

Martin Bolik: Der Junge, der die Zeit besiegte
Bücher - phantastisch Martin Bolik
Luke Wild trifft auf das Zeitschiff Unicorn: In seinem neuen Buch „Der Junge, der die Zeit besiegte“ führt der Wiedelaher Autor und Hörspielmacher Martin Bolik zwei Erzählprojekte zusammen, die ihn schon seit Längerem beschäftigen. Der junge Kire aus der Zeitschiff- und Zauberkoch-Serie trifft auf Luke Wild, den Anführer der Brockenbande. Erschienen ist das Buch im Verlag EPV, der eigentlich bekannt ist für seine Harzkrimis. Eine Ausnahme, aber der Harz-Bezug ist auf jeden Fall eindeutig gegeben.
Es geht um Erik Slowik, genannt Birdy, der aus den Brockenbande-Abenteuern bereits bekannt ist. In den Harzer Sagenerzählungen aus Lukes Hörspiel-Kosmos wurde er gesprochen von Heinz Hoenig. Diesmal wird aber nicht mit dem Großvater, sondern über ihn geredet. Ein ehemaliger Harzer Schmuggler, Ballonpilot und bei allen Familienbanden doch ein etwas zugeknöpfter, geheimnisvoller Charakter. Luke hätte keine Chance, etwas über die Jugend seines Opas zu erfahren, wenn auch dessen Rabe, Pjotr, den Schnabel halten würde.
Eine lange Nacht im Sender
Doch Pjotr, der Erik seit dessen Jugend begleitet hat, bestellt Luke eines Abends in die Radiostation von Onkel Paul, in dem der Autor sich selbst verewigt hat. Es wird eine lange Nacht, in der Pjotr, Luke und Paul sich die Geschichte Birdys erarbeiten. Ein Dialog zu dritt, wobei die jeweiligen Sprecher im Buch durch verschiedene Schriftarten gekennzeichnet sind.
Eriks Abenteuer beginnt in einer Situation, in der Abenteuer eigentlich gar nicht möglich sind: Ein Junge ohne Gedächtnis taucht im Jahr 1945 im Harz auf und wird in ein Kinderheim gebracht, wo er jahrelang im Wachkoma liegt. Aber es ist offenbar kein gewöhnlicher Junge, denn in seinem Notizbuch findet sich eine Skizze, die eine Sternscheibe mit einem fliegenden Schiff darstellt. Ein Schatz, den die Heimleiterin unbedingt finden will. Ihre Versuche, Erik zum Sprechen zu bringen, scheitern jedoch. Nur einer Schwester, die bald entlassen wird, gelingt es, mithilfe einer Spieluhr, Eriks Sinne zu wecken. Das Lied „La Paloma“ und das Rauschen eines Radios sind die wichtigsten Reize für Erik in dem abgedunkelten Zimmer. Jahrelang liegt Erik so in dem Heim. Bis die Zeit für seinen „Ausgang“ reif ist. Die Heimleiterin schickt ihn auf eine Reise in die Zwischenwelt und zurück in die Vergangenheit. Seine Aufgabe: Einen Meistererzähler aus den Pommerellen finden – und die verschollene Sternenscheibe aufspüren.
Heimkehr in die Pomerellen
Die Pommerellen sind Altfans des Bolik-Universums bekannt: Aus diesem Landstrich im heutigen Polen stammt Kire, der bereits als Kapitän des Zeitschiffs Unicorn fungierte, ein Junge auf der Flucht vor Kriegsereignissen und den furchtbaren „Traumlosen“.
Erik und Kire. Wer das Buch liest, in dem an manchen Stellen rückwärts geschriebene Texte und Wörter als Geheimcode verwandt werden, wird vermutlich eher als Erik selbst auf die Idee kommen, dass der Junge ohne Gedächtnis eigentlich auf der Suche nach sich selbst ist. Ein 13-jähriger Junge aus den Pommerellen, dessen Familie durch Krieg und Flucht auseinandergerissen wird und der an Bord eines Schiffs geht, das sinken wird.
