Jahresrückblick 2025: April bis Juni
Willkommen zum zweiten Teil meines Lese-Jahresrückblicks. Die Monate April, Mai und Juni bescherten mir erneut Comic-Klassiker, etwas Historisches, etwas Horror, SF, schwedische Erzählungen, etwas über Sprache und viele Hörbücher. Viel Spaß damit, vielleicht ist ja etwas für euch dabei.
Hinweis:
Etwaige blau markierte Texte sind herausragende Spitzenbücher, rot steht für absoluten Mist, ein (e) hinter dem Titel bedeutet, dass ich den betreffenden Text in der eBook-Version gelesen habe, und hinter den Links verbergen sich ausführlichere Besprechungen innerhalb dieses Blogs.
April
Tim und Struppi. Gesamtausgabe
Band 6 (Fortsetzung)
- Reiseziel Mond
- Schritte auf dem Mond
Band 7
- Der Fall Bienlein
Reiseziel Mond: Hach, die ikonische rotweiß-karierte Mondrakete. Die hat in meiner Jugend in jeder Bahnhofsbuchhandlung und in jedem Comicshop gestanden. Ist es Zufall, dass das rotweiß-karierte Muster ein wenig an die schwarzweiße V2 erinnert? Hm ...
Der geniale Professor Bienlein entwickelt im Land Syldavien eine Mondrakete. Und Tim und Kapitän Haddock sollen mit an Bord sein, wenn die Menschheit erstmals den Erdtrabanten betritt. Bis zum Abschuss - es ist erneut ein Doppelabenteuer und wird im Folgeband fortgesetzt - geschehen allerhand abenteuerliche Dinge. Spione wollen die Pläne klauen, die erste Testrakete entführen, es passieren Einbrüche, Tim wird sogar angeschossen. Daneben gibt es allerhand liebenswürdige Einzelheiten, etwa den niedlichen Hunde-Raumanzug für Struppi oder dass Bienlein sein Hörrohr mit der Pfeife Haddocks verwechselt. Ja, tatsächlich: Bienlein kann in diesem Band stellenweise ganz normal mit den anderen kommunizieren, durch ein Hörrohr oder ein kleines Hörgerät, allerdings sind diese Hilfsmittel auch manchmal außer Gefecht gesetzt. Eine ganze Menge slapstickhafter Einlagen gehören natürlich auch dazu. Meist trifft es Haddock, der stolpert, stürzt, sich selbst mit der Antenne seines Raumanzugs schlägt, aber auch Bienlein geht mal zu Boden, und die Schul(t)zes - sehr nett in griechischer Tracht - machen das Chaos perfekt. Als Bienlein aufgrund eines Unfalls sein Gedächtnis verliert, ist es Haddock, der mit grenzenloser Phantasie immer neue Schock- und Erschreckversuche unternimmt, um ihn zurückzuholen. Am Ende dann der Start und ein heftiger Cliffhanger: Die Besatzung ist nach dem Start ohnmächtig, die Rakete jagt durchs All, Funksprüche der Bodenstation bleiben unbeantwortet. Fortsetzung folgt.
Schritte auf dem Mond: Zweiter Teil des Mondabenteuers. Tim und Struppi, Professor Bienlein, Kapitän Haddock und der Wissenschaftler Wolff kommen nach dem Start wieder zu sich und sind bereit für die Landung auf dem Mond. Was sie nicht geahnt haben: Aus Versehen sind auch die beiden Schul(t)zes mit an Bord, die eigentlich nur den Laderaum inspizieren wollten, sich aber in der Abflugzeit um 12 Stunden (pm und am) vertan haben. Zwei zusätzliche Personen, das bedeutet: Der Sauerstoff reicht nicht so lange wie geplant, die Aufenthaltszeit auf dem Mond muss also verkürzt werden. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt: Es gibt noch einen weiteren blinden Passagier an Bord. Ein feindlicher Agent hat den Auftrag, mit der Rakete zu starten, wenn die Mannschaft sie verlassen hat.
Auf dem Hinflug gibt es einen tollkühnen Stunt Tims, der Kapitän Haddock im luftleeren Raum wieder einfangen muss. Haddock hatte Whisky an Bord geschmuggelt und nach einem tiefen Zug aus der Pulle das Schiff verlassen. Außerdem gibt es eine Haarkatastrophe: Die beiden Geheimagenten erleiden einen Rückfall von den Pillen, die sie im jüngsten Wüstenabenteuer geschluckt hatten: Ihre Haare wuchern wie bei Rapunzel und nehmen die prächtigsten Farben an. Haddock mutiert zum fluchenden Bordfriseur. Sehr schön ist später die Ballettszene der beiden Agenten unter der geringeren Gravitation der Mondlandschaft. Es gibt eindrucksvolle Landschaftsbilder, eine beeindruckende Höhlenlandschaft mit Stalagmiten und Stalagtiten, eine gefährliche Eisfläche, tiefe Schluchten. Dann einen Überfall des Agenten, von Tim mit Schraubenschlüssel und Revolver vereitelt. Schließlich die Rückreise, auf der die gesamte Mannschaft zu ersticken droht, und ein heroisches Selbstopfer Wolffs, der aus der Rakete aussteigt, um den anderen seinen Sauerstoff zu überlassen. Wolff sah es auch als Sühne an, denn er hatte sich wegen seiner Spielschulden von dem Agenten erpressen lassen und ihm geholfen an Bord zu kommen. Sehr schönes, hochdramatisches Abenteuer, bei dem aber auch der Humor nicht zu kurz kommt.
Der Fall Bienlein: Eine nicht gerade anspruchsvolle Geschichte, in der es eigentlich nur um Verfolgungsjagden geht. Professor Bienlein hat eine geniale, aber auch gefährliche Erfindung gemacht. Aufbauend auf der Forschung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg entwickelte er ein Gerät, das Glas zerstören kann. Im Mühlenhof gehen durch seine Versuche die Fenster kaputt, Flaschen eines vorbeifahrenden Molkereifahrzeugs zerbrechen, aber das Schlimmste ist, dass Kapitän Haddocks Whiskyglas zersplittert. Bienlein wird daraufhin von Ganstern entführt, die im Dienste Borduriens stehen, des Nachbarlands von Syldavien. Tim und der Kapitän immer hinterher. Es gibt einige rasante Autofahrten und einen Stunt mit einem Hubschrauber. Sehr nett sind zwei recht große "Wimmelbilder" nach Verkehrsunfällen auf den jeweiligen Verfolgungsjagden. Tim und Haddock können den Professor schließlich befreien, indem sie als Bevollmächtigte eines bordurischen Befehlshabers auftreten, dem sie die entsprechenden Beglaubigungsschreiben geklaut haben. In dieser Folge treten zwei Nerv-Faktoren erstmals auf. Erstens die ständigen Telefonverwechslungen mit der Metzgerei Schnitzel und zweitens der hartnäckige Versicherungsvertreter Fridolin Kiesewetter, der sich mit der ihm eigenen Dickfelligkeit im Mühlenhof einnistet. Nein, da schließe ich meine Versicherungen lieber bei Wayne Schlegel von der Michigan Lebens- und Unfallversicherung ab.
Fabia Waldner: Das Magnolienhaus 2 - Flügel der Freiheit
Die Verfasserin respektive der Verfasser lebt in Hahnenklee bei Goslar, daher habe ich das Buch für die Goslarsche Zeitung besprochen. Ich schrieb darüber Folgendes:
Die Saga um die Familie Eimermacher geht weiter. Unter dem Titel „Flügel der Freiheit“ legt Fabia Waldner den zweiten Teil ihrer Trilogie über drei Generationen einer Bonner Bau-Dynastie vor. Wobei hinter dem offenen Pseudonym Fabia Waldner jemand steckt, der sich in Bonn und Umgebung bestens auskennt: Der Hahnenkleer Autor Michael oder Mick Schulz, Jahrgang 1959, ist gebürtiger Bonner, Sohn eines Düsseldorfers und bekennender Enkel einer rheinländischen Großmutter, der er einen Großteil seiner Inspiration verdankt, wie er der GZ verriet. Der Roman, erschienen bei Aufbau Digital, ist nicht als gedrucktes Buch zu haben. Es gibt nur eine E-Book-Ausgabe. Außerdem ist die Geschichte als Hörbuch erhältlich.
„Flügel der Freiheit“ – das ist ein optimistischer, kraftvoller Titel, der auf die Träume und den beschwingten Aufbruch der Heldin Caro Eimermacher Bezug nimmt. Caro hatte sich bereits im ersten Teil des „Magnolienhauses“ mit dem Titel „Der Traum von morgen“ als ausgesprochen freiheitsliebend und selbstbewusst gezeigt. Die Tochter eines Professors und Enkelin eines Bauunternehmers hatte rebelliert, als ihr Vater sie auf dem Heiratsmarkt verschachern wollte, sie hatte dem Dekanssohn Rudi den Laufpass gegeben und damit auch die Universitätskarriere ihres Vaters platzen lassen. Ein Stück Freiheit, für das eine Frau damals allerdings einen hohen Preis zahlen musste.
