, er sei mit ihr verheiratet, ist zunächst Leibeigener, später Ingenieur. Dann eines Tages, erreicht ihn eine Postkarte, die 90 Jahre alt ist, eine Einladung zu einem Leuchtturm auf den Äußeren Hebriden, unterzeichnet von "M." - M. wie Madeline?
Was Joe zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt: Nahe dem Leuchtturm gibt es eine Art Passage durch die Zeit. Ein Schiff, das zwischen zwei Säulen hindurchfährt, wird zurückversetzt in die Zeit, der napoleonischen Kriege, als die Franzosen und ihre Verbündeten die Welt erobern wollten und sich mit der britischen Marine heftige Seeschlachten lieferten.
Der Roman ist alles andere als ein klassischer Zeitreiseroman oder eine Alternativhistorie. Die Autorin versteht es auf geradezu geniale Weise, ihre Leser in eine Welt hineinzuziehen, die unserer sehr ähnlich ist, aber um einige Details abweicht - die nach und nach immer größere Wirkung zeigen.
Besonders zwei Dinge haben mich grenzenlos begeistert. Da ist zum einen die Art, wie die Franzosen reagieren, als ihnen zwei Jahre vor Napoleons vernichtender Niederlage im Nebel ein modernes Dampfschiff vor die Kanonen gerät: Sie schaffen es, das Schiff und die Besatzung festzusetzen, und begreifen, dass sie Gefangene aus der Zukunft haben. Sechs Ingenieure und die namentlich schon bekannte Madeline werden unblutig aber sehr effektiv über die Zukunft verhört. Wer die besten Informationen über den künftigen Gang der Geschichte zu bieten hat, bekommt etwas Ordentliches zu essen ... Aber wie dieser französische Verhör-Experte schließlich nur durch die Analyse eines Plans des künftigen Londoner Eisenbahnnetzes den gesamten Kriegsverlauf voraussehen und umdrehen kann, das ist so unfassbar genial, dass ich immer noch begeistert bin. Eigentlich fragt er nur ganz harmlos nach Bahnhofsnamen, die er nicht versteht. Waterloo? Wieso benennt man in London einen Bahnhof nach einem niederländischen Kuhkaff (heute: belgisch)? Madeline erinnert sich vage, dass das wohl der Name einer Schlacht gewesen sei. Nun, man benennt keine Bahnhöfe nach Schlachten, die man verloren hat. Und dann beißt sich der Franzose an dem Namen "Trafalgar Square" fest. Er kennt das Seegebiet. Wer dort siegt, dem steht Cadiz offen, und ganz Spanien fällt ihm zu, und und und ... Fortan haben die Franzosen nur noch ein Ziel: Sie setzten alles daran, sich auf die in zwei Jahren stattfindende Schlacht vorzubereiten und die Engländer in eine Falle zu locken ...
Das zweite, was mich an diesem Buch grenzenlos begeistert, ist die Persönlichkeit des Kapitäns, mit dem Joe auf der Suche nach seinem Gedächtnis die Schwelle der Zeit überschreitet und schließlich um das verlorene Britannien kämpft. Dieser Missouri Kite ist ein Kerl mit extrem rauer Schale und irgendwo einem weichen Kern, ein Mensch voller Ecken, Kanten und Wahnsinn, superfürsorglich gegenüber seiner Crew und trotzdem hart genug, mal eben einen ihm recht nahestehenden Seemann zu erschießen, der ein Geheimnis ausplaudern will, ruppig und lyrisch, zynisch und sarkastisch, pragmatisch und doch voller Ideale, ein Mann, der eine harte Kindheit hinter sich hat und doch Kind geblieben ist. Kurz und gut: Wer sagt, die Autorin habe hier einen Charakter "erschaffen" oder "gebaut", der versündigt sich. Dieser Missouri Kite ist verdammt lebendig, auf eine Art, wie sie sich niemals am Reißbrett zusammenfrankensteinern lässt. Ich gäbe etwas drum, mit diesem Kapitän in die Schlacht segeln zu dürfen. Auch wenn ich die Sache wohl nicht lange überleben würde.
Lest. Dieses. Buch.
