Charlotte Rogan: In einem Boot
Bücher - Abenteuer Charlotte Rogan Schiffsunglück
Ein Schiffsunglück, ein hoffnungslos überladenes Rettungsboot, mehrere Todesfälle und ein Gerichtsprozess um Schuld und Unschuld der Überlebenden - darum geht es um Charlotte Rogans Roman "In einem Boot". Ein spannendes Thema. Spannend zu lesen ist allerdings leider nur der Klappentext. Und zum Zugreifen zwang mich das großartige Cover. Der Rest ist enttäuschend.
Rogan erzählt die Geschichte der jungen und frisch verheirateten Grace Winter, die nach dem Untergang der "Zarin Alexandra" zusammen mit 37 anderen Personen in einem Rettungsboot irgendwo zwischen England und Amerika treibt. Offiziell ist das Boot für 40 Menschen zugelassen, doch schon bei 38 Menschen an Bord - darunter zahlreiche Frauen und ein Kind - liegt es beängstigend tief im Wasser. Als dann auch noch Trinkwasser und Nahrung knapp werden und überdies ein Sturm droht, wird klar, dass die Gruppe zu groß ist. Nach und nach gehen einige der Schiffbrüchigen über Bord. Manche aus Verzweiflung oder weil sie am Tod ihrer untergegangenen Angehörigen zerbrechen, manche sterben an Entkräftung, einige opfern sich oder werden mehr oder weniger freiwillig beim Hölzchen-Ziehen ausgelost. Einige verschwinden. Und einmal kommt es sogar zu einer Hinrichtung beziehungsweise zu einem Mord, als eine resolute Dame den bisherigen Schiffsführer absetzt und ihn, unterstützt durch eine weitere Frau und Grace, mit Gewalt über Bord wirft. Am Ende steht ein Gerichtsprozess, in dem entschieden werden soll, ob Grace eine Mörderin ist oder nicht.
Großartiger Plot - hoffnungslos vergeigt
Das ganze ist einfach ein großartiger Plot. Umso mehr tut es weh, dass Charlotte Rogan die Geschichte hoffnungslos vergeigt hat. Drei Wochen hilflos in einem Rettungsbot. Man hätte ja nicht unbedingt gleich das Floß der Medusa bemühen müssen, aber ein wenig mehr von der Verzweiflung und der psychischen und physischen Grenzsituation hätte ich schon gern beim Lesen gespürt. Einmal wird, rein theoretisch, das Thema "Kanibalismus" angeschnitten und sofort verworfen. Wie überaus anständig. Einmal wird Aristoteles zitiert. Und der "Leviathan". Nun ja. Vom Hunger spürt man nichts beim Lesen. Vom Wassermangel nichts. Zwar werden ab und zu mal die rauen, aufgeplatzten Lippen erwähnt, aber es wird eben nur gesagt, nicht erfahrbar gemacht.
Es gibt keine Gespräche mit Tiefgang, ja nicht einmal irgendwie identifizierbare Charaktere. Von den 38 Personen an Bord wird kaum eine so gezeichnet, dass man sie überhaupt wiedererkennen würde, wenn man zwei oder drei Seiten später auf sie stieße. Die Figuren bleiben schattenhaft, zweidimensional, selbst das auf so engem Raum doch irgendwann auftreten müssende Konfliktpotential bleibt unsichtbar. Die Leute sitzen zumeist apathisch herum, selbst die Ich-Erzählerin bleibt eine leere Hülle. Die Erzählung plätschert an der Oberfläche dahin.
Aufgeworfene Fragen werden nicht gelöst
Die meisten Fragen, die Grace während der Fahrt beschäftigen, bleiben unaufgeklärt. Ob Hardie nun ein Dieb ist und was in dem Kästchen war, bleibt offen. Ob sie sich mit ihrer unbekannten Schwiegermutter treffen wird, bleibt offen. Ob es Notrufe per Funk gegeben hat, bleibt offen. Die Ursache der Katastrophe bleibt offen. Und was in den geheimnisvollen Kisten der Bank war und ob es einen Diebstahl gab, wird ebenfalls nicht mehr erwähnt, als die Schiffbrüchigen endlich gerettet sind. Dabei haben diese Fragen Grace - und damit auch den Leser - die ganze Fahrt über bewegt.
Dass es zwischen Mr Hardie, dem einzigen Seemann an Bord und Leiter der Gruppe, und Mrs Grant, die ihm später erfolgreich die Führung streitig macht, irgendwann zum Konflikt kommen würde, war von Anfang an klar, das verrät die Ich-Erzählerin ja bereits in der Rahmenhandlung. Aber die Entstehung des Konflikts bleibt mehr oder weniger im Dunkeln, und die Motive von Mrs Grant sind mir noch immer nicht ganz klar.
Man spürt überhaupt keine gruppendynamischen Prozesse an Bord. Die Figuren bewegen sich wie Marionetten an den Fäden der Autorin, die sich wohl einiges angelesen hat und nun bestimmte Pflicht-Situationen schildern will, so erzählt sie vom Lose-Ziehen und von der Rationierung des Wassers und so weiter. Aber man spürt keinen einzigen lebenden Menschen an Bord, man spürt nicht einmal die Wellen, den Wind und das Salz. Verpasst.
Dass auch die anschließenden Gefängnisszenen, die Gespräche mit dem Psychiater und der Prozess oberflächlich bleiben und sinnlich nicht erfahrbar gemacht werden, ist dann nur noch der traurige und folgerichtige Abschluss einer Erzählung, die einen besseren Erzähler verdient und benötigt hätte.
Fazit: Gute Idee, leider vollkommen unzureichend umgesetzt. Flache Charaktere, schwache Handlung, keinerlei Verständnis von Psychologie, Personenzeichnung, Konfliktschilderung, Gruppendynamik, Spannungsaufbau und Seefahrt. Finger weg von diesem Buch!
Charlotte Rogan: In einem Boot. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Alexandra Ernst. Bindlach: Script5, 2013. 336 S., Euro 18,95.
© Petra Hartmann