Tatsächlich zeigt „Flügel der Freiheit“ nicht nur den Flug, sondern auch den Absturz, der einer Tochter aus gutem Hause drohte, wenn sie sich nicht fügte. Genauer gesagt: Das Buch zeigt sowohl die Schicksale widerspenstiger als auch die Schicksale ordnungsgemäß verheirateter Eimermacher-Frauen. Denn dass die biedere Schwester, die Mutter und die Großmutter in ihren Ehen glücklich geworden wären, nein, das kann man nach Lektüre dieses Buchs nicht sagen.
Doch zunächst zu Caro: Der Roman setzt ein mit ihrer Ankunft in Berlin im Mai 1912. Eine Freundin hatte ihr eine Unterkunft bei einem befreundeten schwulen Paar verschafft. Max und Kees sind recht wohlhabend und ermöglichen Caro ein beschwingtes Leben auf der sonnigen Seite von Berlin. Die junge Bonnerin lernt Künstler, Musiker, Schauspieler kennen, einmal ist sogar die berühmte Asta Nielsen in Max‘ Villa zu Gast. Caro, die durchaus als Schönheit gelten kann, strebt eine Karriere als Filmstar an, erlangt auch eine erste Statistenrolle und überlegt sogar, den unsäglichen Namen Eimermacher zugunsten eines klangvolleren Künstlernamens aufzugeben. Aber dann platzen Max‘ Aktiengeschäfte, ein Schuss fällt, und Caro stürzt aus der High Society ab ins Dunkel der ausgebeuteten Dienstmädchen, schließlich in die Welt der Obdachlosen ...
Ein weiterer Handlungsstrang spielt im Jahr 1975 und erzählt von Caros Heimkehr nach Bonn ins Stammhaus der Familie. Für die inzwischen 80-Jährige gibt es ein Wiedersehen mit der jüngsten Schwester Marie. Diese scheint tatsächlich so etwas wie Glück und Erfüllung gefunden zu haben. Obwohl, oder gerade weil auch sie sich dem Vater widersetzte und offenbar eine bekannte und erfolgreiche Wissenschaftlerin geworden ist.
Dazwischen Frauenschicksale: Mutter Mathilde und Schwester Almut werden von ihren Ehemännern betrogen, erfahren Entwertung, Rechtlosigkeit, die Mutter erleidet sogar einen Herzinfarkt. Über den Seitensprung des Großvaters und die Reaktion der Großmutter hatte Waldner bereits im ersten Teil berichtet. Insofern kann man nicht gerade sagen, dass die „braven“ Frauen der Eimermacher-Dynastie, die sich verheiraten ließen und klaglos ihr Ehejoch trugen, die bessere Wahl getroffen haben als die aufmüpfige Caro, trotz ihres gesellschaftlichen Absturzes.
Auffallend ist dabei das vollständige Fehlen von weiblicher Solidarität, als Almut herausfindet, dass ihr Mann sie betrügt, und ihn beobachten lässt. Dass die Mutter, die selbst betrogen worden ist, nicht dem üblen Schwiegersohn, sondern der Tochter Vorwürfe macht, sie habe sich nicht genug Mühe gegeben und mit ihrer Spionieraktion auch noch einen Vertrauensbruch begangen, schmeckt bitter.
Waldner hat einen gepflegten Satzbau und überzeugt durch detailreiche Schilderungen aus der Welt der Bonner und Berliner High Society. Ob Teeservice oder edle Badezimmerkacheln, gerade was das Luxusleben des wohlhabenden Eimermachers und des Pärchens Max und Kees angeht, scheint Waldner akribisch recherchiert oder der rheinischen Großmutter gut zugehört zu haben. Aber auch den Berlinern hat der Autor offenbar ordentlich „aufs Maul geschaut“, und so mischt sich in die Bonner Familiensaga im zweiten Teil unüberhörbar das „Ballinern“ einiger Bekanntschaften Caros.
Unangenehm ist auch hier, wie in Teil eins, die Eigenart, konfliktreichen Begegnungen auszuweichen. Kommt es zu einer dramatischen Begegnung, so bricht Waldner gewöhnlich bei Gesprächsbeginn ab, macht einen Schnitt und liefert hinterher ein Referat im Plusquamperfekt darüber, was wer wie gesagt hatte. So hat der Leser oft das Gefühl, vor dem Fernseher zu sitzen, wenn jemand anderer die Fernbedienung in der Hand hält und bei jeder spannenden Stelle wegzappt. Eine Abfolge von Cliffhangern und „Was bisher geschah“-Zusammenfassungen. Bitte bleiben Sie dran, Frau Waldner. Live ist immer am schönsten.
Fazit: Netter, gut konsumierbarer Frauenroman über Ehe, Widerstand, Luxus und Elend. Angenehm zu lesen, lediglich die vielen Rückblenden stören den Genuss etwas.
Buch-Infos: Fabia Waldner: Das Magnolienhaus. Teil II: Flügel der Freiheit. Aufbau Digital, 2025. Erhältlich als E-Book (entspricht etwa 300 Druckseiten) oder als Hörbuch, gelesen von Uta Simone (Laufzeit: 7 Stunden und 40 Minuten).
Den Krieg übersetzen. Gedichte aus der Ukraine
Sascha Raubal: Kurt in göttlicher Mission
Michael Sommer: Schwarze Tage. Roms Kriege gegen Karthago
Eine sehr schöne, klar strukturierte und gut lesbare Darstellung der drei Kriege, die gewöhnlich als "Punische Kriege" bezeichnet werden. Hier macht der Autor schon im Titel klar, dass Rom eindeutig der Aggressor war, zumindest in den beiden letzten Kriegen. Teil eins war auf jeden Fall auch der Gemengelage auf Sizilien geschuldet, auf einer Insel, auf der viele Völkerschaften aufeinandertrafen: Griechen, Römer, Karthager und weitere Gruppierungen aus aller Herren Länder. Die Karthager gerieten als Verbündete von Syrakus in die Sache hinein. Die Römer standen eigentlich abseits, aber dann war da ein kleines Piratennest, dessen Bewohner Rom um Hilfe riefen - mit der Begründung, sie seien doch auch Römer. Das Argument verfing nicht ganz, wohl aber die Aussicht auf Beute und einen strategisch günstigen Hafen. Die Römer sagten: "Engage!" Und plötzlich war etwas im Gange, das für die damaligen Verhältnisse schon als ein kleiner "Weltkrieg" bezeichnet werden konnte. Sommer unterscheidet zwischen Kriegen unter gleichstarken Parteien und "asymetrischen" Kriegen und macht deutlich, dass sich während der drei Kriege das zu Beginn noch durchaus gegebene Gleichgewicht mehr und mehr zu ungunsten Karthagos verschob. Nach jedem Krieg war die Position Karthagos schwächer, und Rom hat profitierte. Der Bruch des Ebro-Vertrags dürfte schon gezielt und bewusst erfolgt sein. Aus einem Stellvertreterkrieg wurde ein Desaster für Karthago. Der dritte Krieg schließlich - hervorgerufen durch die Salamitaktik eines kleinen Provinzfürsten, der sich der Rückendeckung durch das mächtige Rom sicher war. Karthago musste irgendwann zurückschlagen und den ständigen Provokationen und Geländegewinnen des Numiderkönigs Massinissa einhalt gebieten. Mit fatalen Folgen.
Tja, dass mein Herz eher auf der Seite Karthagos ist, merkt man wohl. Und ich halte es auch ein bisschen mit Sallust, der gesagt hat, dass mit dem Untergang Karthagos auch der Niedergang Roms eingeleutet wurde, weil die Stadt danach keinen Gegner mehr hatte, an dem sie sich messen und wachsen konnte, weswegen in Rom Sitten, Disziplin und Patriotismus verloren gingen. Immerhin, nach der Zerstörung Karthagos hat es nicht mal 50 Jahre gedauert, bis Caesar der römischen Republik den Todesstoß versetzte ...