The Athabaskan Languages. Perspektiven on a native Amerikan Language Family. Ed. by Theodore B. Fernández and Paul R. Platero
Vorträge, gehalten auf einer Tagung am Swarthmore-College in Pennsylvania im Jahr 1996. Ein Großteil der Beiträge bezieht sich auf die Navaho-Sprache, es gibt aber auch Vorträge über das Koyukon, über Eyak, Tlingit und Haida und diverse Apache-Sprachen. Themen sind unter anderem Satzbau, diverse grammatische Strukturen, Formulierung von Negativ-Aussagen, Irrealis usw. Außerdem geht es um die Möglichkeiten, das Navaho als Unterrichtssprache zu verwenden. Interessante mit vielen Beispielen, sprachlich ziemlich knifflig.
Agga Kastell: Mission Merlacorna. Eine Herbstlande-Novelle
Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer
Zufällig auf Helgoland im James-Krüss-Buchladen entdeck. Den Film kann ich komplett mitsprechen, aber das Buch ist mir bisher entgangen. Der Film ist recht nahe am Buch geblieben. Nur dass Johnnys Adoptiv-Vater im Buch noch ein Schiffskapitän ist, im Film wurde daraus ein Pilot. Und der Traum vom "fliegenden Klassenzimmer" wird im Buch nicht erfüllt. Martins Eltern wohnen auch nicht in Mombasa, sondern in Deutschland, und das Geld reicht nicht einmal für eine Zugfahrkarte. Zum Glück hilft hier der Justus aus. (Ach ja, wenn ich von DEM Film spreche, meine ich natürlich die Verfilmung als dem Jahr 1973. Für mich wird der Justus immer wie Blacky Fuchsberger aussehen und der Nichtraucher wie Heinz Reinecke.) Bisher völlig unbekannt war mir Kästners Rahmenhandlung, in der er erzählt, wie seine Mutter ihn im Hochsommer nachdrücklich daran erinnert, dass er endlich anfangen soll, seine Weihnachtsgeschichte zu schreiben, und wie er sich dann in die Berge zurückzog und eine Begenung mit Johnny hatte ... Erinnert mich ein bisschen an die Einleitung zu "Emil und die Detektive", in der es auch erst um ein Südseemädchen namens Petersilie und ein scharfgeladenes Taschenmesse ging - und um die Frage, wieviele Beine ein Walfisch hat, bevor dann Emil Tischbein auf der Bühne erschien. Insgesamt ist das Buch immer noch lesenswert und "gut gealtert". Ich habe bloß ein bisschen Sorge, dass heutige Kinder mit der Sprache und dem Setting Probleme haben werden, und wahrscheinlich ist es für sie auch einfach nicht mehr schnell und poppig genug. Würde mir sehr leid tun um die Jugend von heute ...
Heinrich Heine: Atta Troll. Ein Sommernachtstraum (Reclam)
Uraltes Reclamheft, das mich seit 1987 begleitet. Entsprechend zerfleddert. Ich hatte das Epos damals auswendig gelernt, als ich mit dem "Wintermärchen" durch war. Im Urlaub habe ich jetzt die Gelegenheit genutzt, es noch einmal zu rekapitulieren. Da hatten sich doch inzwischen eine Menge Ungenauigkeiten eingeschlichen ... Das Reclamheft bietet die Geschichte vom ausgebrochenen Tanzbären und der anschließenden Bärenjagd in der Version der von Heine herausgebrachten Buchausgabe von 1847, im Anhang finden sich aber auch die nicht ins Buch aufgenommenen Verse aus der Zeitschriftenfassung aus der Zeitung für die elegante Welt von 1841 sowie von Heine verworfene, ungedruckte Verse. Gut kommentiert und mit vielen Materialien zum Hintergrund versehen, zum Beispiel den Karikaturen Grandvilles und Freiligraths "Mohrenkönig". Die Reden des Bären und die Spukgeschichten in Urakas Hexenhaus sind immer noch herrlich. Aer ich glaube, ich bin etwas langsamer geworden beim Deklamieren. In meiner Jugend hatte ich immer rund eine Stunde und 40 Minuten gebraucht, um das Ganze Epos aufzusagen, jetzt sind es locker 15 bis 20 Minuten mehr. Ich werde alt.
Tino Falke: Ein Lied für die Sommerlande. Eine Herbstlande-Novelle
Werner Suerbaum: Vergils „Aeneis“ (Reclam)
Umfangreiche Vorstellung des großen römischen Epos. Bietet betrachtungen darüber, wie Vergil sich seinen Leser "erschafft" und das vorliegende Material zu einem Nationalepos schmiedet. Interessante Personenanalysen und Infos zur Funktion der Götter sowie Klärung der Frage, was die Troer alles aufgeben müssen. Sie verlieren nämlich nichts weniger als sich selbst, ihren Namen, ihre Kultur und gehen vollständig im römischen Volk auf, als sie endlich Turnus besiegten. Was bei mir besonders hängen geblieben ist, war die ausgesprochen wortkarge Zusammenfassung eines englischen Lehrers, der die zwölf Gesänge auf folgende Überschriften/Inhaltsangaben komprimierte:
Squall, Fall, Coasts, / Dames, Games, Ghosts,
Home, Rome, Spies, / War, More, Dies."
