Nestis und ihre Ahnherrinnen: Die Göttin Nestis
Nestis griechische Mythologie
Über den eigenwilligen Namen meines Meermädchens Nestis mag sich der eine oder andere schon gewundert haben. Ich verdanke das schöne Wort meiner damaligen Beschäftigung mit den vorsokratischen Philosophen. Genauer gesagt war es Empedokles, der mir die Bekanntschaft mit Nestis vermittelt hat, und ich - in meiner bekannten Empfänglichkeit für Namensmagie - machte sofort im Hinterkopf eine Notiz. Diesen Namen wollte ich einmal verwenden. Begrüßt also nun im Blog:
Die Namenspatronin Nestis, eine Wassergöttin aus Sizilien
Der Philosoph Empedokles (um 485 bis 425 v. Chr.) stammte von Sizilien. Aus diesem Grunde mag ihm die sizilische Göttin Nestis (griechisch: Îῆστις) als passendste Vertreterin des nassen Elements erschienen sein, als er seine Lehre von den vier Elementen begründete und Feuer, Wasser, Erde und Luft jeweils durch eine Gottheit bezeichnete. In einem Fragment aus dem ersten Buch seiner "Physik" ist folgender Satz überliefert:
"Die vier Wurzelgebilde aller Dinge höre zuerst: leuchtend-heller Zeus [Feuer] und lebensspendende Hera [Erde] und Aidoneus [der "Unsichtbare" - Luft] und Nestis [das "Fließende" - Wasser], die mit ihren Tränen den sterblichen Quellstrom befeuchtet."
(Aus: Die Vorsokratiker II. Zenon, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demoktit. Griechisch / Deutsch. Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterungenvon Jaap Mansfeld. Stuttgart: Reclam, 1999. S. 75. - Die obigen Einschübe in eckigen Klammern stammen von Mansfeld.)
Außer mit ihren befruchtenden Tränen sei die Wasserspenderin Nestis noch für eine weitere für den Menschen unverzichtbare Sache zuständig, nämlich beim Aufbau der Knochen. Ebenfalls im ersten Buch seiner "Physik" heißt es:
"Da erhielt die Erde voller Freude in ihren schönbrüstigen Schmelzöfen zwei der acht Teile vom Glanze der Nestis [Wasser] und vier des Hephaistos [Feuer]; das wurden die weißen Knochen, durch den Leim der Harmonia [Liebe] zusammengefügt." (Ebd., S. 111)
Die Nachrichten sind dünn gesät über Nestis. In den gängigen mythologischen Lexika kommt sie nicht vor. Der Komödiendichter Alexis soll sie einmal als sizilische Wassergöttin erwähnt haben. Abgesehen von einer Erwähnung der Göttin Nestis bei Eustathios von Thessalonike (* um 1110, † ca. 1195 n. Chr.) war dies schon alles, was über antike Zeugen über Nestis berichteten. Eustathios war ein byzatinischer Gelehrter, der in einem Kommentar über Homers "Ilias" ebenfalls festhielt, dass Nestis eine Wassergöttin von Sizilien sei.
In der neueren Zeit - also ab dem 19. Jahrhundert - hat die These einigen Anklang gefunden, Nestis sei ein anderer Name für Persephone, die Gattin des Unterweltsgottes und Totenherrschers Hades/Aidoneus (als erster Wilhelm Sturz, 1805. In neuerer Zeit Peter Kingley, 1996). Da im oben genannten Fragment Zeus und seine Gattin Hera erwähnt sind, so die Begründung, müsse man bei der Erwähnung von Hades parallel dazu auch dessen Ehefrau erwarten, also Persephone. Da Persephone als Göttin des Korns verehrt wurde und damit die Fruchtbarkeit symbolisierte, passt sicher auch Idee von den fruchtbarkeitsspendenden Tränen gut dazu. Weniger gut will mir allerdings gefallen, dass Tränen überhaupt Fruchtbarkeit spenden. Schließlich sind sie Salzwasser. Immerhin scheint diese Nestis damit dem Meer nicht ganz fremd zu sein.
Etwas über das ZIel hinausgeschossen ist 1896/97 wohl ein Wissenschaftler, der in einer alten Grabinschrift das Wort "pistis" (fromm) als "Nestis" las. Herr Dieterich sah obendrein Nestis als von dem Wort nesteuein (fasten) abgeleitet. Er interpretierte Nestis als eine Figur, die dem Kult des Attis zugehörte, und versuchte, sie als eine Art "Isis-Persephone" aufzufassen. "Doch wurde Dieterichs Lesung [...] überzeugend als Irrtum erwiesen [...], und damit erübrigen sich alle sprachlichen und religionsgeschichtlichen Folgerungen Dieterichs", hält Karl Preisedanz in der Realencyclopädie fest. (Karl Preisedanz: Nestis. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 33. Stuttgart, 1936. S. 107.)
Preisedanz leitet Nestis dagegen von νάω (nao - baden, waschen, poetisch: fließen; verwandt mit dem lateinischen nare - schwimmen) ab. Etymologisch verwandt ist die Wassergöttin daher mit den Najaden, den Töchtern des Okeanos. Diese Nymphen galten als Hüterinnen von Teichen, Flüssen, Bächen, Quellen und weiteren Gewäsern. Eine Verwandtschaft, die zu der Göttin sehr gut zu passen scheint.
© Petra Hartmann
Weitere Nestis-Ahnherrinnen:
Andersens kleine Meerjungfrau
Die Göttin Nestis
Die Göttin Thetis
Melusine
Undine
Glaukos Pontios
Ran und die Wellenmädchen
Die Loreley
Die schöne Lau
Die Göttin Tethys