Henrik Ibsen: Nora. Ein Puppenheim (Hamburger Lesehefte)
Geschichte einer Ehefrau, die zunächst von ihrem Vater, später von ihrem Mann als unmündiges Kindchenfrauchen gehalten und entsprechend behandelt wird. Nora ist seit acht Jahren mit Torvald verheiratet, der nun die Chance hat, Bankdirektor zu werden. Das Püppchen Nora hatte allerdings einmal in ihrem Leben eine selbstständige, heroische Tat begangen, an der sie sich immer wieder das Herz wärmt: Als Torvald zu Beginn ihrer Ehe schwer erkrankte, nahm sie heimlich einen Kredit auf und fälschte die Unterschrift ihres Vaters als Bürgen, um Torvald ein Jahr in Italien zu finanzieren. Der Kredit ist inzwischen heimlich abbezahlt. Allerdings merkt der betreffende Bankmitarbeiter plötzlich, dass die Unterschrift erst einige Tage nach dem Ableben des vermeintlichen Bürgen erfolgte. Da der designierte Bankdirektor den Mitarbeiter wegen einiger anderer krummer Machenschaften entlassen will, versucht letzterer, Nora zu erpressen, damit sie für ihn eintritt. Vergebliche Liebesmüh, denn welcher Mann lässt sich in wirklich wichtigen Fragen schon von einem dekorativen Püppchen reinreden? Der Schwindel fliegt schließlich auf, Torvalt ist entsetzt. Nora nicht minder. Denn dem Mann geht es nur um seine Reputation und darum, die Sache zu vertuschen. Von Liebe oder Anerkennung für ihre entschlossene Tat - immerhin hat sie ihm damals die Gesundheit gerettet - keine Spur. Zutiefst menschlich enttäuscht trennt sich Nora von ihrem Mann. Interessante Kombination und eine klassische ethische Fragestellung. Spannendes Stück, hat mir gefallen. Dazu ein einordnendes Nachwort, das gern ein wenig länger hätte sein dürfen, und ein paar Worterklärungen.
Holger Sonnabend: Antike. 100 Seiten (Reclam)
Die ganze Antike in 100 Seiten? Das ist sportlich, es ist nicht zu schaffen, und vermutlich hat dem Autor bei der Arbeit immer wieder eine Stimme ins Ohr geraunt: "Du hast keine Chance, also nutze sie." Das ganze auch noch fluffig layoutet, mit Bildern und Grafiken aufgelockert. Die Gesamtdarstellung bleibt da notgedrungen an der Oberfläche. Bei den Themen Geschichte, Literatur, Philosophie, Kunst konnte mir der Autor nichts Neues erzählen, ein paar interessante Sachen habe ich im Bereich Alltagskultur und Kuriosa gefunden. Insgesamt eine nette Einstiegslektüre und Übergangsdarstellung, aber das Thema ist nicht gut geeignet für die 100-Seiten-Reihe.
Bessy 82: Der ungebetene Gast
Diesmal eine Aristie der Jenny Cayoon. Während Andy und sein Vater einem Nachbarn beim Bau einer Wassermühle helfen, bleibt dessen kleine Tochter auf der Pineapple-Ranch, wo Jenny und Bessy auf sie aufpassen. Pech nur, dass just an diesem Tag ein aus dem Gefängnis ausgebrochener Verbrecher auf der Ranch ankommt. Er setzt Jenny und das Mädchen gefangen und zwingt Jenny zuvor mit vorgehaltener Waffe, Bessy festzubinden und einzusperren. In der Folge gibt es mehrere Rettungsversuche Jennys, die jedoch immer wieder daran scheitern, dass das Mädchen Panik bekommt. Schließlich ist es Bessy, die in guter Tradition mit einem Zettel am Halsband losgeschickt wird, um Hilfe zu holen. Die Colliehündin wird allerdings verfolgt von den beiden Schäferhunden des Verbrechers. Am Ende ist es Jenny, die den Verbrecher dingfest machen kann, weil Bessy ihr ein Gewehr bringt. Schönes Abenteuer. Im Nachwort wieder etwas über Klaus Dill. Bei aller Ehrfurcht vor dem Gottkaiser der Bessy-Cover: Das werden mir langsam zuviele Dill-Nachworte. Ein bisschen Abwechslung wäre nicht schlecht.
Bessy 83: Die Quelle
Andy und Schneller Hirsch sind als Scouts für die Sicherheit eines Trecks verantwortlich. Sie müssen ihn gegen eine Gruppe von aufständischen Papagos verteidigen, die von kriminellen Weißen dazu angestiftet worden sind. Der Häuptling Gebrochene Nase und der Anführer der Kriminellen schleichen sich nachts an und sprengen den Wasserwagen des Trecks in die Luft. Allerdings wird der weiße Schurke von einem herumfliegenden Trümmerteil erschlagen, der Häuptling gefangen. Als Gebrochene Nase merkt, dass Andy und Schneller Hirsch ihn verteidigen und ein paar aufgebrachte Treckmitglieder daran hindern, ihn zu lynchen, wird er zum Freund der beiden und bietet sich an, sie zu einer geheimen Quelle zu führen. Er hilft ihnen, die dort lagernde Räuberbande zu fangen, und auch der in der Stadt sitzende Oberschurke erhält seine gerechte Strafe. Ansonsten gibt es eine Auseinandersetzung zwischen Schneller Hirsch und einem alten Indianerkämpfer, die jedoch bald zu einer Freundschaft wird, und eine erfolglose Jagd Bessys auf ein Gürteltier. Statt eines Nachworts sind eine Coverskizze und ein Schreiben des Bastei-Verlags an Klaus Dill enthalten.
Mai
Tim und Struppi. Gesamtausgabe
Band 7 (Fortsetzung)
- Kohle an Bord
- Tim in Tibet
Kohle an Bord: Das titelgenende Codewort bedeutet soviel wie "Schiff voller schwarzer Sklaven" und ist der Hinweis, den Sklavenhändler erhalten, wenn sich ein Schiff mit "Ware" nähert, die sie dann auf hoher See übernehmen. Das Stichwort selbst fällt erst sehr spät, etwa im letzten Drittel des Buchs. Tim, Struppi und Kapitän Haddock geraten auf ein Sklavenschiff, an dem sich nichtsahnende schwarze Passagiere befinden, denen man vorgespiegelt hat, das Schiff würde sie nach Mekka bringen. Die Schwarzen sind nämlich allesamt fromme Muslime und wollen auf Pilgerfahrt gehen. Wie unsere drei Helden an Bord gelangen, hat eine längere Vorgeschichte. Zu Beginn begegnen Tim und Haddock einem alten Bekannten, General Alcazar, der sich jedoch schnell aus dem Staub macht. Es kommt heraus, dass der Ex-Diktator gebrauchte Flugzeuge aufkauft. Diese werden später an einen Gegner des Emirs Emir Ben Kalisch Ezab verkauft, der durch einen Putsch seine Herrschaft verliert. Zuvor hatte er jedoch seinen Augapfel, den heißgeliebten Tunichtgut Abdallah zum Mühlenhof geschickt, wo er nun dem Kapitän mit seinen nervtötenden Scherzartikeln das Leben zur Hölle macht. Als Tim und Haddock von dem Putsch gegen den Emir erfahren, fliegen sie nach Watisdah, um ihrem Freund zu helfen. Doch schon am Flughafen werden sie wieder ausgewiesen und per Flugzeug zurückgeschickt. Die Maschine muss jedoch aufgrund eines brennenden Flügels notlanden. Eine Notlandung, die sich als Glücksfall entpuppt. denn nur kurz nachdem Crew und Passagiere das Flugzeug verlassen haben, explodiert ein Sprengsatz an Bord, der Tim eigentlich hätte ins Jenseits befördern sollen. Tim und Haddock kehren zurück nach Watisdah, wo ihnen ihr alter Freund Oliveira de Figueira eine Reise zum Emir ermöglicht. Beim Treffen erfahren die beiden, wie es zum Zerwürfnis des Emirs mit der Luftfahrtgesellschaft Arabair kam (Abdallah hatte sich gewünscht, dass die Passagiermaschinen beim Anflug auf Watisdah Loopings fliegen, was die Gesellschaft aus für den Emir nicht nachvollziehbaren Gründen verweigerte ...). Die Spur zu den Drahtziehern des Putsches führt die Freunde daraufhin nach Mekka, wohin sie mit einem kleinen Segler gelangen wollen. Sie werden jedoch unterwegs von Flugzeugen beschossen. Tim kann eines der Flugzeuge abschießen, doch ihr Schiff ist Schrott. Sie retten sich auf ein Floß und können auch Klap, den Piloten des abgeschossenen Flugzeugs mit an Bord nehmen. Als das Floß die Route des Drahtziehers Di Gorgonzola kreuzt, will dieser die Schiffbrüchigen gar nicht an Bord nehmen, hat aber das Pech, dass Sängerin Castafiore das Floß bemerkt - und vor ihr will er als "Guter" dastehen. Die beiden und Klap werden kurzfristig aufgenommen, dann aber an ein anderes Schiff, das Di Gorgonzole gehört, weitergegeben, nämlich die "Ramona", den Frachter, der die Sklaven transportiert. Hier sind die drei zunächst gefangen, können sich und die Sklaven jedoch befreien und SOS funken, als sie ein U-Boot angreift. Die Ramona wird gerettet, die Bösen verhaftet, auch der Putsch bricht bald in sich zusammen, und Abdallah wird aus dem Mühlenhof abgeholt. Alles deutet darauf hin, dass im Schloss nun Ruhe und Frieden einkehrt. Bis Nervensäge Fridolin Kiesewetter auftaucht. Er wollte seinem Freund Haddock etwas Gutes tun, damit er sich nicht so in der Ruhe und Einsamkeit des Schlosses langweilt, und hat eine Rallye seines Automobilclubs kurzerhand in den Park des Mühlenhofs umgeleitet. Ein hektisches Wimmelbild mit Automobilisten im Schlosspark schließt das Abenteuer ab. Es ist nicht unbedingt ein schlechtes Abenteuer, aber ein bisschen wirr und unstrukturiert wirkt es schon. Was der Sklavenhandel, der Putsch und die Meinungsverschiedenheiten mit der Fluggesellschaft miteinander zu tun haben, ist nicht unbedingt einsehbar. Und dass mit dem Aufbringen eines Sklavenschiffs gleich der ganze Putsch zusammenbricht, ist auch unlogisch. Ein paar Verhaftungen und alles ist gut? Welche Staatsgewalt agiert denn da, wenn der eigentliche Herrscher entmachtet ist? Das passt irgendwie alles nicht.
