Das kleine blaue Fahrrad
Weihnachten Krimskrams
Das kleine blaue Fahrrad
„Und bist du auch immer schön artig gewesen ...?“
Wie ich diese Frage hasse. Artig. Wer ist denn heutzutage noch artig? Die Kleinen haben es faustdick hinter den abstehenden Ohren, das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock. Aber bitte, es steht nun mal so im Vertrag, dass ich das fragen soll. Und immer schön „Hohoho!“ rufen nicht vergessen. Also, weiter im Text: „Na, Kleine, bist du denn immer schön artig gewesen?“
Das kleine Mädchen mit den goldblonden Engelslocken schaut mich aus so großen unschuldsblauen Augen an, dass ich es beinahe doch glaube, als sie ernsthaft antwortet: „Ja, ich war total artig, ganz bestimmt.“
Ich tausche mit ihrer Mutter einen Blick. Sie verdreht kurz die Augen, nickt dann aber doch zustimmend. Ja, total artig. Jedenfalls in der letzten halben Stunde.
„Bist du der richtige Weihnachtsmann?“, fragt sie neugierig.
Ja klar bin ich das. Wer sonst würde sich wohl für sechs Euro die Stunde hier vors Einkaufsparadies stellen und sich den Hintern abfrieren. Der arbeitslose Karl Lehmann aus dem Schneiderweg 7 vielleicht?
„Hohoho“, sage ich. „Ja natürlich bin ich der Weihnachtsmann.“
„Der echte? Der ganz total echte?“ Ihre Augen werden groß und rund.
„Hohoho“, sage ich wieder. Wie immer, wenn ich im Text nicht ganz sicher bin. „Und du?“, lenke ich ab. „Was wünscht du dir vom Weihnachtsmann?“
Sie holt tief Luft. Und dann plappert sie los, irgendetwas von iPod, iPad, wii, der neuen CD von irgend so einem Halbwüchsigen. Ich merke erst, dass sie mit der Liste zu Ende ist, als eine peinliche Pause eintritt. Die Mutter nickt aufmunternd. Sieht ganz so aus, als sei die Bestellung von ihr bereits vollständig abgearbeitet.
„Nun, wir werden sehen“, murmele ich. „Wenn du wirklich so total artig warst ...“
„Ja, das war ich“, nickt sie eifrig.
„... dann kann es durchaus sein, dass du das alles unter dem Weihnachtsbaum findest.“
„Oh danke, lieber Weihnachtsmann. Das ist toll!“ Sie strahlt. Dann umarmt sie meinen mit einem dicken Kissen ausgestopften Bauch. Um ein Haar hätte sie mir noch den Bart runtergerissen.
„Hohohoho!“, sage ich. „Fröhliche Weihnachten!“
Ich reiche ihr ein kleines Schokoladentäfelchen mit dem Schriftzug des Einkaufsparadieses. Stolz klettert sie von meinem Schoß hinunter und läuft auf ihre Mutter zu. Beide gehen Hand in Hand davon.
Der kleine Junge mit den schwarzen Augen ist als nächster dran. Er friert in dem viel zu dünnen Anorak und ist dankbar, als ich den Mantel um ihn schlage.
„Bist du der echte Weihnachtsmann?“
„Hohohoho, was für eine Frage. Wer bist du denn?“
„Murad“, sagt er.
„Und bist du der echte Murad?“
Er lächelt höflich. „Sie sagen, dass du Wünsche erfüllen kannst. Stimmt das?“
„Hohohoho.“
„Das ist keine Antwort.“
„Ja, natürlich kann ich Wünsche erfüllen. Hohoho. Ich bin der Weihnachtsmann.“
Warum bin ich mir nur so sicher, dass er mir nicht glaubt? Und warum taucht ausgerechnet jetzt der Geschäftsführer des Einkaufsparadieses im Eingang auf? Jetzt muss alles perfekt sein, weiß ich. Und ich muss dieses Gör überzeugen, sonst ist es aus mit diesem Job, so kümmerlich er auch bezahlt wird.
Sanft streichele ich Murad über die borstigen schwarzen Haare. Ich erzähle vom Wunder der Weihnacht. Von der Heiligen Nacht und davon, wie inmitten der Eiseskälte das Fest der Liebe die Herzen der Menschen wärmt. Davon, wie schrecklich öd und leer eine Welt ohne den Glauben an den Weihnachtsmann wäre. Davon, dass der Weihnachtsmann der Freund aller Kinder ist. Ich erzähle von meinen nächtlichen Flügen mit dem Rentierschlitten, und beinahe höre ich selbst das Leder der Zügel vor Frost knirschen und die tausend goldenen Glöckchen durch die sternklare Welt klingen.