Es gibt ausführliche Inhaltsangaben, und mit diesen zwölf Stichwörter hat man ziemlich genai die einzelnen Gesänge präsent. Was mir bisher nicht so klar war: Im Prinzip kommen fast alle Zitate und Situationen, die man aus der Aeneis parat hat, aus dem zweiten Gesang, allenfalls noch das Schicksal der Dido aus dem vierten Gesang kann man noch nennen. Also, wenn ihr mit dem spröden Stil der gängigen deutschen Übersetzungen nicht klarkommt und etwas "abkürzen" wollt, konzentriert euch auf diese beiden Gesänge. (Ich selbst habe als Jugendlicher im Alter von vielleicht 15 Jahren die Aeneis in der deutschen Übersetzung gelesen undf fand den Stil einfach ungenießbar. Erst als ich dann in der 13. im Lateinunterricht in den lateinischen Text hineinschaute, stellte ich fest, dass ich Vergil bitter unrecht getan hatte. Der Mann hatte einen ausgezeichneten Stil - nur vieles davon lässt sich im Deutschen einfach nicht nachmachen.)
Bessy 20: Die Hungersnot
Eine geheimnisvolle Krankheit tötet die Karibus hoch im Norden, den Eskimos droht eine Hungersnot. Andy und Bessy begleiten eine Expedition zweier Wisenschaftler, die die Ursache der Seuche herausfinden wollen. Schließlich stellt sich heraus, dass ein böser Schamane die Tiere vergiftet. Er will den Platz des Häuptlings einnehmen, und im Kampf um die Macht in seinem Stamm ist ihm jedes Mittel und jeder faule Zauber recht.
Fabia Waldner: Das Magnolienhaus I - Der Traum von morgen (e)
Der Autor heißt mit bürgerlichem Namen Michael Schulz (das Pseudonym ist offen) und lebt in Hahnenklee bei Goslar. Daher habe ich ihn in der Goslarschen Zeitung vorgestellt und das neue Buch besprochen. ("Buch" stimmt allerdings in diesem Fall nicht ganz. Es gibt nur ein E-Book und ein Hörbuch, aber keine Printausgabe.) Meine Meinung dazu:
„Der Traum von Morgen“, Teil eins der Trilogie „Das Magnolienhaus“, erzählt die Geschichte einer rheinländischen Familie über mehrere Generationen hinweg. Die Hauptfigur ist die junge Caroline Eimermacher, Tochter eines Botanik-Professors und Enkelin eines Bauunternehmers, die an einen Mann, den sie nicht liebt, verschachert werden soll. Die arrangierte Ehe dient vor allem der Karriere des Herrn Professors: Der scheidende Dekan der Universität will Caro als Gemahlin für seinen Sohn haben und würde im Gegenzug dem Brautvater den Dekansposten zuschustern. Kein ungewöhnlicher Vorfall im Deutschland der Kaiserzeit. Aber für Caro eine Katastrophe, und sie versucht, den Dekanssohn loszuwerden.
Die Geschichte beginnt im Jahr 1912 in Bonn. Ein Prolog zeigt Caro im Jahr 1974 bei einer Fahrt auf dem Rhein mit dem Dampfer „Goethe“. Eine Begegnung mit einem jungen Studenten, der gern ein Buch über die Kaiserzeit schreiben möchte, ist Anlass für die ältere Dame, auf ihr Leben zurückzublicken.
Wir erleben eine junge rebellische Frau, die den Werber mit einem extrem freizügigen Kleid schockieren und abschrecken will, und einen ausgesprochen „coolen“ Dekanssohn, der seiner Angebeteten seine unverhohlene Bewunderung für ihren extravaganten Modegeschmack ausspricht. Und schon im Religionsunterricht hatte sie empört ausgerufen: „Frauen sind dem Manne nicht untertan. Das ist ungerecht!“ (Wobei sie wohl kaum meinte, dass es ungerecht sei, dass die Frauen dem Manne „nicht“ untertan sind.)