Tim in Tibet: Tim träumt, dass sein chinesischer Freund Tschang ihn um Hilfe ruft. Er findet heraus, dass Tschang an Bord eines Flugzeugs war, das am Himalaya abgestürzt ist. Angeblich gibt es keine Überlebenden. Aber Tim glaubt an seinen Traum und macht sich zusammen mit dem ewig fluchenden Kapitän Haddock auf nach Nepal und später Tibet. Ein paar Sherpas tragen ihnen das Gepäck tatsächlich bis kurz vor die Absturzstelle, flüchten dann jedoch in Panik, als sich die Hinweise verdichten, dass der Yeti - oder wie er in Tibet heißt: der Migu - in der Nähe sein Unwesen treibt. Nur der Anführer der Sherpas bleibt. Und der Schneemensch erweist sich tatsächlich als ein real existierendes Wesen. Sehr zum Leidwesen des Kapitäns, dem er den Whisky klaut. In einem Lama-Kloster erhalten die drei Sucher schließlich durch die Vision eines Mönchs den entscheidenden Hinweis: Tschang lebt. Er wurde vom Yeti gerettet und in eine Höhle verschleppt. Wobei der Yeti sich als sehr fürsorglich erwies. Anscheinend suchte er einfach nur einen Gefährten. Sehr traurig mutete das Schlussbild an, in dem der einsame Yeti der Expedition hinterhersieht, die "seinen" Tschang mitgenommen hat. Ein sehr liebenswürdiges, teilweise auch melancholisches Abenteuer, durch die unterschiedlichen Klimazonen am Himalaya auch optisch sehr vielseitig und ansprechend. Einer meiner Lieblingsbände.
In fernen Zonen. Karl Mays Weltreisen
Ein Band, der die beiden großen Reisen Karl Mays, nämlich die in den Orient und die Amerikafahrt, dokumentiert. Ja, zum Ende seines Lebens hin hat der große "Reiseschriftsteller" tatsächlich Geld und Zeit gehabt, sich die Länder, über die er geschrieben hat, auch endlich einmal selbst anzusehen. Für ihn mag es auch ein wenig ernüchternd gewesen sein, unterwegs lernen zu müssen, dass er eben selbst kein Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi war.
Die zugrunde liegenden Quellen sind sehr unterschiedlich. Für die Orientreise liegt ein Reistagebuch vor, in dem er nicht nur seine Reisestationen notiert und beschreibt, sondern auch Alltagsärger und Organisatorisches. So hält er fest, sein Diener habe "achtmal nicht gewichst", woraufhin ihm May vier Rupien vom Lohn abzog. Postkarten und Fotos, Billets, Gedichte und Werbung der Schiffahrtsgesellschaften sind ebenso zu finden wie Reisekorrespondenz von Emma und Klara. Mich hat natürlich vor allem die zweite Hälfte interessiert, die Dokumentation seiner Amerikareise. Hier gab es kein Tagebuch, aber die Stationen wurden sorgfältig herausgearbeitet und beschrieben. Das Foto am Denkmal von Sa-go-ye-wat-ha. Die Niagara-Fälle. Das Schiffchen, mit dem May und Klara gefahren sind. Das Clifton-Hotel. Rechnungen und Postkarten. Die Titelbilder Sascha Schneiders zu den Winnetou-Romanen. Seine Rede über die drei Menschheitsfragen. Begegnungen mit ärmlichen Reservationsindianern, den Tuscaroras. Klara streute ja das Gerücht aus, er habe auch einen Abstecher zu den Apachen gemacht. Aber insgesamt muss es sehr ernüchternd gewesen sein für ihn. Mehr als das klassische Touristenprogramm hat er wohl nicht gesehen, sich wohl auch nicht getraut. Trotzdem, immerhin verdanken wir der Reise den vierten Winnetouband, den ich sehr schätze.
Arnfried Schenk, Stefan Schnell: Atlas der vom Aussterben bedrohten Sprachen
Eines der schönsten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe, aber auch das allertraurigste. Das Buch stellt 50 vom Aussterben bedrohte Sprachen vor, und beim Lesen wird einem klar, dass gerade jetzt in diesem Augenblick wieder eine von ihnen komplett ausgestorben ist. Was hier verloren geht, es lässt sich kaum ermessen. Vor allem steht man staunend vor dem Reichtum und den Ausdrucksmöglichkeiten dieser Sprachen. Sprachen, in denen es unendlich viele Feinheiten für die Beschreibung von Gerüchen gibt. Sprachen, in denen die Himmelsrichtung, in die jemand blickt, über die Grammatik entscheidet. Sprachen, in denen man bei jeder Aussage klar macht, ob man das, was man erzählt, selbst gesehen hat, von einem vertrauenswürdigen Gewährsmann gehört hat, aus der Zeitung oder einem Buch erfuhr, ob man etwas genau weiß, vermutet, ahnt, geschlossen hat. Da ist das Vaskische, die Sprache, die in Wilhelm von Humboldts Forschungen eine so große Rolle spielte, mit seinem seltsamen Numerus, dem Transnumeral. Man benutzt ihn, wenn man offen lassen will, ob es sich um Singular oder Plural handelt. Mein Gott, wie wünschte ich mir in der deutschen Sprache einen Tansnumeal, wenn ich beim Bearbeiten von Polizeiberichten schreibe: "Der oder die Täter hebelten ein Fenster auf und drangen ins Haus ein." Hebelten? Oder müsste man nicht besser schreiben: Hebelte? Hebelte(n). Wir wissen es doch gar nicht, wieviele Täter es waren. Es wäre so schön, wenn ich einen Transnumeral hätte. Wusstet ihr, dass es eine spezielle Inuit-Zeichensprache gibt? Oder bald gegeben haben wird? Dieses in der Arktis bei eisigen Temperaturen hatte einen guten Grund dafür, eine solche Sprache zu entwickeln, aufgrund der Kälte sind dort Mittelohrentzündungen und darauffolgend eben Taubheit so verbreitet wie bei sonst keinem anderen Volk.
Das Buch trägt nicht umsonst den Namen "Atlas". Jedem Kapitel ist eine eigene Landkarte vorangestellt, der die Heimat der betreffenden Sprache zeigt, außerdem gibt es Übersichtskarten der Kontinente. Abgesehen von der Antarktis hat jeder Kontinent seine eigenen vom Aussterben bedrohten Sprachen. Auch in Europa gibt es sie. Vorgestellt werden Samisch, Färöisch, Nordfriesisch, Plattdeutsch, Niedersorbisch, Rätoromanisch, Baskisch, Aragonesisch und Lasisch. Jede der 50 Sprachen wird, je nach Datenlage, mit ihrer Geschichte, ihren grammatischen Besonderheiten, der (geschätzten) Zahl der Sprecher und den Gründen für das Aussterben vorgestellt. Die Autoren schaffen es, dem Leser zu vermitteln, dass jede von ihnen etwas Besonderes ist. Ja, und wenn man dann noch einmal den Satz liest, der auf dem Klappentext steht: "Knapp 7000 Sprachen werden heute weltweit gesprochen. Noch - denn mindestens die Hälfte von ihnen gilt als bedroht und könnte bis zum Ende des 21. Jahrunderts verschwunden sein", wenn man das liest, dann wird einem sehr eng ums Herz. Und doch: Es ist ein unendlich schönes, kostbares Buch. Lest es!
Holger Much: Holger Muchs wunderwutzelige Wechselwesen-Weisheiten
Nettes Kinderbuch / Erwachsenenbuch im Hosentaschen-Format. Enthält ganzseitige Porträts wunderwutzeliger Wechselwesen und dazu jeweils ein kurzes Gedicht, insgesamt 20 Stück. Darin finden sich Vierzeiler wie: "Der Wurm kriecht rein, / der Wurm kriecht raus. / Und kriecht er zu tief, / dann ist es aus." Ein liebenswürdiger kleiner Spaß für zwischendurch, auch ein hübsches Mitbringsel.
