Weihnachtsmärchen: Die Heilige Königin aus dem Morgenland
Weihnachten Weihnachtsmärchen
Heiligabend. Die letzten Einkäufe sind erledigt, die letzten Geschenke eingepackt, der Baum steht ... Jetzt ist es endlich Zeit, zur Ruhe zu kommen und die Stille zu genießen. Ich wünsche euch ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest. Hoffentlich geht es euch gut, und ihr könnt auch ein bisschen feiern. Und falls ihr noch eine Geschichte zum Lesen unterm Baum braucht, kommt hier ein kleines Weihnachtsmärchen für euch.
Alles Liebe
eure Petra
Die Heilige Königin aus dem Morgenland
Königreich Saba, Zikkurat der Herrscherin Balkis VIII., im Jahre 1 v. Chr., 0 Uhr 44.
Neumond und keine Wolken, die Luft kühl und kristallklar, eine Nacht wie geschaffen, um die Sterne zu beobachten. Königin Balkis die Achte zog den Mantel enger um sich. Es war schon empfindlich kalt geworden, die Nächte wurden länger und länger und der Sternenhimmel über Saba von Nacht zu Nacht prächtiger. Sie liebte diese Winternächte. Längst waren die Lichter der Stadt unter ihr erloschen, doch Balkis stand noch immer oben auf dem königlichen Turm und blickte nach oben. Der Himmelsriese mit den drei funkelnden Gürtelsternen war schon vollständig über dem Horizont aufgestiegen, und auf den Schultern trug er den Wildstier und das Zwillingspaar. Ihm zu Füßen wachten die beiden Hunde, daneben räkelte sich der prächtige Löwe. Die Königin atmete tief durch. Egal, wie müde und schwer ihr der Kopf von der täglichen Regierungsarbeit oft wurde, sie musste nur abends auf ihren Turm steigen, und das Herz wurde ihr wieder leicht und frei.
Und doch: Sie war nicht nur zu ihrem Vergnügen hier. Aufmerksam beobachtete sie die Wandelsterne am Himmelsteiler. Dass sich dort oben der Stern des Götterkönigs und der des Erntegottes begegneten, deutete auf eine ernste Angelegenheit hin, die auch für ihr kleines Königreich von Bedeutung sein musste. Sie hatte in den vergangenen Tagen bereits ausführlich mit ihren Beratern darüber gesprochen. Die Zeichen standen auf Veränderung, wenn nicht sogar die Geburt eines bedeutenden Herrschers bevorstand. Sorgfältig peilte sie den Punkt an, an dem sich die beiden Planeten begegneten, maß dann den Winkel zu den benachbarten Fixsternen und dachte nach. Sie würde ihre Sternkarten um einen Zehntelgrad korrigieren müssen, stellte sie fest. Dabei besaß sie das beste Planisphärium der bekannten Welt. Wie hatte König Melchior aus dem Osten sie beim jüngsten Staatsbesuch darum beneidet. Und trotzdem, sie würde ihre Sternenscheibe wohl noch ein wenig nachjustieren müssen.
Doch was war das? Die Königin riss vor Überraschung die Augen weit auf. Dort, genau im Westen, war ein helles Licht aufgeflammt, größer und strahlender als alle Planeten zusammen. Himmel, so etwas hatte sie noch nie gesehen! Fasziniert blickte sie in Richtung Sonnenuntergang. Aber die Sonne war es nicht, die dort leuchtete, dazu war es ja schon viel zu spät.
„Ist das wirklich wahr?“, murmelte Balkis. „Wenn dort tatsächlich ein neuer König geboren wird, dann muss er größer sein als alle Herrscher, die die Welt bisher gesehen hat. Denn sein Stern ist heller und prächtiger als der Stern des Götterkönigs und des Schnitters zusammen.“
Balkis schob Sehrohr, Sternenscheibe und ihre Karten zusammen. Das alles brauchte sie nicht mehr. Der neue Stern war ihr als Wegweiser genug.
