

Hans-Martin Gutmann: Iwans Entsetzen
Krimi/Thriller Goslar Hans-Martin Gutmann
Nur der Bernhardiner ist Zeuge eines grausamen Mordes in Hans-Martin Gutmanns sechstem Bentoff-Krimi "Iwans Entsetzen". Der ermittelnde Dorfpastor hat sich mit einem Leichenfund in seinem Kirchturm und mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger auseinanderzusetzen.
Ein Adventsgottesdienst. Plötzlich Hundewinseln aus dem Kirchturm. Die Tür ist von innen verschlossen. Als Pastor und Jugendfeuerwehr die Tür aufbrechen, bietet sich ihnen ein Bild des Grauens: Der Schulleiter, erschlagen mit einem Baseballschläger. Daneben sein Hund mit zertrümmertem Schädel und verspritzter Hirnmasse und der Bernhardiner des Pastors, noch lebend, aber vollkommen verstört.
Krimi-Autor Hans-Martin Gutmann lässt seinen Dorfpastor Lukas Bentorff ein sechstes Mal ermitteln. Nach vier „Wende“-Krimis und einem ersten Gegenwarts-Abenteuer folgt nun ein weiterer tagesaktueller Einsatz des ermittelnden Dorfpastors. Und das „tagesaktuell“ ist durchaus wörtlich zu verstehen.
Besonders unappetitliches Thema
Der Roman des emeritierten Theologie-Professors und gebürtigen Goslarers Hans-Martin Gutmann trägt den Titel „Iwans Entsetzen“ und widmet sich einem besonders unappetitlichen Thema. Es geht um Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Nach und nach entdeckt Bentorff, dass der erschlagene Schulleiter Joachim Kuhlen offenbar gar nicht so ein unbescholtener und beliebter Mann war, wie man es in Nachrufen und Grabreden routinemäßig sagen würde. Schon als Kuhlen, der ursprünglich Theologe werden wollte, sein Vikariat abbrechen musste, war wohl „etwas“ vorgefallen.
Ermittlungsarbeit und Seelsorge-Alltag
Wie in den vorherigen Bentorff-Romanen macht die Ermittlungsarbeit nur einen Teil der Handlung aus. Die Leser erleben den Pastor beim Seelsorger-Alltag in seiner kleinen fiktiven Gemeinde im Salzgitter-Gebiet, beim nächtlichen Brüten über dem Predigttext für den nächsten Morgen, als Helfer im sozialen Markt des Dorfes oder in seiner Verdrießlichkeit, wenn ein Pärchen, das mit der Kirche nichts am Hut hat, unbedingt von ihm getraut werden will, weil ein priesterlicher Segen mit zur Show gehört.
Bentorff hat einiges zu tun, immerhin ereignet sich der spektakuläre Leichenfund ausgerechnet während eines Adventsgottesdienstes, nämlich am vierten Advent 2024. Auch sonst ist der Roman brandaktuell. Er verarbeitet Ereignisse wie den Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt und den Bruch der Ampel-Koalition. Ein Beleg dafür, wie schnell der Krimi geschrieben wurde. Nicht immer zum Vorteil des Textes.
Klassisches Krimi-Motiv
Der Mord in einem von innen verschlossenen Raum, in dem sich doch kein Täter finden lässt, ist ein klassisches Motiv der Kriminalliteratur. Eine Tradition, der sich Bentorff und seine ermittelnde Doppelkopf-Runde selbst bewusst sind. Tatsächlich lässt sich das Problem sogar recht schnell lösen, bereits auf Seite 100 von 180 haben die Ermittler eine klare Vorstellung davon, wie der Täter entkommen konnte.
Iwan, der Titelheld des Romans, ist der einzige Zeuge. Es handelt sich um den Bernhardiner des Pastors. Der Hund ist zwar nicht physisch, wohl aber psychisch schwer mitgenommen, frisst nicht, trinkt nicht, liegt apathisch da, steht unter Schock. Iwan weist einige Besonderheiten auf. So ist er schwul und schwer verschossen in Kuhlens Rüden Soljanka, dessen Rasse nicht erwähnt wird. Wenn er eine Katze verjagen kann, ist er „stolz wie zwölf Friseure“. Da Iwan oft das Haus verlassen will, hat der Pastor sogar eine eigene Bernhardiner-Klappe in die Tür zum Pfarrhaus eingebaut. Eigentlich kein Wunder, dass das Tier eines Nachts verschwunden ist.