Rolf Krohn: Adlerwind über Vicus Herculanius (BunTES Abenteuer 55/2023)
Diesmal habe ich es aber wieder mit den Punischen Kriegen. Schon mein zweites Buch über die Auseinandersetzung der Karthager mit den Römern (Spoiler: Eins kommt noch.) Beziehungsweise, jetzt ein Heftroman. Die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf in Gallien, das zu Rom gehört. Es geht um Hannibals Versuche, Verbündete gegen Rom zu gewinnen, um eine junge Römerin, die verheiratet werden soll, um ein karrieristisches Arschloch, einen harten Vater, um Freiheit und Sklaverei. Sehr schöne historische Skizze, hat mir gefallen.
Vier Erzählungen: Schwedische Klassiker (Novellix)
- Astrid Lindgren: Allerliebste Schwester & Die Puppe Mirabell
- August Strindberg: Ein Puppenheim
- Stig Dagermann: Die Kälte der Mittsommernacht ist hart
- Selma Lagerlöf: Ein Stück Lebensgeschichte
Sehr schöne kleine Pappbox, etwas unter Reclamformat (tatsächlich habe ich es in der Buchhandlung ursprünglich für ein Reclam-Produkt gehalten). In der Box sind vier kleine Büchlein, wobei der Titel "Vier Erzählungen" gar nicht stimmt, denn Band eins enthält zwei Texte, man bekommt also insgesamt fünf Erzählungen, wenn man die Box erwirbt. Vom Astrid Lindgren sind die beiden Märchen "Allerliebste Schwester" und "Die Puppe Mirabell" enthalten. Ersteres ist mein absolutes Lieblingsmärchen von ihr, die Geschichte von der geheimen Schwester, die sich hinter dem Rosenbusch versteckt, von den Pferden, den Hunden, den Bösen und den Artigen begleitet mich schon seit dem Kindergarten. Die Geschichte von Mirabell ist ebenfalls altbekannt, aber eine nette Wiederbegegnung.
Ein seltsamer Zufall wollte es, dass ich gerade kürzlich erst "Nora, ein Puppenheim" von Ibsen gelesen habe. Was macht nun Strindberg daraus? Es ist die Geschichte eines Kapitäns und seiner Frau, die während der Fahrten ihres Mannes oft allein ist. Kapitän Pall rät seiner Gurli, sich eine Gesellschafterin zu suchen. So kommt die fromme Ottilie ins Haus und füttert Therese mit Bibelsprüchen, Literatur und komischen Ansichten. Als Gurli ihrem Mann das Buch "Nora, ein Puppenheim" schickt und ihn um seine Meinung bittet, zerlegt der alte Seebär den Text geradezu. Eine sehr drastische Kritik eines einfachen, pragmatischen Mannes, der gelernt hat, geradeaus zu denken, und nichts mit sentimentalem Geschwafel am Hut hat. Die Ehe gerät ins Trudeln. Schließlich rät seine Schwiegermutter dem Kapitän, er solle doch Ottilie den Hof machen, um Gurlis Eifersucht zu erregen. Der Puppenheim-Brief ist sehr interessant, wenn man das Original-Puppenheim gelesen hat. Allerdings kann ich Strindberg einfach nicht schätzen.
Stig Dagermann erzählt die Geschichte eines Jungen, der "versagt" hat, nämlich in der Schule, und jetzt als Postbote arbeiten muss. Es ist Mittsommer, es sind Ferien, ein vorbeikommender Lehrer lobt ihn, er sei tüchtig, weil er in den Ferien arbeite, und ist etwas pikiert, als der Junge ihn aufklärt, dass er keine Ferien mehr hat, sondern die Schule für ihn beendet ist. Eine sehr harte, realistische, bittere Geschichte. Gut, aber sehr dünn. Es sind nur zwölf Seiten, und der Verlag musste dahinter vier leere (!) Blätter einfügen, um das dünne Büchlein überhaupt vollzukriegen.
Die letzte Erzählung schließlich, "Ein Stück Lebensgeschichte", handelt von einer Saga, die unbedingt erzählt werden wollte. Sie schwebt durchs Land, bis sie schließlich an ein kleines Gut, das Marbacka hieß, ein Gehöft, wie geschaffen zum Erzählen von alten Zeiten. Dort lebt ein Mädchen, das zur Erzählerin auserkoren ist. Das Kind wird zur jungen Frau, tatsächlich hat sie erste schriftstellerische Erfolge, findet Kraft und Bestätigung und kann tatsächlich das Unfassbare schaffen - als Schriftstellerin zu leben. Endlich schreibt sie auch die Saga nieder, ein tolles, wildes, verschlungenes Stück Literatur. Aber: "Die Saga wurde nie, was sie hätte werden sollen. Es war ihr Unglück, dass sie so lange hatte warten müssen, bis sie erzählt wurde. Wenn sie nicht gebührend in Zucht und Zaum gehalten worden ist, so kam dies hauptsächlich daher, dass ihre Verfasserin nur allzu glücklich ist, sie endlich schreiben zu dürfen. Ein bisschen märchenhaft, ein bisschen melancholisch und traurig, dabei wohl auch autobiografisch, denn Marbacka war der Name des Hofs, auf dem Selma Lagerlöf selbst geboren worden war.
Die Box ist geschmackvoll und werthaltig aufgemacht und taugt sehr gut als Einsteigerbox für Leser, die sich für schwedische Literatur interessieren, sowie generell als liebenswertes Geschenk. Die vier Büchlein sehen hübsch aus, enthalten auch jeweils eine Kurzbiografie und ein Porträt des Autors. Die Texte selbst sind allerdings sehr dünn, es sind wirklich nur Kurzgeschichten und kurze Erzählungen für ein ganz kurzes Literaturerlebnis zwischendurch.
Stanley G. Weinbaum: Eine Frage der Sicht (BunTES Abenteuer 57/2023)
Geschichte eines genialen, aber sehr von sich überzeugten Wissenschaftlers. Inspiriert von der Äußerung eines Gesprächspartners, es sei "alles eine Frage der Sichtweise", entwickelt dieses Genie Haskel van Manderpootz eine Möglichkeit, die Welt durch die Augen anderer Menschen zu sehen. Sinn und Zweck der Sache ist eigentlich, dass die Welt nun alles durch seine Augen sehen kann. Aber für den Gesprächspartner und Ich-Erzähler bahnt sich eine Tragödie an, als er versucht, die Welt durch die Augen von Manderpootz' Gehilfen zu sehen. Plötzlich sieht er die schönste Frau der ganzen Welt vor sich und verliebt sich unsterblich in sie. Nur stellt sich heraus, dass die Frau eigentlich die grottenhässliche, fade Sekretärin des Wissenschaftlers ist und nur durch die rosarote Brille des verliebten Assistenten so wunderschön wurde ... Als zweite Geschichte ist in dem Heft "Die Herausforderung aus dem Jenseits" enthalten, ebenfalls eine Wissenschaftsgeschichte, in der es um kosmische Phänomene und die Erforschung eines Wirbels geht. Beides sehr zielstrebige, geradlinige Storys, gut geschrieben und angenehm zu lesen.
J. H. Rosny Aine: Die junge Vampirin (BunTES Abenteuer 56/203)
Eine etwas andere Vampirgeschichte. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die plötzlich ihr Gedächtnis verliert beziehungsweise völlig andere Erinnerungen hat. Plötzlich ist sie Vampirin und benötigt dringend Blut, um sich zu ernähren. Die Krankheit kam unvermittelt und ist genau so unerwartet wieder verschwunden. Die junge Frau erinnert sich an absolut nichts aus ihrer Vampirphase. Immer an ihrer Seite ist bei dieser Entwicklung ihr Geliebter und Ehemann, außerdem ist in der Vampirphase ein hochinteressierter Wissenschaftler dabei, der zu Tode enttäuscht ist und sich betrogen fühlt, als die Frau wieder ein ganz normales menschliches Wesen aus Fleisch und Blut wird. Spannende Variation des Vampirthemas, durchaus lesenswert.
Bettina Schneider: Die Opfer des Apachen
Thorgal 42: Özurr, der Waräger
Angelika Zahn / Lena Hesse: Was ist Künstliche Intelligenz? (BpB)
Infobuch in Form eines Comics, von der Bundeszentrale für politische Bildung in einer besonders wohlfeilen Ausgabe herausgebracht. Nettes Buch für Totalanfänger, an ein deutlich jüngeres Publikum gerichtet, aber ich habe mich nicht gelangweilt.