Murads Augen werden groß und rund. Der aalglatte Geschäftsführer wischt sich doch glatt eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann kehrt er zurück ins warme Einkaufsparadies. Und ich darf mir weiter den Arsch abfrieren.
„Hohohoho“, sage ich.
„Dankeschön, Weihnachtsmann“, flüstert Murad. Er klettert von meinem Schoß hinab und geht langsam und nachdenklich weg. Sogar seine Schokolade hat er vergessen.
Es ist dunkel geworden. Auch vor dem Schaufenster des Einkaufsparadieses und in der Glitzerwelt der vorweihnachtlichen Straßen. Nur wenige Spaziergänger sind zu dieser Zeit noch unterwegs, und Kinder gehören um diese Zeit ohnehin ins Bett. Langsam recke ich die steifgefrorenen Glieder. In fünf Minuten endet meine Arbeitszeit. Es ist überstanden. Hohohoho.
Die kleine alte Frau, die dort im Schatten steht, fällt mir jetzt erst auf. Aber wenn ich so recht darüber nachdenke, gestanden muss sie da schon lange haben. Unauffällig, wie kleine alte Menschen oft sind, so gut wie unsichtbar, steht sie dort vielleicht schon eine halbe Ewigkeit und beobachtet mich. Was immer sie davon auch haben mag. Alte Leute sind ja manchmal wunderlich.
Nun hat sie bemerkt, dass ich sie bemerkt habe. Sie lächelt unsicher. Dann kommt sie zögernd näher.
„Ich habe Sie beobachtet“, sagt sie mit leiser Stimme. Wie entschuldigend.
„Hohoho“, sage ich, da mir nichts Besseres einfällt.
„Wie Sie das mit den Kindern gemacht haben, das war ergreifend. So wie Sie habe ich mir immer den echten Weihnachtsmann vorgestellt, wissen Sie.“
„Hoho, Dankeschön.“
„Ich habe auch mal einen Weihnachtsmann getroffen“, sagt sie. Ihre Augen sehen aus, als sei sie sehr weit weg von hier. Seltsame Augen. Eine Farbe wie der Himmel an einem frostkalten Weihnachtsabend. Und ganz hinten flackert ein Polarlicht, aber das sieht man nur, wenn man ganz aufmerksam hinschaut.
„Hohoho“, sage ich.
Es ist kalt. Ich will nur noch nach Hause. Meine Füße spüre ich kaum noch.
„Ja“, sagt die Alte verträumt, und ihre Stimme kommt von so weit her, dass mich ein Frostschauer anweht. Dabei ist es eine warme, sanfte Stimme. „Das ist schon so lange her. Gleich nach dem Kriege, müssen Sie wissen. Wir waren ausgebombt damals. Keinen Pfennig in der Tasche, nichts zum Anziehen, nur das Zeug, das wir am Leibe trugen.“
„Hoho...“, will ich sagen. Aber ich verschlucke das weihnachtsmännische Gelächter lieber. „Eine dunkle Zeit“, sage ich.
„Ja“, nickt sie. „Eine schlimme Zeit. Ich war damals vielleicht so alt, wie der kleine Murad, der vorhin auf Ihrem Schoß gesessen hat. Mich fror entsetzlich. Und dann kam ich mit meiner Mutter die Straße entlang, und da saßen Sie. Verzeihung, nein, das waren natürlich nicht Sie, das war natürlich ein anderer, aber er war der Weihnachtsmann, verstehen Sie?“
Ich nicke stumm.
„Ich durfte auf seinem Schoß sitzen. Erst wollte ich nicht. Der fremde Mann war mir unheimlich. Aber Mutter hat mich hochgehoben. Und da war plötzlich dieses Gefühl. Ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen beschreiben soll. Es war wie eine Welle der Geborgenheit, die plötzlich durch meinen Körper lief. Und die Gewissheit, dass alles gut werden würde. Eines Tages vielleicht.“
Ich trete unbehaglich von einem Eisfuß auf den anderen. Warum erzählt sie das nicht dem Geschäftsführer des Einkaufsparadieses, denke ich. Damit der mal klarsieht, wie hier gearbeitet wird.
Sie sieht mich unsicher an. Da kommt noch etwas, ich spüre es schon, bevor sie die Worte ausspricht.
„Sagen Sie ...“, druckst sie herum. „Ich weiß natürlich, dass es kindisch ist. Sie sind ein vielbeschäftigter Mann. Und ich bin viel zu alt für so etwas. Ich frage mich nur ...?“
„Ja?“ Ich spreche mit tiefer, ruhiger Hohoho-Stimme. Was immer der Alten durch den Kopf geht, es muss heraus, und es muss heute noch heraus, sonst komme ich niemals nach Hause.