„Ich muss dorthin“, sagte sie entschlossen. „Nichts auf der Welt wird mich aufhalten, den größten König der Welt zu sehen.“
Sie stürmte die Treppen hinab und rief lauthals nach ihren Dienern. In kürzester Zeit war ihr milchweißes Eselgespann angeschirrt, und sie belud den Wagen eigenhändig mit Kostbarkeiten aus ihrer Schatzkammer für den jungen König. Myrrhe, Weihrauch und Gold packte sie ein, und auf Anraten ihrer alten Amme nahm sie auch noch 20 Windeln aus weißem Linnen mit. Dann schnalzte sie mit der Zunge und trieb die beiden Eselinnen an. Immer gen Westen fuhr sie, dem strahlenden Stern entgegen.
Gemeindehaus von Kleinweltwinkel, 6. Januar 2026, früher Nachmittag
Hanna strahlte. Stolz wie eine echte Königin hob sie den Kopf, als ihr der Pfarrer die goldene Pappkrone auf die dunklen Locken drückte. Eine der Mütter war mit Nadel und Faden dabei, die Goldborte an Hannas strahlend weißem Königinnengewand neu zu befestigen. Die Kleider der Heiligen drei Könige waren alt, und schon Hannas drei großen Brüder hatten sie getragen, als sie mit dem Stern von Haus zu Haus gezogen waren. Nun also war auch sie endlich an der Reihe und durfte Heilige Dreikönigin sein. Tom und Benny aus ihrer Klasse waren schon fertig ausstaffiert, und Jan, der Sternenträger, schwenkte bereits unternehmungslustig den Besenstiel, an dem der Pappstern befestigt war. Sie würden perfekt aussehen. Drei Heilige Könige aus dem Morgenland, die dem Stern nach Bethlehem folgten, um dort im Stall das Jesuskind zu finden.
Hanna musterte sich noch einmal kritisch im Spiegel und drehte sich um die eigene Achse. „Und, wie sehe ich aus?“, fragte sie.
„Wie eine Heilige Königin aus dem Morgenland“, lobte der Pfarrer. „Die Menschen werden sich freuen, wenn ihr den Segen in ihre Häuser bringt.“
„Wie bitte? Ich höre wohl nicht recht!“, krächzte es da von der Tür her. Herr Niesmüller, der alte grantige Kirchenvorstand, blickte unter drohend gesenkten Augenbrauen in die Runde. „Ein Mädchen als Heiliger König aus dem Morgenland? Das ist eine Zumutung. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser woke Mist auch in unserer Gemeinde Fuß fasst. Los, zieh sofort das Kleid aus, Mädchen. Geh nach Haus und spiel mit deinen Puppen!“
„Ich muss doch sehr bitten, Herr Niesmüller.“ Der Pfarrer schob sich schützend vor Hanna. „Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter.“
„Ein Mädchen als Heiliger König!“, schnaufte der Kirchenvorstand. „Was kommt als nächstes? Veganes Essen in unserer Kita? Toiletten für drei Geschlechter im Gemeindehaus? Womöglich wollen Sie auch noch im Gemeindebrief gendern, oder wie der Schwachsinn heißt. Die Sternsinger sind eine heilige Sache und kein Klamauk. Die Heiligen drei Könige müssen genau so bleiben, wie es in der Bibel steht. Da kann man nicht einfach irgendetwas ändern, nur weil es zum Zeitgeist passt.“
Hanna weinte. Sie wollte die Pappkrone abnehmen.
Aber der Pfarrer hielt ihre Hand fest und schüttelte den Kopf. „Da kennen Sie aber Ihre Heilige Schrift schlecht, Herr Niesmüller“, sagte er ruhig. „Ach, Tom, sei doch bitte so gut und gib mir mal die Bibel her.“
„Was soll das jetzt?“, knurrte der Kirchenvorstand.