Hörspiel
Abenteuer und Wissen: Ulrike Beck: Stephen Hawking. Der Superstar des Universums
Hörspiel über Leben und Gedanken des Physik-Genies, nicht übersimplifiziert, aber auch für Laien verständlich. Ulrike Beck zeichnet das Leben eines Mannes nach, der eigentlich nach der ersten Diagnose "ALS" (Amyotrophe Lateralsklerose) laut Prognose der Ärzte gar nicht mehr so lange zu leben hatte. Ein Mann im Rollstuhl, der das Unmögliche möglich machte, der trotz seiner Behinderung an den Universitäten studieren, später lehren konnte, der als Student seine Professoren verblüffte, später seine Kollegen mit kühnen Theorien überraschte. Vor allem aber wird er gezeigt als ein Mann von ungeheurem Humor und von überwältigender Lebenslust. Sein Kinderbuch "Der Schlüssel zum Universum". Sein Ausflug in die Schwerelosigkeit. Die Roboterstimme, mit der er seine Schüler und die ganze Welt dazu auffordert, ihre Träume zu verfolgen und niemals aufzugeben. Und auch die Lust der Physiker, Wetten abzuschließen. Eine beeindruckende Darstellung eines noch beeindruckenderen Mannes.
Juni
Lena Richter: Dies ist mein letztes Lied
Armando Sinister: Verführerisches Aztekengold
Friedrich de la Motte Fouqué: Das Galgenmännlein (jmb)
Die Geschichte kennen wahrscheinlich sehr viele Leser in der Version von Robert Louis Stevensons "Bottle Imp", der Geschichte von Teufel in der Flasche, der seinem Besitzer jeden Wunsch erfüllt. Der Haken bei der Sache: Wenn ein Mensch stirbt, während sich die Flasche in seinem Besitz befindet, gehört seine Seele dem Teufel. Es ist demnach geboten, die Flasche nach Erfüllung der wichtigsten Wünsche schleunigst zu verkaufen. Allerdings ist die Bedingung, dass man sie immer billiger verkaufen muss, als man sie erworben hat. Ein absoluter Horrorklassiker. Fouqués "Galgenmännlein" ist sozusagen die Urversion der Stevenson-Geschichte. Das Fläschchen mit dem schwarzen Alraunen-Männchen gerät in den Besitz eines jungen deutschen Kaufmanns in Venezia, der gerade der begehrtesten Kurtisane der Stadt den Hof gemacht hat. Als ihm das Geld ausgeht, bietet ihm ein hispanischer Hauptmann die Lösung all seiner Probleme an. Der junge Mann kauft ihm das Fläschchen ab, und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Sehr schöne, düstere Novelle von einem der Meister der Romantik. Erschienen in der klassischen schwarzroten Aufmachung der jmb-Reihe "Kabinett der Phantasten", mit einem Nachwort von Heiko Postma und einigen Literaturhinweisen. Hat mir gefallen.
Gustav Meyrink: Fledermäuse
Schlankes Kurzgeschichtenbändchen aus dem Verlag Saphir im Stahl, eine Geschichtensammlung vom Erfinder des Golems, nicht nur gruselig, sondern oft auch erfrischend humorvoll. Gleich zum Auftakt gibt es etwa eine Rudermannschaft aus Österreich, die an einem Wettbewerb in Hamburg teilnimmt und haushoch verliert. Doch eine Wasseranalyse tröstet die Mannschaft dann wieder: Sie beweist, dass die Hamburger ein viel dickeres Wasser in ihrer Alster haben als das klare frische Donauwasser. Im Prinzip habe man sich also gar nicht so schlecht geschlagen. Nett ist auch die Geschichte "Blamol", in der Tintenfische auf dem Meeresgrund eine Dose mit geheimnisvollem Inhalt finden.Man begegnet dem violetten Tod und erfährt, warum man das Wort "Ämälän" niemals aussprechen sollte. Enthalten ist auch der Klassiker "Der Kardinal Napellus". Und in "Die Urne von St. Gingolph" wird es dann doch noch richtig schaurig. Was ich allerdings nicht ganz verstanden habe, ist der Titel des Buchs. In keiner der neun Geschichten kommt eine Fledermaus vor.
Tim und Struppi: Gesamtausgabe
Band 8
- Die Juwelen der Sängerin
- Flug 714 nach Sydney
- Tim, und die Picaros
- Tim und die Alpha-Kunst
Die Juwelen der Sängerin: Ach du Schreck: Operndiva Bianca Castafiore quartiert sich bei Kapitän Haddock ein. Der ist wenig begeistert, zumal der Presserummel auf dem Mühlenhof unerträglich ist. Und dann kommt auch noch das Gerücht auf, die Castafiore wolle den alten Seebären heiraten. Der einzige, dem der Besuch gefällt, ist Professor Bienlein, der sogar eine neugezüchtete Rose nach der bezaubernden Bianca benennt. Im Mühlenhof sorgen derweil eine defekte Treppenstufe, die ewigen Telefonverwechslungen mit der Metzgerei Schnitzel (die auf die Dauer für den Leser nur noch nervig sind) und die ständigen Hysterie-Ausbrüche der Sängerin wegen ihres angeblich geklauten Schmucks für Terrorstimmung. Immer wieder verschwinden Juwelen, immer wieder gibt es eine harmlose Erklärung für ihr Verschwinden, meist die Schusseligkeit der Diva, die ihre Klunker einfach verlegt hat. Doch dann verschwindet ein wertvoller Smaragd. Für die Polizei ist klar, dass nur die Zigeunerfamilie dahinterstecken kann, die Haddock aus Gutherzigkeit in seinem Park zelten ließ. Übrigens ein sehr feiner Zug vom Kapitän, der kategorisch feststellt: Kein Mensch sollte im Müll leben müssen. Klar, dass die Familie völlig unschuldig ist. Und ebenso klar, dass Tim den wahren Dieb entdeckt. Und zum Glück verschwindet das Stimmwunder mit seiner Entourage schließlich wieder vom Mühlenhof.
Flug 714 nach Sydney: Der Titel ist insofern irreführend, als Tim, Haddock und Bienlein zwar diesen Flug nehmen wollen, aber in die Maschine gar nicht einsteigen. Die drei sind unterwegs zu einem Astronauten-Kongress in Australien, wo sie - als erste Menschen auf dem Mond - als Ehrengäste eingeladen sind. Im Flughafen begegnen sie dem Millionär Carreidas, dem "Mann, der nie lacht". Allerdings fällt der Mann aufgrund der Tollpatschigkeiten von Bienlein und Haddock von einem Lachkrampf in den anderen. Er lädt sie daraufhin ein, in seinem Privatjet mitzufliegen. Aber dann wird die Maschine entführt. Kriminelle unter der Leitung des sattsam bekannten Schurken Rastapopoulos, wollen an Carreidas' Schweizer Bankkonto. Allerdings brauchen sie dazu seine Kontonummer, und die rückt Carreidas nicht raus. Sehr schön die Geschichte mit dem Wahrheitsserum, das den Mann zwar tatsächlich zwingt, die Wahrheit zu sagen, aber Carreidas drängt es mehr zur Generalbeichte, und er erzählt stundenlang, wie schrecklich er ist, und beichtet eine Jugendbosheit nach der anderen. Die Situation eskaliert, als Rastapopoulus versehentlich auch mit der Spritze gestochen wird. Er und Carreidas überbieten sich daraufhin in immer schlimmeren Beichten und wetteifern darum, wer von beiden der schlechtere Mensch sei. Befreiungsversuche und Verfolgungsjagden folgen, schließlich eine Irrwanderung durch ein Höhlenlabyrinth. Etwas unschön ist, dass der running Gag mit dem Hut, den Carreidas immer wieder verliert und mit aller Energie wiederfinden will, ins Leere läuft. Irgendwie erwartet man ja, dass in dem Hut ein Zettel mit der geheimen Kontonummer vesteckt ist. Aber irgendwann bleibt der Hut einfach verschwunden, und nichts passiert. Völlig abstrus sind die letzten 20 Seiten des Abenteuers, als plötzlich aus dem Nichts ein Mann auftaucht, der Tim mit Telepathie durch das Höhlenlabyrinth leitet und auf die Landung eines außerirdischen Raumschiffs wartet. Das Schiff landet dann tatsächlich, die Gruppe wird an Bord genommen und kurz vor einem Vulkanausbruch rechtzeitig von der Insel gebracht. Der Telepath hypnotisiert die Gruppe jedoch, sodass die Leute die gesamten Ereignisse auf der Insel vergessen. Am Ende werden sie in einem Schlauchboot gefunden, gerettet, medizinisch versorgt und begeben sich dann zum Flughafen, um für den Flug 714 nach Sydney einzuchecken. Ein doofes Ende.