Liebeserklärung an das Erzählen
„Der Junge, der die Zeit besiegte“ ist eine Liebeserklärung an das Erzählen und die Fantasie und zugleich eine Auseinandersetzung mit der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Auch einige autobiografische Züge des Verfassers und die eigene Familiengeschichte haben in das Buch Eingang gefunden. Interessant ist, wie Bolik mehrere Zeitebenen miteinander verwoben hat: Rabe Pjotr erzählt vom Waisenhaus und den Jahren nach 1945. Von dort aus taucht Erik zurück in die Welt des 15-jährigen und in einer zweiten Zeitreise in die Welt des 13-jährigen Kire. Das Besondere ist, dass Luke Wild, der die Begabung des „dritten Auges“ hat, die Erzählung des Raben nicht einfach nur passiv aufnimmt, sondern in besonderen Momenten alles tatsächlich genau vor sich sieht und manchmal selbst die Führung übernimmt und beschreibt, was er sieht und miterlebt. So wird das Buch zu einem melodischen, gut durchkomponierten Klangerlebnis, selbst wenn der Leser „nur“ die Druckversion vor Augen hat. Wer die Stimmen von Boliks Sohn Erik Elias und von Santiago Ziesmer aus den Brockenbande-Geschichten kennt, wird auch beim stummen Lesen bereits die Hauptdarsteller sprechen hören. Für alle, die sich Erik-Kires Abenteuer lieber vorlesen lassen möchten, gibt es die Erzählung auch als Hörbuch, gesprochen vom Autor, Luke und Pjotr.
Seit über 80 Jahren mit dabei
Wie alt wird eigentlich ein Kolkrabe? Die Angaben schwanken zwischen 21 und 30 Jahren, die gut gepflegten Raben im Londoner Tower sollen bis zu 44 Jahre erreichen. Pjotr, der die Familie seit über 80 Jahren begleitet, scheint ein Wundertier zu sein. Aber wenn Opa Birdy gut 20 Jahre jünger aussieht, als er sollte, und als „Junge, der die Zeit besiegte“ betitelt wird, dürfte auch Pjotr vom Sieg über die Zeit profitiert haben.
Das Buch wird vom Verlag als „All-Ager“ beworben. Leser unterschiedlicher Altersgruppen werden jeder für sich andere Erfahrungen damit machen. Ältere haben mit ihrem Wissen über Krieg und Flucht vielleicht einen kleinen Vorsprung, können sich aber von Kindern auch gern über die Brockenbande aufklären lassen. Vielleicht wird es ein Buch, das „mitwächst“ und das der Leser nach einigen Jahren erneut zur Hand nehmen kann, um Neues und Anderes darin zu entdecken. Etwas Konzentration und die Bereitschaft, sich in die Welten von Kire, Erik und Luke einzudenken und den Erzählern durch die Zeiten zu folgen, sollten die Leser schon mitbringen. Es ist kein Buch, das man mal eben nebenbei liest. Vorkenntnisse sind nicht unbedingt erforderlich. Für die Leser und Hörer, die schon länger dabei sind, gibt es aber ein schönes Wiedersehen mit vertrauten Figuren.
Fazit: Liebevoll gestalteter Roman für Kinder und Erwachsene, der die bereits bekannten Welten von Luke Wild und Zeitschiff Unicorn miteinander verbindet. Für Neueinsteiger mag dies eine kleine Hürde sein, doch lässt sich das Buch auch ohne Vorkenntnisse lesen. Durch die Verbindung von Buch und Hörspiel gibt es auch für Leseanfänger eine gute Möglichkeit des Einstiegs.
Martin Bolik: Der Junge, der die Zeit besiegte. Duderstadt: EPV, 2025. Hardcover, 294 Seiten. 19,95 Euro. Auch als E-Book und Hörbuch erhältlich. Das Hörbuch wird unter anderem als Stream über eine Spieluhr mit QR-Code verfügbar sein, die das Leitmotiv „La Paloma“ spielt.
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© Petra Hartmann