Doch der Pfarrer hatte schon das Buch aufgeschlagen und las vor: „Als Jesus geboren war zu Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen und sind gekommen, ihn anzubeten.“
„Ja, und?“
„Haben sie nicht gehört. Von den Heiligen drei Königen steht absolut nichts da. Erstens: Heilig steht da nicht. Und die katholische Kirche hat diese Menschen ja auch niemals offiziell heiliggesprochen. Zweitens: Drei. Matthäus nennt überhaupt keine Zahlen. Und Könige kommen dort auch nicht vor. Nebenbei bemerkt: Die Namen Kaspar, Melchior und Balthasar stehen auch nicht in der Bibel. Nichts zu machen, Herr Niesmüller.“
„Frechheit.“
„Im Übrigen können wir auch nicht sagen, ob es alles Männer gewesen sind. Da steht zwar im griechischen Text, es seien ‚Magoi‘ gewesen, was man vielleicht mit Sterndeutern, Magiern oder weisen Männern übersetzen kann. Aber die Griechen haben nun einmal leider Gottes nicht gegendert in ihren Texten. Weshalb man überhaupt nicht wissen kann, ob in der Gruppe nicht auch die eine oder andere Maga mit dabei war.“
„Also, jetzt reicht es wirklich. Ich werde mich beim Bischof beschweren.“ Wutschnaubend stampfte Herr Niesmüller davon und warf die Tür hinter sich zu.
Die Kinder starrten den Pfarrer an. „Werden Sie jetzt – aus der Kirche rausgeschmissen?“, fragte Hanna stockend. Am liebsten hätte sie die Krone jetzt doch noch abgenommen.
„I wo, wir leben doch nicht mehr im Mittelalter“, lachte der Pfarrer.
„Und ist das wirklich wahr? Dass es eine Heilige Dreikönigin gegeben haben könnte, meine ich?“ Hanna sah ihn mit großen Augen an.
Der Pfarrer lächelte und zwinkerte ihr zu. „Ganz sicher“, sagte er. Und wenn es keine gab, dann gibt es ab jetzt eine, nämlich Hanna die Erste. Also, geh los und bring den Menschen den Segen.“
Hanna strahlte. Sie rückte ihre Krone gerade und strich sich ihr Gewand glatt. Hoch erhobenen Hauptes schritt sie zwischen Tom und Benny hinter dem Sternträger her. Und die Bewohner von Kleinweltwinkel waren sich einig, dass sie noch niemals zuvor eine stolzere und würdigere Heilige Dreikönigin gesehen hatten.
Bethlehem, im Jahre 1 n. Chr., gegen Mittag
Königin Balkis stand aufrecht in ihrem Wagen und steuerte die Eselinnen nach Osten. Neben ihr trabten die Könige Kaspar, Balthasar und Melchior ostwärts, der eine auf einem stolzen Araberhengst, der zweite auf einem edlen Rennkamel und der dritte auf einem mächtigen Elefanten. Die vier Majestäten waren tage- und nächtelang unterwegs gewesen, doch sie verspürten keine Müdigkeit. Zu beeindruckend war das, was sie in der Stadt Bethlehem gesehen hatten. Der größte König der Welt, in Windeln gewickelt und in eine Krippe gelegt, das alles in einem erbärmlichen Stall, in dem es nach Eselsmist, Schafskötteln und Kuhfladen stank. Und doch, wie hatte das alles gestrahlt und geleuchtet. Noch immer lag der Glanz, der das Kind in der Krippe umgeben hatte, auf ihren Gesichtern.
Als sie an eine Wegkreuzung kamen, war für die vier die Zeit gekommen, sich zu verabschieden.
„Das müssen wir unbedingt allen Menschen erzählen“, sagte Kaspar.
„Ja, wir lassen es in allen unseren Städten verkünden“, sagte Melchior.
„Das ganze Morgenland muss es erfahren“, sagte Balthasar.
Königin Balkis nickte. Doch dann fügte sie hinzu: „Aber dem König Herodes, dem sagen wir es besser nicht.“ Denn sie war nicht nur eine Königin, sondern auch eine weise Frau und hatte in den Sternen gelesen, dass der Mann Böses plante. Aber das ist eine andere Geschichte und steht tatsächlich in der Bibel.
© Petra Hartmann

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