Tim und die Picaros: Die Castafiore hat einen Auftritt in San Theodoros, wo General Tapioca herrscht. Doch der ehemalige Widersacher von General Alcazar lässt die Sängerin verhaften und ins Gefängnis werfen. Der Vorwurf: Verschwörung gegen das Staatsoberhaupt. Es kommt noch dicker: Tapioaca behauptet, der Mühlenhof sei ein Verschwörernest, und der Kapitän, Bienlein und Tim seien darauf aus, ihn wegzuputschen. Der Kapitän überzieht Tapioca per Telegramm mit Schimpftiraden. Der lädt ihn daraufhin ein in sein Land, um die Sache miteinander zu klären. Tim wittert Gefahr, aber der Seeman sieht sich bei seiner Ehre gepackt und reist gemeinsam mit Bienlein in Tapiocas Land, woraufhin beide natürlich im Gefängnis landen. Es folgen eine Befreiungsaktion Tims, ein Treffen mit echten Verschwörern und ein Wiedersehen mit den Arumbayas. Die Widerstandskämpfer, eben die titelgebenden Picaros, sind allerdings nicht besonders kampftüchtig. Sie sind allesamt Alkoholiker und trinken sich bis zur Handlungsunfähigkeit. Hier kann aber Bienlein helfen. Er hatte bereits im Mühlenhof heimlich Experimente mit einer besonderen Pille gemacht: Wer sie schluckt, für den hat Alkohol einen extrem widerlichen Geschmack. Was zunächst nur zur Folge hatte, dass der Kapitän seinen Lieblingswhisky nicht mehr trinken konnte, wird nun zur Entgiftungstherapie für die Picaros. Unerwartete Hilfe kommt von der Karnevalstruppe Fridolin Kiesewetters, die sich gerade zu Besuch in Tapiocas Land befindet. Gehüllt in deren Verkleidungen dringen die Picaros in die Hauptstadt ein und jagen Tapioca zum Teufel. Neuer Staatschef wird wieder Alcazar. Ganz okay. Kiesewetters Karnevalstruppe ist schon ein Brüller.
Tim und die Alpha-Kunst: Skizzen zu einem unvollendeten Album, das Hergé nicht mehr fertig schreiben konnte. Man sieht noch nicht so recht, wohin die Handlung läuft, aber die Zeichnungen mit ihren vorläufigen, flüchtigen, hingekritzelten Charakter sind einfach faszinierend. Schön, dass man hier einmal dem Meister bei der Arbeit über die Schulter blicken kann.
Arndt Ellmer: Das Schaukelpferd
Arndt Ellmer, der den meisten vermutlich als Perry-Rhodan-Autor bekannt ist, präsentiert hier Geschichten aus rund 40 Jahren seines Schaffens. Ein sehr breites Spektrum, und man kann die Entwicklung des Autors von seinen ersten Kindergeschichten bis zur Gegenwart sehr gut nachverfolgen. Die erste Story stammt aus dem Jahr 1972, da war er, wenn ich mich nicht verrechnet habe, 18 Jahre alt. Man muss schon einiges Selbstbewusstsein haben, seine Jugendstorys herauszurücken, aber die Geschichten sind sicher nicht uninteressant. Ein bisschen absurd, paradox, von der Schule geprägt kommen die ersten Storys daher. Da geht es um die Hinrichtung Robespierres, um einen Mann, der sich vor seiner Frau versteckt, um ein Mädchen, das allein mit dem Roboter Automatic Lover lebt, der ihr noch nicht erklären kann, was es mit den unterschiedlichen Geschlechtern auf sich hat, der Roboter wartet, er hat Zeit ... Spiderman-Fans werden sich bestimmt über die sehr viel später entstandenen drei Venom-Geschichten freuen. Die aktuellste Geschichte stammt aus dem Jahr 2020. Sie erzählt von den Vorgängen im Regierungssitz des Pontius Pilatus, nachdem man einen berühmten Unruhestifter und Wundertäter hingerichtet hatte. Insgesamt eine sehr vielseitige und interessante Sammlung, lesbar und professionell, nichts zu meckern, es war aber nicht ganz "meins".
Saneh Sangsuk: Gift
Erschütternd. Sanft und herb, magisch und trotzdem von schrecklichem Realismus geprägt. Die bitterböse Geschichte eines kleinen thailändischen Jungen, der der beste Puppenspieler der Welt werden will. Die Bewohner seines Dorfes kommen gern zu ihm und sehen ihm zu, wenn er seine Geschichten inszeniert. Doch im Eifer des Spiels merkt er nicht, dass er am Nest einer Kobra sitzt. Die Giftschlange schießt hervor, er packt sie, würgt sie, sie windet sich um ihn. Die ganze Nacht hindurch dauert dieser urgewaltige Kampf auf Leben und Tod. Eine Geschichte, die mich ziemlich fassungslos zurückließ. Zumal der letzte Satz (ich beschwöre euch: Blättert auf keinen Fall vor, wenn ihr diese Geschichte lest!!!) die gesamte Erzählung umkippt. Verdammt, solche Bücher sollten verboten werden.
Anke Brandt: Carl, der Henker von Poel
Ray Bradbury: Fahrenheit 451
Science-Fiction-Klassiker, den ich schon lange auf der To-do-Liste habe. Und jetzt erschreckend aktuell. Eine Feuerwehr, die dazu da ist, Bücher aufzuspüren und zu verbrennen. Ein Feuerwehrmann, der irgendwann den Fehler macht, in eines dieser Bücher hineinzuschauen. Seine dumme, oberflächliche Frau und ihre dummen, oberflächlichen Freunde, die nur noch vom Medienkonsum leben und dummen, oberflächlichen Unterschichten-Trash anschaun. Das Buch hat ein sehr kluges Nachwort von Sascha Mamczak, in dem herausgearbeitet wird, wie in diesem Buch das Mittelmaß und die Dummheit die Macht übernehmen. Eine Gefahr, die offenbar noch drängender ist als die einer Machtübernahme durch Eliten. Man schaue nur, was das aktuelle Trump-Regime in den USA gerade anstellt mit Bücherverboten und Wissenschaftsfeindlichkeit. In Fahrenheit 451 sind es die Leute, denen Bücher zu kompliziert waren, die die Lesekultur nach und nach zurückdrängten. Erst gab es nur vereinfachte Versionen, dann Kurzfassungen, dann reduzierte Ein-Satz-Inhaltsangaben. Und dann hieß es: Ganz weg damit. Wir sollten wirklich jeden Cent in die Leseförderung stecken.
Ludolf Wienbarg: Tagebuch von Helgoland (e)
Ein Buch, das ich schon sehr oft gelesen habe. Früher habe ich es auch jedes Jahr in den Helgoland-Urlaub mitgenommen, um es vor Ort zu genießen. Diesmal auf dem Festland, in einer fremden Stadt, in der ich ein paar Stunden warten musste. Zum Glück hatte ich den eBook-Reader dabei und konnte es mir im Park bequem machen.
Ludolf Wienbarg, einer der fünf verbotenen Jungdeutschen Autoren - neben Theodor Mundt, Karl Gutzkow, Heinrich Laube und Heinrich Heine - muss nach dem Bundestagsbeschluss gegen diese Autorengruppe flüchten. Von Frankfurt am Main immer weiter nordwärts getrieben, immer wieder aus Städten ausgewiesen oder gar nicht erst eingelassen, kommt er zuletzt im heimatlichen Hamburg an. Doch auch dort erreichen ihn Warnungen, seine Verhaftung stehe bevor. So flüchtet er schließlich nach Helgoland. "Nur dort, wo Englands stolze Fahne weht, kann ich beruhigt mein müdes Haupt niederlegen", schreibt er.
Die Ausgabe des Lexikus-Verlags ist nicht gerade allererste Sahne. Im Jahresrückblick auf den Dezember 2015 schrieb ich bereits dazu:
Es handelt sich um eine Verlagsausgabe. Das Buch ist bearbeitet worden, mit historischen Bildern aufgewertet und mit Kapitelüberschriften versehen. Also keine kostenlose Trash-Ausgabe mit automatisch aus der Public Domain herausgelutschten Texten. Der Lexikus-Verlag hat Arbeit hineingesteckt, es darf also auch ruhig etwas kosten. So weit, so gut.
Jetzt zu den unschöneren Aspekten dieser Ausgabe. Zunächst einmal (was nur jemandem auffallen kann, der das Buch fast auswendig kennt): Der Text ist an einigen Stellen verändert worden. So wurde im Vorwort Wienbargs das Wort "Kaprice" mal eben durch "augenblickliche Laune" ausgetauscht. Wie bitte was? Was soll das? Der Text ist also absolut nicht zuverlässig und nicht zitierfähig. Hütet euch davor. Ein paar Absätze weiter ist der verlangsinterne Hinweis, man solle hier ein Bild einfügen, zu finden.