Fabia Waldner schildert die mehr oder weniger glücklichen „Vernunftehen“ von Caros Mutter und Großmutter sowie guter Freundinnen wie der reichen Erbin Vita oder der jungen Luise, mit der Caro erste sexuelle Erfahrungen macht. Auch Caros Mutter war schließlich auf ähnliche Art „an den Mann gebracht worden“, als sie ihre verarmte Adelsfamilie durch eine Heirat mit dem Sohn eines Bauunternehmers finanziell sanierte.
Fabia Waldner schildert interessant gestaltete Charaktere und erschafft ein rheinländisches Familienpanorama, dem die große Liebe des Verfassers zu Thomas Manns „Buddenbrooks“ anzumerken ist. Die Charaktere und ihre Beziehungen sind durchaus glaubwürdig geschildert, und auch das Bonner Lokalkolorit kommt sehr authentisch rüber.
Ausgesprochen unschön allerdings ist die Art, wie der Autor den eigenen Erzählfluss immer wieder abschneidet und die Handlung später durch zähe Plusquamperfekt-Referate nachliefert.
Familienpatriarch Heinrich, genannt „Kabänes“, zieht sich mit seinem Sohn, Professor Johannes, zum Vier-Augen-Gespräch über den neu aufgetauchten Familienangehörigen aus Riga zurück. Schnitt. Szenenwechsel. Erst mehrere Seiten später lässt Johannes das Gespräch in Gedanken „Revue passieren“, und erst jetzt erfährt der Leser, was Kabänes erzählt hat. Und erst sehr viel später, abends im Ehebett, als Heinrich wieder an die Geschichte seines folgenschweren Seitensprungs zurückdenkt, will er ihn nun auch endlich seiner Frau beichten. „Betti, wir müssen reden“, sagt er. Und - zack! – bricht das Kapitel ab, und der Leser hört ihn wieder nicht reden.
Ähnlich gewunden und verdrechselt gesteht Sohn Johannes seiner Frau Mathilde einen unehelichen Sohn. Immer wieder verschwinden Gespräche über entscheidende Dinge hinter dem Szenenvorhang und werden dem Leser später in Rückblenden und Inhaltsangaben nachträglich serviert. Live-Dialoge hätten den Roman sicher frischer, lebendiger und spannender gemacht.
Sehr flüssig und gut lesbar sind auf jeden Fall der Satzbau und die Sprachmelodie des Autors. Auch die Darstellung der vergangenen Epoche und die Situation der damaligen Frauen und besonders das rheinische Flair geht dem Autor leicht von der Hand und wird sicher viele Freunde und vor allem viele Freundinnen finden.
Fazit: Ein weit ausgearbeitetes Generationengemälde mit interessanten Heldinnen und glaubwürdigen Familiendramen. Vielversprechender Auftakt einer weitgespannten Saga.
Yoko Tsuno Sammelband 10: Die Schwingen des Verderbens
- Der Tempel der Unsterblichen
- Engel und Falken
- Saturns Zwillinge
Der letzte Sammelband enthält drei Alben, aber vier Abenteuer, denn "Engel und Falken" zerfällt in zwei Teile, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Band eins uns drei sind vineanische Abenteuer, Band zwei handelt zunächst von einer Zeitreise ins Jahr 1935, und anschließend sollen Yoko und ihre Freunde im Auftrag des britischen Geheimdienstes eine ägyptische Mumie nach Hause bringen.
Der Gesamttitel "Schwingen des Verderbens" scheint sich darauf zu beziehen, dass es zumeist ums Fliegen geht. In Teil eins um Flugexpeditionen unter der Erde und ein Wiedersehen mit dem kleinen Drachen Balbok und der größeren Ausgabe Goliath, im zweiten Band spielt ein steinerner Engel eine Rolle, später ein Falke und mehrere Drohnen, in Teil drei geht es um einen Flug zum Jupiter, auf dem Yoko und ihre KI Akina gleichfalls mit einigen Flugkunststücken auf warten. Mir hat am besten aber Emilys Manöver im zweiten Band gefallen, als sie eine junge Dame, die sich viel auf ihre Flugkünste einbildet, dazu bringt, ihren Mageninhalt ins Freie zu bringen. Überhaupt war der mittlere Band in dieser Sammlung mein liebster, auch wenn er ziemlich ungelenk gebaut wurde und in zwei unverbundene Teile zerfällt. Der Versuch, zwei bei einem Zugunglück getötete Kinder zu retten, ist rührend. Erinnert ein wenig an den ersten Band mit den deutschen Abenteuern. Bei einer Jahreszahl wie 1935 zucke ich ja immer zusammen. Aber in Schottland war damals die Welt ja noch (fast) in Ordnung. Interessant war auch das Zusammentreffen mit der alten keltischen Zivilisation unter der Erde. Ein insgesamt schöner Abschlussband, reich ausgestattet und optisch ansprechend. Hat mir gefallen.
