Inzucht und die denkbare Gesellschaft
Bücher - SF
Inzucht - brrr, da hat sich der SFCD ja ein schlimmes Thema einfallen lassen. So heiß war das Eisen offenbar, dass selbst die in Inhaltsfragen sonst nicht wählerischen Leute bei BoD die Anthologie nicht drucken wollten. Zum Glück ließ sich der Verlag p.machinery nicht abschrecken und brachte diese wirklich bemerkenswerte Sammlung dennoch heraus.
19 Autoren befassten sich mit der Frage, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der Inzest - Geschlechtsverkehr und Zeugung innerhalb der engsten Verwandtschaftsverhältnisse - nicht ein abscheuliches Tabu, sondern die Norm oder sogar überlebensnotwendig ist. Und die Ergebnisse sind durchweg interessant, die Geschichten größtenteils qualitativ hochwertig und faszinierend.
Genkriege und atomare Strahlung
Einige Autoren schildern Zukunftsgesellschaften, in denen durch einen gentechnischen Defekt nur noch sehr nahe verwandte Personen überhaupt Kinder zeugen können. So begleitet Arndt Waßmann ein Geschwisterpaar durch eine Schulprojektwoche, in der die Geschichte des Genkrieges aufgearbeitet wird und die beiden jungen Protagonisten auf ihre "Reife" und Elternschaft vorbereitet werden. Noch drastischer ist Arno Endlers Zukunftsentwurf: In "Nicht von dieser Zone" gibt es ziemlich heftige körperliche Abwehrreaktionen zwischen Menschen verschiedener Reviere, und bereits der Geruch eines Fremdzonigen bewirkt, dass sich der jeweils andere übergeben muss. Denkbar schlechte Ausgangsbedingungen für das Liebespaar.
Ein Atomkrieg oder eine AKW-Katstrophe zwang die Menschen in Elisabeth Meisters "Hochzeitstag" dazu, in einem Bunker zu leben und nur noch untereinander Kinder zu bekommen. Aber draußen gibt es trotz der Strahlung Mutanten, denen menschliche Jagdtrups den Garaus machen, um vor der Hochzeit ihre Männlichkeit zu beweisen.
Inzest-Gesellschaften nach Raum-Unfällen
Der Leser erfährt von Nachkommen gestrandeter Raumfahrer, die notgedrungen alle miteinander verwandt sind. Von der Ausrottung einer gesamten Zivilisation aus solchen Inzestkindern, weil die Gesetze der militärbeherrschten Erde für Inzucht die Todesstrafe vorschreiben (C. J. Knittel: "Die Geächteten von Canopus 3"), aber auch vom Gegenteil: Von einer mehrere Generationen alten Inzestkultur, deren Nachkommen aber auf Exogamie programmiert sind und aufbrechen, sowie sich ein Hinweis auf mögliche auswärtige Geschlechtspartner ergibt (Marc-Denis Leitner: "Aufbruch der Gestrandeten"). Da ist von den Überresten einer versuchten Mond-Kolonisation die Rede, in der Menschen in Wohnkugeln mit knapp 30 Insassen plötzlich von der Erde abgeschnitten sind, oder von einem vergessenen Dorf, in dem nach dem Abzug der Bergbaugesellschaften und Minenarbeitern die Folgen einer Zyanid-Vergiftung sichtbar werden.
Romeo und Julia und die Neanderthaler
Aber auch das Gegenteil - "Exest" - wird thematisiert. So berichtet Frederik Brake in "Stammesriten" von einer Neandertalergruppe, die ein Exestpaar zum Tode verurteilt und damit den eigenen genetischen Verfall immer mehr beschleunigt. Carmen Mayer erzählt in "Exest" von einem Liebespaar, das das Pech hat, aus unterschiedlichen Familien zu stammen, und an den starren Moralvorstellungen einer inzestgläubigen Gesellschaft scheitert. Das mehrfach auftauchende "Romeo und Julia"-Thema wird besonders deutlich in Friedhelm Rudolphs Geschichte "Alles wird gut" verarbeitet: Julanna und ihr Geliebter Jens-Anders lassen sich heimlich trauen und begehen schließlich aufgrund mangelhafter Nachrichtenübertragung Doppelselbstmord in einer High-Tech-Leichenhalle.
"Säufer-Gen" spaltet die Gesellschaft
Da gibt es Gesellschaften, in denen "Gesunde" geächtet sind, da gibt es strenge Trennungen zwischen Menschen mit und Menschen ohne "Säufer-Gen", da gibt es an Insektenvölker erinnernde Außerirdische, die selbst nicht zeugungsfähig sind und alle von jeweils einer einzigen Mutter abstammen, oder einen verrückten Wissenschaftler, der seine DNA durch ein Virus auf alle Menschen überträgt und so eine Art Unsterblichkeit erreicht.
Inzucht - aber am Thema vorbei
Etwas am Thema vorbei gehen die Geschichten von Matthias Falke ("Das Zeit-Bran") und Sven Klöpping ("Die Suchtmaschine"). Hier wird zwar ebenfalls von sexuellen Beziehungen innerhalb naher Verwandter geschrieben, doch es handelt sich nicht um Inzenst-Gesellschaftsentwürfe, sondern jeweils um einen Einzelfall innerhalb "normaler" Exestgesellschaften.
Faszinierend-verruchtes Titelbild
Das Titelbild - zwei Mädchengesichter eines Zwillingspaares nebeneinander - ist einfach genial gewählt. Faszinierend, wie ein simples "nettes" Kinderfoto durch die Unterschrift "Inzest" an Dynamik gewinnt. Glückwunsch, eine sehr gute Idee.
Fazit: 19 durchweg gut bis sehr gut erzählte Geschichten mit zum Teil sehr detail- und einfallsreich konstruierten Zukunfts- und Parallelwelten. Der von BoD wohl befürchtete Aufruf zur Perversität findet jedenfalls nicht statt, und von sittenwidrigen Exzessen ist das Buch ebenfalls weit entfernt. Alles in allem eine lesenswerte, hochwertige und gut gemachte Anthologie. Unbedingt empfehlenswert.
Inzucht und die denkbare Gesellschaft. Story Center 2010. Hrsg. v. Michael Haitel. Murnau am Staffelsee: p.machinery, 2010. 350 S., Euro 14,90.
© Petra Hartmann