Dass bei Einscannen von alten Frakturtexten oft Fehler passieren, die dann auch noch stehen bleiben, ist leider eher die Regel als die Ausnahme. Aber wenn man den Text schon bearbeitet, warum wird dann nicht auch Korrektur gelesen? Es muss doch jemandem aufgefallen sein, dass es komisch klingt wenn Leute im Meer "Ach weiblich tummeln" - natürlich wollen sie "sich weidlich tummeln". Häufig wird das langgezogene "s" als "f" übersetzt, Umlautpunkte verschwinden, und das im Original auf den Namen "Bliza of Heligoland" getaufte Schiff wird nun zu einem "Blizard of Helgoland" - da hätte man doch geich einen "Blizzard" mit korrektem Doppel-Z draus machen können. Also: Finger weg von diesem eBook. Man kann es nur ordentlich lesen, wenn man ohnehin schon weiß, wie der Text lauten muss - und dann braucht man es nicht mehr.
Titus Müller: Das verborgene Weihnachtskind
Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte, die in einer gar nicht so weit entfernten Zukunft - oder vielleicht schon in de Gegenwart spielen könnte. Es geht um ein Haus, das von einer Haus-KI gesteuert wird. KI Athena hat so ziemlich alles im Griff in diesem Hochhaus, lediglich ein Mieter weigert sich, ihr seine Daten zu geben, und klebt die Kamera demonstrativ ab. Paradoxerweise ist dieser Analogmensch später der wichtigste Verbündete der KI, als Kriminelle in das Haus eindringen, um ein Kind zu entführen. Die KI nimmt den Kampf auf, setzt sich gegen Hacker und Schadprogramme zur Wehr und kämpft heroisch um ihr Haus. In der todgefährlichen Situation gibt es am Ende tatsächlich ein kleines oder großes Weihnachtswunder. Ich bin nicht so der Technik-Fan, aber der Autor hat diese KI so feinfühlig beschrieben, dass ich mich durchaus mit ihr identifizieren konnte und um ihr Leben gebangt habe.
Hörbuch/Hörspiel
Frank Herbert: Dune. Der Wüstenplanet
Hervorragend gesprochenes Hörbuch, gelesen von Mark Bremer und Uta Dänekamp. Rund 30 Stunden Laufzeit. Es hat mich in diesen Monaten zu vielen Cons und Veranstaltungen begleitete. Dabei hätte ich es beinahe wieder ins Regal zurückgestellt, als ich den Aufkleber "Das Hörbuch zum Film" daauf sah. Ist aber kein auf Silberlinge gepresster Filmton, sondern das echte Buch, vorgelesen.
Zum Inhalt muss ich wohl nicht viel sagen. Die faszinierenden Charaktere Paul Atreides, sein Vater Leto und seine Mutter Jessica, der Kampf um den Wüstenplaneten, das seltsame Gewürz, die geheimnisvollen Fremen, die Ureinwohner des Wüstenplaneten, die sich vollkommen an das Leben in der Wüste angepasst haben, die Bedeutung jedes einzelnen Tropfen Wasser in dieser Wüstenwelt, die Destille-Anzüge ... Einfach eine großartige Welt und großartige Charaktere. Ich liebe sie.
Salman Rushdie: Knife
Salman Rushdie tritt diesmal nicht als Romanautor an die Öffentlichkeit, sondern mit einem umfangreichen biografischen Text. Er schildert darin den Mordanschlag, der ihn glücklicherweise "nur" ein Auge kostete, erzählt von Einzelheiten, Erinnerungen, von seinen Verletzungen und vom langen Weg der Heilung. Seit die Fatwa wegen seiner "Satanischen Verse" ausgesprochen wurde, lebte der Schriftsteller wie unter einem Damoklesschwert. Untergetaucht, meist im Verborgenen lebend. Öffentliche Auftritte nur unter höchsten Sicherheitsauflagen. Und was immer er veröffentlichte, war mit dem Label behaftet: "Von dem Autor mit der Fatwa". Wie soll man da als eigenständiger Künstler wirken, wenn jedes, aber auch jedes neue Buch sofort auf seinen politischen, religionskritischen Inhalt untersucht wird, die literarischen Aspekte aber unter den Tisch fallen? Gerade hatte er geglaubt, der Bannfluch gegen die "Satanischen Verse" sei ein wenig in Vergessenheit geraten, als ihn der Anschlag erneut in die Rolle des Islam-Kritikers zurückkatapultierte, der die Folgen einer bei den Mullahs anstößigen Passage zu tragen hatte. Diesem wird das Etikett wohl endgültig haften bleiben.
Rushdies Buch ist ein 360-Grad-Rundumblick vom Augenblick dieses Attentats aus. Vorgeschichte und Ursachen werden beleuchtet, aber auch das Danach. Was bedeutet es, im Krankenhaus aufzuwachen, vom Messer immer und immer wieder getroffen, mit beschädigten inneren Organen, mit einem zerstörten Auge? Rushdie schreibt von Schmerzen und Unanehmlichkeiten, geht bis tief in die Details seiner Verletzungen und Beschwerden, so detailliert, dass es fast unangenehm wird. "Too much information", würde man wohl im Tischgespräch sagen, wenn der Gegenüber alle, auch die unappetitlichsten Details, vor dem Zuhörer ausbreitet. Dann wieder ist da der kluge, analytisch denkende Beobachter, der sich mit der Psychologie seines Attentäters auseinandersetzt und sich fragt, was einen bis kurze Zeit vorher noch recht normalen Mann derart radikalisieren konnte, dass er im Namen Allahs einen Menschen - diesen Menschen - töten wollte. In langen fiktiven Gesprächen mit dem Attentäter entwirft er sein Bild des Mannes, eines Versagers, der nie eine Frau abgekriegt hat und im Islam die Idealwelt fand, in der Männer noch richtige Männer sind ... Schreibend überwindet Rushdie sein eigenes Trauma, bewältigt das unfassbare Erlebnis auf seine eigene Art und geht am Ende als Ungebrochener aus der Finsternis hervor. Er erzählt von seinem neuen Buch, das im Jahr nach dem Anschlag erschien, Victory City. Und schließlich verwandelt sich die schreibende Selbsttherapie in ein gewaltiges, unbedingtes Bekenntnis zur Liebe. Ein beeindruckendes, zugleich auch abstoßendes Buch. Die medizinischen Einzelheiten hätten mich jetzt nicht sooo sehr interessiert, die fiktiven Gespräche mit dem Attentäter kommen extrem stark von oben herab, der Gebildete, des Wortes Mächtige tritt einem Underdog entgegen, dessen cerebrale Ausstattung nicht gerade auf Hochbegabung schließen lässt. Aber wer bin ich denn, dass ich einem Niedergestochenen vorschreiben will, er möge mit seinem Beinahe-Mörder "auf Augenhöhe" sprechen? Es ist Rushdies Buch, er allein hat das Recht zu entscheiden. Es ist sein eigener Weg aus der Finsternis und aus der Opferhaltung.
Kira Kolumna 20: Gamingfieber
Lars kann es gar nicht fassen: Ein Talent-Scout, der Nachwuchs für eine der bedeutendsten E-Sport-Mannschaften sucht, ist auf ihn aufmerksam geworden und lädt ihn zum Training ein. Wenn Lars angenommen wird, steht ihm eine Profikarriere bevor, Geld, Ruhm - und vor allem könnte er sein Lieblingshobby zum Beruf machen. Seine Freundinnen und seine Mutter, die Lars' relaxtes Abhängen mit seiner "Horde" bisher als Faulenzen abgetan haben, lernen, dass E-Sport eine anspruchsvolle berufliche Tätigkeit ist und jede Menge Trainingsstunden verlangt. Lars verbringt nun fast jede freie Sekunde mit dem Üben. Dass darunter nicht nur die Schule, sondern auch sein Sozialleben leidet, stellt sich schnell heraus. Ist das harte, ernsthafte Training wirklich das, was Lars für den Rest seines Lebens tun will? Und wo ist der charmante Taugenichts geblieben, der einfach nur entspannt auf dem Sofa herumliegen und etwas zocken will?
Eine sehr interessante Folge, in der man lernt, dass Gaming ein extrem harter und anspruchsvoller Sport ist und dass Profitum in jeder Betätigung, auch beim Computerspielen, 100 Prozent Einsatz erfordert. Das Ende hat mir nicht ganz so gut gefallen. Lars lehnt die Profikarriere ab. UM was zu tun? Um weiter mit Kira und Nele und seiner Horde absichtslos abhängen zu können. Letzten Endes das, was alle sich von ihm gewünscht haben. Aber waren diese Wünsche nicht ziemlich egoistisch? Ja, jetzt haben sie also ihren entspannten, dauerrelaxten Tunichtgut wieder. Aber der Junge ist 16 Jahre alt. Irgendwann wird er sich wohl wieder vom Sofa erheben müssen und einen Beruf erlernen. Warum nicht den Gaming-Job, für den er so gebrannt hat?
© Petra Hartmann

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