Hans-Dieter Steinmetz: 365 Tage Karl May
Ein Begleiter durch das Jahr, in dem man für jeden Tag des Jahres einige Ereignisse aus karl Mays Leben lesen kann. Darin finden sich Hinweise auf Geburt und Tod von Familienangehörigen, seine kurze Lehrerkarriere und wie sie endete, seine Hochstapeleien und Bedtrugsversuche, litearische Erfolge, Auszüge aus der Korrespondenz, Gerichtsprozesse und die Karl-May-Hatz, Reisen, Vorträge, Erkrankungen, einfach alles, was in seinem Leben irgendwie dokumentiert und mit Datum festgehalten wurde. Dazu gibt es für jede Woche einen dopppelseitigen Essay zu unterschiedlichen Themen. Ein sehr interessantes Buch, das ich jeden Morgen zum Start in den Tag aufgeschlagen habe. Allerdings: Eine Behauptung des Autors stimmt nicht. Der Titel enthält eine Falschaussage: Das Buch enthält nämlich in Wirklichkeit nicht Einträge für 365 Tage, sondern für 366 Tage. Ich war also für das Schaltjahr 2024 bestens ausgestattet.
Bessy 28: Die versteckte Beute
Ein reisender Händler kommt auf die Ranch, will seine Waren anbieten und zeigt ein paar beeindruckende Zaubetricks. Doch der Mann ist nicht nur ein netter Kerl, sondern er hat ein Geheimnis: Er will die Beute, die sein Bruder bei einem Banküberfall gemacht hat, finden und den Behörden übergeben. Ein paar schwer interpretierbare Verse seines Bruders sollen ihm den Weg zum Versteck weisen. Die Sache wird nicht ganz ungefährlich, denn eine Banditenbande heftet sich an seine Fersen und will die Beute geleichfalls haben. Andy und Bessy helfen ihm. Unterwegs erhalten sie unterstützung von Pueblo-Indianern. Andy lernt einige süber ihre Kultur. Und Bessy hat ein paar liebenswürdige Begegnungen mit anderen Tieren.
Hörbuch/Hörspiel
James Krüss: Die Fabelinsel
Geschichte einiger Schiffbrüchiger, die sich auf eine Insel gerettet haben. Um die Zeit bis zu ihrer Rettung zu überbrücken, erzählen sie sich Fabeln. Eine Schiffbrüchige erzählt von einer Taube, die Gefajr läuft, von einem Adler gepackt und gefressen zu werden. Ähnlich wie Scheherazade in den Märchen aus 1001 Nacht hält sie ihn mit iher Erzählkunst so lange hin, bis der Fluchtweg hinter ihr frei ist. Ein anderer trägt gereimte Äsop-Fabeln vor. Das Herzstück aber ist der große "Sängerkrieg der Heidehasen", in der es um die Hand der Prinzessin geht. Der begabte junge Hase Lodengrün scheint die besten Gewinnchancen zu haben, und ihn würde die Prinzessin auch gern zum Mann haben. Aber da sist noch der alte fette Magister Wackelohr, der etwas vom Dichten und Singen versteht. Der Gesangsminister gibt ihm zu verstehen, dass er ihm durchaus den Sieg verschaffen und Lodengrün disqualifizieren könne, gegen eine entsprechend hohe Bestechungssumme, versteht sich. Die beiden Finsterlinge schmieden eine Intrige, um den talentierten Lodengrün auszuschalten. Aber Lodengrün hat Glück, gute Freunde und Talent ... Ein herrlicher Spaß, und insgesamt eine schöne Sammlung und sehr angenehm vorgetragen vo Friedhelm Ptok. Da möchte man glatt auch schiffbrüchig werden.