„Ob ich wohl ... ich meine ... natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht ...?“
Ich seufze. „Bitte“, sage ich.
Sie atmet erleichtert auf. Und ich erschrecke, als sie umständlich beginnt, auf meinen Schoß zu klettern. Dann fasse ich zu. Helfe ihr. Sie ist ganz klein und leicht. Ein Federgewicht geradezu. Gar kein Vergleich zu den dicken Kindern, die ich den ganzen Tag über hoch und runter wuchten musste. Ich spüre ihr Gewicht kaum. Sehe nur die eigenartig leuchtenden Polarlichtaugen in dem uralten Gesicht, die mich anblicken wie ein Zauberwesen. Sie schmiegt sich an mich, und fast kann ich es spüren, wie ihr warm wird. Schneeflocken sinken leise um uns herab. Dichter und dichter fallen sie. Nur um uns herum ist eine Insel aus Licht und Wärme und Weihnachtszauber.
„Und warst du denn auch immer schön artig?“, brumme ich.
Sie blickt mich an aus großen runden Augen. Hinten flackert etwas. „Ja, Weihnachtsmann, ich war ganz artig. Du kannst Mutti fragen.“
Ich nicke zufrieden. „Was wünscht du dir denn vom Weihnachtsmann?“
Da holt sie tief Atem. Dann seufzt sie. „Ach. Ach, das hat ja doch keinen Zweck. Das hat ja schon damals nicht geklappt. Ein Ruck geht durch den zierlichen Körper. Sie strafft sich. „Was werden Sie von mir denken? Sie müssen mich ja für verrückt halten.“
„Nichts da“, protestiere ich. „Nun sitzen Sie schon einmal hier, da werden Sie mir auch Ihren Weihnachtswunsch erzählen. Hohoho, das wäre ja noch schöner.“
Wieder seufzt sie. Doch sie nickt ergeben. „Ich habe mir damals ein Fahrrad gewünscht. Ein kleines blaues Fahrrad. Mit einer Hupe. Das hätte ich so gern gehabt. Was hätte ich für Fahrten gemacht. Ich und der blaue Blitz, wo wären wir nicht alles hingekommen. In die Berge und ans Meer. Geträumt habe ich von dem blauen Blitz. Wir beide sind bis in den Himmel gefahren, und immer auf dem Rand der Wolken entlang, und ich habe gehupt, und alle die Möwen und Engel sind erschrocken zur Seite gesprungen, wenn wir kamen ...“ Sie lächelt traurig. Dann beginnt sie langsam, von meinem Schoß hinabzuklettern. „Es war eine schlimme Zeit damals, wissen Sie? Den blauen Blitz habe ich nie bekommen. Ich bekam ein Paar Wollsocken und eine lange Unterhose. Und musste auch noch froh sein darüber, denn andere Kinder bekamen gar nichts.“
Sie senkt den Kopf und schickt sich an zu gehen.
„Warten Sie!“, rufe ich hastig.
Ich springe von meinem Sitz auf, schneller als gut ist für die steifgefrorenen Füße, doch ich spüre es kaum. Da, der dicke Geschenkesack neben mir. Ohne nachzudenken reiße ich die Schnur weg. Es ist alles so selbstverständlich, ich weiß genau, was zu tun ist. Der Sack öffnet sich, und ein unwirkliches Licht hüllt uns ein. Blaue Lichtstrahlen brechen durch den Jutestoff mit dem Aufdruck des Einkaufsparadieses.
Da steht er wirklich. Der blaue Blitz. Ein kleines blaues Kinderfahrrad. Und er hat eine Hupe am Lenker.
„Hohohoho!“, lache ich. „Fröhliche Weihnachten!“
Die alte Dame starrt mich fassungslos an. In ihren Augen brennt ein gewaltiges Feuerwerk von Polarlichtern.
„Danke, Weihnachtsmann“, flüstert sie. Dann streichelt sie ehrfürchtig über das blaue Metall des Rahmens.
„Da ist sie!“, ruft plötzlich jemand.
Drei, vier kräftige Männer in weißen Kitteln nähern sich.
„Ganz ruhig, Oma Trude“, sagt einer von ihnen. „Wir bringen Sie nach Hause. Es ist alles in Ordnung.“
„Es ist alles in Ordnung“, wiederholt sie leise.
Dann lacht sie, und in ihren Augen explodieren fröhliche blaue Blitze und gewaltige Polarlichter. Sie schwingt sich auf das Kinderfahrrad und braust laut hupend davon. Nur ein winziger Augenblick, dann ist sie verschwunden im Dunkel der Nacht.
Die Pfleger bleiben ratlos zurück. „Wo ist sie hin?“, fragt einer.
Ich zucke die Achseln. „Hohohoho!“, sage ich.
© Petra Hartmann