Neil Gaiman: Das "Graveyard-Hörbuch"
Hörbücher - phantastisch Neil Gaiman
Nobody wächst auf dem Friedhof auf und wird von Toten, Vampiren und Werwölfen erzogen: Ein Kinder-Hörbuch voller Zauber und Grusel - aber mit einigen Ungereimtheiten.
Er heißt Nobody, seine Eltern sind tot, seine Heimat ist ein altertümlicher, längst geschlossener Friedhof, auf dem sich Verstorbene, ein Untoter und eine Werwölfin um ihn kümmern: Das ist das Setting von Neil Gaimans Jugendroman „Das Graveyard-Buch“, das nun auch als Hörbuch vorliegt. Gesprochen werden die Abenteuer auf dem Gottesacker von Jens Wawrczeck, der vor allem durch seine Rolle als Peter Shaw in der Hörspielserie „Die drei ???“ bekannt wurde.
Ein Dschungelbuch im Friedhofs-Milieu
Die Erzählung beginnt als spannende Mordgeschichte: Ein Mann namens Jack dringt in ein Haus ein und löscht eine Familie aus. Einzig ein Säugling kann entkommen und gerät auf seinem planlosen Weg durch die Nacht auf einen Friedhof. Die Toten sind zunächst nicht sehr angetan, doch das hier ruhende Ehepaar Owens übernimmt die Verantwortung und adoptiert ihn, und ein gleichfalls auf dem Friedhof hausender Untoter namens Silas erklärt sich bereit, die Stelle eines Paten zu übernehmen. Die Konstruktion erinnert an den Beginn von Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“, an den sich Gaiman mit dem Titel „Das Graveyard-Buch“ deutlich anlehnt. Allerdings bleibt unverständlich, warum in der Übersetzung das englische Wort „Graveyard“ stehen bleiben musste. Ein „Friedhofs-Buch“ wäre für deutsche Kinder sicher ein eingängigerer Titel gewesen. Zumal das Wort "Graveyard" im Hörbuch nicht ausgesprochen wird.
Abenteuer mit Hexen, Ghulen und Werwölfen
Die Abenteuer von Nobody Owens, genannt „Bod“, sind von makaberer Schönheit und konnten wohl nur von einem Autor aus einer Kultur erfunden werden, die das Fest „Halloween“ nicht nur aus dem Fernsehen sondern aus eigener Tradition kennt. Bods Lehrer - allesamt etwas weltfremd und antiquiert, da der Gottesacker bereits seit Jahren geschlossen ist - sind liebenswerte, skurrile Wesen mit wenig Vorstellungen von den Vorgängen jenseits des Friedhofszauns. Sogar ein alter römischer Feldherr namens Pompeius liegt hier begraben, und ganz versteckt im ältesten Teil des Friedhofs gibt es einen uralten Grabhügel aus der Keltenzeit, der von einem seltsamen Geist voller indigofarbener Tätowierungen bewacht wird. Bod trifft eine Hexe, eine Werwölfin, muss sich sogar gegen eine Schar Ghule behaupten, die ihn in ihre Welt verschleppen wollen. Das alles ist liebenswert und fantasiereich erzählt, mit gerade so viel Grusel, wie junge Leser es gern haben und ohne Albträume verkraften können. Und Sprecher Jens Wawrczeck schafft es tatsächlich, all diesen Toten und Untoten mit seiner unverwechselbaren Stimme "Leben einzuhauchen", wie der Klappentext verspricht.
Friedhofs-Geschichte leidet unter episodenhafter Aneinander-Reihung
Allerdings leidet die Geschichte an der episodenhaften Abfolge der einzelnen Kapitel. Nobodys Abenteuer stehen unverbunden nebeneinander, nichts ergibt sich aus dem vorhergehenden, und nach jedem Kapitel gibt es einen Schnitt, woraufhin der Autor ein neues Thema abhandelt. Bod trifft Ghule. Punkt. Bod trifft eine Hexe. Punkt. Bod nimmt am „Danse Macabre" teil. Punkt. So handelt es sich weniger um einen geschlossenen Roman als vielmehr um eine Aneinanderreihung von Einzelgeschichten ohne innere Logik, die erst im Finale, als Bod seinen letzten großen Kampf auf dem Friedhof bestehen muss, zum Teil zusammengeführt werden.
Hintergründe für Untote und Werwölfe fehlen
Unbefriedigend ist ebenfalls die gegen Ende der Geschichte aus dem Hut gezauberte Erklärung, bei dem Mörder handele es sich um ein Mitglied aus einer jahrtausendealten Weltverschwörung, deren Mitglieder allesamt Jack hießen. Auch die Nachforschungen, die der Untote Silas und die Werwölfin Mrs. Lupescu anstellen, werden zwar immer wieder erwähnt, sie werden für den Leser oder Hörer jedoch nicht nachvollziehbar. Man hätte gern mehr über die Hintergründe von Silas erfahren oder darüber, wie Mrs. Lupescu zum Werwolf geworden ist. Und über den Tod der tapferen „Hündin Gottes“ hätte der Autor auch wesentlich mehr Worte verlieren können. Unklar bleibt auch, wieso Bod, von dem ausdrücklich gesagt wird, dass er den Friedhof verlassen und auch auf anderen Friedhöfen herumlaufen kann, niemals versucht, seine toten Eltern zu finden. Es heißt, sie sind auf einem anderen Friedhof begraben und könnten daher nicht zu ihm kommen, und damit verschwinden die Ermordeten für immer aus der Geschichte. Schade.
Fazit: Ein liebenswertes Kinderhörbuch mit morbidem Charme und genau der richtigen Portion Grusel. An der Geschichte hätte aber gern noch etwas gearbeitet werden dürfen.
Neil Gaiman: Das Graveyard-Buch. Gelesen von Jens Wawrczeck. Gekürzte Lesung. 5 CD, ca. 280 Minuten. Hörverlag, 2008. Euro 19,95.
© Petra Hartmann