

Lena Richter: Dies ist mein letztes Lied
Bücher - SF Lena Richter ohneohren
"Dies ist mein letztes Lied" - diese Ankündigung eines Musikers beinhaltet mehr als eine Ansage kurz vor Ende eines Konzerts. Lena Richter machte diesen Satz zum Dreh- und Angelpunkt ihres gleichnamigen Episodenromans. Achtmal erlebt die Hauptfigur etwas Besonderes am Ende eines Konzerts - und lernt dabei unterschiedliche Welten und politische oder soziale Konstellationen kennen.
Gerüchteweise hat wohl jeder in diesen Welten schon von ihnen gehört: seltsame, besondere Türen, die sich plötzlich auftun, unerwartet, unberechenbar und nur für eine einzelne, ausgewählte Person. Wer durch sie hindurchschreitet, verschwindet aus seiner Welt. Wohin er gelangt und wozu ihn das Portal auserwählt hat, weiß niemand. Aber wer würde jemals eine solche Einladung ausschlagen?
Der Held dieser Geschichte ist Qui. Oder ist es eine Heldin? Dies bleibt durch Ich-Perspektive offen und ist wohl auch so gewollt. Die Autorin gendert in ihrer Erzählung, verwendet Partizipien für Personen, deren Geschlechtsbezeichnung offen bleiben soll oder schlichtweg egal ist, nutzt Sternchen, aber auch Neopronomen für ausdrücklich nonbinäre Charaktere wie Mx. Jhirpa, dier Qui Unterricht am E-Piano gegeben hat. Das bedarf der Gewöhnung, eine Gewöhnung ist jedoch möglich. (Letzten Endes ist es völlig egal, welches Geschlecht die Hauptfigur hat, aber ich gehe hier ausdrücklich darauf ein, um zu erklären, warum ich im Folgenden mit den Pronomen etwas herumeiere ...)
Verpasste Jugendträume und eine graue Durchschnitts-Existenz
Qui ist eine der zahllosen durchschnittlichen Existenzen auf einem Planeten, auf dem alles und jeder auf ein riesiges Wirtschaftsunternehmen ausgerichtet ist. In jungen Jahren haben die Bewohner noch Träume und Ziele, wollen weggehen, sparen darauf, sich eine Existenz auf einem anderen Planeten zu gründen. Aber wie das so ist mit Jugendträumen: Irgendwann hat man sich arrangiert, lebt halbwegs angepasst und zufrieden, zumindest satt. Aber dann kommt Qui zusammen mit zwei Freunden in eine Bar. Ein Wettbewerb läuft. Wer am besten auf dem E-Piano spielt, gewinnt drei Getränkegutscheine. Eigentlich will Qui gar nicht so recht. Doch dann kommen all die Erinnerungen wieder hoch. Die Träume, die Musik, der Zauber der Tasten, die Enttäuschungen, all die Gefühle und Sehnsüchte, die tief in Quis Brust vergraben lagen, zugedeckt mit einer Decke aus Alltagstrott und Müdigkeit. Es ist etwas Besonderes, das Qui dort auf den Tasten erschafft. Oder nicht erschafft, sondern quasi als Medium in die Bar hineinruft. Wie besonders, das merken die Zuhörer spätestens, als sich vor Qui die Tür manifestiert.
Qui ist berufen. Aber zu was? Klar ist, dass Qui zögernd, aber dann sehr bewusst die Entscheidung trifft, die Tür zu durchschreiten. Und klar wird bald, dass das Universum für Qui nicht die Rolle eines strahlenden Helden oder Erlösers vorgesehen hat.
Lektionen in Bescheidenheit
Frieden stiften auf einem Planeten, dessen Bewohner seit Äonen miteinander Krieg führen, kann Qui jedenfalls nicht. Tatsächlich ist die Lektion, die das Universum für Qui bereithält, ein sanftes "Bleib auf dem Teppich." Oder sollte es tatsächlich doch um mehr gehen? Tatsache ist, dass Quis Lieder offenbar etwas ganz Besonderes sind. Dass am Ende jeder Episode, wie abgelegen und sonderbar der Planet und die Gesellschaft auch sein mögen, sich in Quis letztem Konzert auf dieser Welt etwas manifestiert, das größer ist als die Kunst eines 08/15-Klavierspielers. Es kommt der Tag, der Augenblick, in dem Qui in einem fast übersinnlichen Rausch beziehungsweise in einem Zustand höchster Bewusstheit all die Träume und unerfüllten Wünsche, die Tragik und Schönheit seiner Welt in Musik verwandelt. Qui weiß es vorher, kann mit vollkommener Gewissheit ankündigen: "Dies ist mein letztes Lied" - und tatsächlich: Wieder erscheint die Tür.
Leichtfüßige Künstlernovelle
Lena Richters Geschichte ist weniger ein dickleibiger Weltenroman als vielmehr eine leichtfüßige Künstlernovelle, eine schwerelose Fingerübung auf der Klaviatur des Universums, die gerade in der Leichtigkeit gewichtige Gedanken zum Klingen bringt. Es ist eine Liebeserklärung an die Musik und eine Erinnerung daran, dass wir bei allem vermeintlichen Funktionieren-Müssen, bei aller Kleinheit und Unbedeutendheit doch noch etwas in uns tragen, das größer ist und heraus muss. Und wer weiß, vielleicht öffnet sich demnächst doch eine dieser seltenen Türen für uns.
Fazit: Musikalisches Märchen über Möglichkeiten und Lebensmelodien, über das Scheitern und den Zauber einer jeden Welt. Ein Buch, das man nicht so schnell vergisst.
Lena Richter: Dies ist mein letztes Lied. Wien: Verlag ohneohren, 2023. 149 S., Euro 8,49.
© Petra Hartmann