Ein Roman, der Fragen aufwirft
Dass ein Schulleiter in Anwesenheit zweier Hunde erschlagen werden kann, ohne dass der Mörder später die geringste Bissspur aufweist, klingt befremdlich. Über Größe und Rasse Soljankas erfährt der Leser zwar nichts, aber hätte nicht zumindest der große Bernhardiner Iwan spätestens eingegriffen, als sein Geliebter erschlagen wurde? Warum hörte niemand Heulen und Kampf-Gebell? Soll etwa das unspezifische Bellen, das der Pastor einmal kurz in der Nacht vor dem Adventssonntag hörte, den Tatzeitpunkt bezeichnen? Wieso verhielt sich der unverletzte Iwan so still und winselte erst im Verlauf des Gottesdienstes?
Fragwürdig erscheint auch ein (fiktiver) Zeitungsartikel des Weserkuriers, der den Pastor auf die richtige Spur bringt: In der Notiz wird über den Selbstmord einer jungen Frau berichtet, die sich in Bremen vor einen Zug geworfen hat. Abgesehen davon, dass Zeitungen, wenn überhaupt, ausgesprochen zurückhaltend über Suizide berichten: Niemals würde ein seriöses Medium wie der Weserkurier die Initialen der Toten veröffentlichen. Und dass die beiden Buchstaben nun auch noch den Schlüssel zu einem Mord im Salzgitter-Gebiet liefern sollen? Sehr unwahrscheinlich.
Liegengelassene Fäden
Ein paar Fäden bleiben liegen. So wird der Pastor Zeuge, als ein kleiner Junge gegen seinen Willen in einen Lieferwagen gezerrt wird. Eine Entführung? Bentorff reagiert zu spät, kann sich gerade noch das SZ-Kennzeichen merken, ruft nicht die Polizei. Der Junge kommt im Buch ohnehin nicht weiter vor. Was wurde aus dem Sattelschlepper, der nachts durch die engen Dorfstraßen heizte und den Zaun des Pfarrhauses umlegte? Das Fluchtfahrzeug war er wohl nicht. Anzeige und Fahndung wegen Fahrerflucht erfolgten auch nicht, obwohl eine Nachbarin sogar das Nummernschild gefilmt hat. Reparaturarbeiten, Schadensbegutachtung? Fehlanzeige. Eine Ermittlung gegen einen befreundeten Pastor wegen angeblicher Unterschlagung von Spendengeldern fällt genauso unerwartet in sich zusammen, wie sie auftauchte. Ein mysteriöser Anruf aus dem Landeskirchenamt. Ein plötzlicher Verkehrsunfall. Insgesamt ein paar Plötzlichkeiten und unvernähte Fäden zu viel für ein 180-Seiten-Buch.
Sprachliche Macken
Einige sprachliche Macken, vor allem im ersten Kapitel, hätte das Verlagslektorat eigentlich beseitigen müssen. Da ist etwa die Rede von „fünf geschlagenen Tagen“ (Tage werden nicht geschlagen, allenfalls Stunden). Auch ein weiterer Korrekturdurchgang hätte dem Buch gutgetan.
Gutmann kann gut schreiben, er hat eine schöne, gepflegte Sprache, seine Bücher lassen sich leicht und flüssig lesen. Die Bentorff-Bücher sind im Bereich der Lokalkrimis durchaus dem oberen Drittel zuzuordnen. Aber die Intensität und Stärke der Wende-Tetralogie erreicht dieser sechste Einsatz des ermittelnden Pastors nicht. Die fundierte Aufarbeitung der Wiedervereinigung und ihrer Schatten in den ersten vier Bänden steht in keiner Relation zu den in den sechsten Band eingebauten Versatzstücken aktueller Tagespolitik. Geschwindigkeit ist ein nettes Gimmick, aber eben nicht alles. Autor und Verlag sollten sich für einen eventuellen siebten Band unbedingt mehr Zeit nehmen.
Fazit: Spannend und flüssig geschrieben, jedoch stellenweise etwas unsauber gearbeiteter Lokalkrimi. Ein paar Fäden bleiben liegen, und manches klingt unglaubwürdig. Lesbar, aber der Autor kann es besser.
Hans-Martin Gutmann: Iwans Entsetzen: Lukas Bentorffs sechster Fall. Thriller. Berlin: Omnino Verlag, 2025. 180 S., Euro 16.
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© Petra Hartmann