Heinrich Heine: Der fliegende Holländer (Gruselkabinett, Folge 22)
Ein Gruselhörspiel auf der Basis des Heine-Textes aus den "Memoiren des Hern von Schnabelewopsky", der auch die Vorlage zu Richard Wagners Oper über dne Holländer war. Wobei die Heine-Geschichte dramatisiert und sehr frei verwandt wurde, sie ist eher als eine Inspirationsquelle - neben der Wagner-Oper - zu betrachten. Die Hörspiel-Macher haben die Sache mit einer sehr verdrechselten Rahmenhandlung versehen, beid er man am Anfang nicht genau weiß, worauf es eigentlich hinauslaufen soll. Man hört zunächst Stimmen an Bord, Seeleute, die sich mit ihrem Kapitän darüber streiten, ob man den Versuch, das Kap der Guten Hoffnung zu passieren, nicht angesichts des schweren Sturms und hohen Seegangs aufgeben soll. Daraufhin tut der Kapitän seinen gotteslästerlichen Schwur, das Kap zu umfahren, und müsse er auch für alle Ewigkeit gegen den Sturm ansegeln. Dann gibt es mehrere weitere Einstiege und Erzählebenen. Ein ehemaliger Prinzenerzieher wird im Jahr 1888 von seinem ehemaligen Schützling in eine Opernaufführung eingeladen. Es gibt Wagners "Holländer", und beide erinnern sich daran, dass der Kapitän ein "alter Bekannter" sei. Denn der Lehrer und sein Schüler waren während der Marineausbildung des letzteren an Bord eines Schiffes, das dem Holländer begenet war. Zuerst ist der Lehrer der Ich-Erzähler, dann der Prinz, schließlich bittet der Prinz den Lehrer, ihm näheres über das geheimnisvolle Schiff mit den roten Segeln zu erzählen. Nun folgt das eigentliche Hörspiel über den Holländer und seine Liebe. Der Verfluchte darf nämlich alle sieben Jahre an Land gehen und sich eine Ehefrau suchen. Bleibt sie ihm treu bis in den Tod, so wird er erlöst. Bricht sie ihm die Treue, muss sie sterben. Nun sind wieder sieben Jahre um, und der Kapitän lernt einen reichgen Kaufmann kennen, der ihm verspricht, bei seiner Tochter ein gutes Wort für ihn einzulegen. Sehr fortschrittlich: Der Kazfmann verschachert seine Tochter nicht mehr einfach an einen reichen CShwiegersohn, sondern diese Katharina darf frei entscheiden. Sie sagt jedoch auch ohne väterlichen Druck sofort mit Freuden "Ja". Denn sie hat sich schon vor Jahren unsterblich verliebt in ein uraltes Bild des Holländers, das im Haus hängt. Als nun das Original zur Tür hereinkommt, ist sie sofort hin und weg und wiull ihn unbedingt erlösen. Der Holländer ist zu Tode gerührt. Aber auch er selbst hat sich in diese junge Frau verliebt. Und er will es nicht riskieren, dass sie von dem Fluch getroffen wird, der sie bei einer möglichen Untreue Darum versetzt er sie und sagt die Hochzeit wenige Stunden vor der Trauung ab. Katharina aber, fixiert auf den Gedanken, dem Holländer die Treue zu halten bis zum Tod, stürzt sich von einer Klippe ins Meer. So stellt sie sicher, dass sie die Ehe niemals brechen kann. Bei Heine und Wagner ist der Holländer dadurch erlöst, der Fluch ist aufgehoben. Das vorliegende Hörspiel dagegen gönnt dem Holländer die Erlösung nicht. In der Hörspielfassung wird, völlig zu recht, darauf hingewiesen, dass die beiden ja zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht offiziell verheiratet waren. Der Holländer hat sie vor der Trauung in der Kirche sitzen gelassen, demnach war "vor Gott" der BUnd noch nicht geschlossen. Das schöne, heroische Opfer der jungen Frau gilt also nicht, und der Holländer ist weiterhin verdammt dazu, für alle Erwigkeit auf dem Meer herumzuirren. Was auch die Begegnung des Prinzen und seines Erziehers mit dem Schiff belegt.
Insgesamt ein gut gemachtes Hörspiel, atmosphärisch und stimmungsvoll, nicht unbeding gruselig, eher literarisch. Die komplizierte, mehrfach geschachtelte Rahmenhandlung wirkt etwas ungelenk, aber man kommt dann doch noch ganz gut rein. Einen Pluspunkt gibt es für das böse Ende.
Weitere Jahresrückblicke
Teil 1 - Januar bis März 2024
Teil 2: April bis Juni 2024
Teil 3: Juli bis September 2024
Teil 4: Oktober bis November
© Petra Hartmann