Nestis und ihre Ahnherrinnen: Die Göttin Thetis
Nestis Thetis
Die vermutlich erste Meerfrau, mit der ich mich kreativ befasst habe, war erstaunlicherweise nicht die märchenhafte kleine Meerjungfrau Andersens. Als echter Schüler eines humanistischen Gymnasiums habe ich mich lange vor meinen dänischen Studien bereits in der Welt Homers herumgetrieben. Und da konnte es natürlich nur eine geben, die meine Phantasie entzündete: Thetis, die "silberfüßige Tochter des Alten im Meere", wie das schmückende Beiwort sie beschrieb.
Silberfüßig - das klang nach Quecksilber, Heiterkeit, das klang beweglich und spritzig. Dass diese Tochter des Meergreises Nereus als Mutter des Achill eher eine traurige und ernsthafte Rolle in der Ilias gespielt hat, klammerte ich dabei wohl meist aus. Für mich war sie eher die heitere und unbeschwerte Meeresnymphe, jugendlich, hübsch und selbstbewusst genug, sich auf eine Beziehung mit Zeus einzulassen. Immerhin hatte sie ja später auch Mut genug, den übellaunigen Donnerer anzugehen und ihm das Versprechen abzuringen, dass es den Griechen übel ergehen sollte, bis sie sich bei Achill für die ihm zugefügte Kränkung angemessen entschuldigt hatten.
Thetis, Tochter des Nereus und der Doris, wurde vor allem in Thessalien als Meergöttin verehrt. Aber auch in Sparta, Gythion und Erythrai gab es Kulte, und Herodot berichtet sogar, dass die Perser ihr auf der Halbinsel Magnesia ein Opfer darbrachten.
Die griechischen Meeresgötter stellten meist eine sehr eigene und eigen-willige Macht jenseits des Olymps dar, einzig Poseidon als einer der zwölf Großen zählte zu den Olympiern, doch auch er war für Zeus eine nie ganz beherrschbare Größe und war unter anderem auch am legendären Aufstand der Olympier gegen den Kroniden beteiligt. Ihr Vater Nereus gehörte zu den Älteren Göttern und war wenig eingebunden in olympische Strukturen.
Trotzdem scheint Thetis im Olymp recht gut vernetzt gewesen zu sein. Zeus Gattin, die Göttermutter Hera, zog sie auf. Mit Zeus selbst hatte sie ein Verhältnis. Und nur ihrer Warnung hatte der Götterkönig es zu verdanken, dass er ein Komplott im Götterhimmel rechtzeitig bemerkte und seinen Thron behaupten konnte. Schließlich warben sogar Zeus und Poseidon ganz offen um ihre Hand.
Es ist dem Titanen Prometheus zu verdanken, dass keine der beiden Ehen zustande kam. Der von Zeus an einen Felsen gekettete, mit der Gabe der Weissagng begabte Gott konnte sich mit einer wichtigen Information aus der Gefangenschaft loskaufen: Er prophezeite, dass Thetis, sollte sie von einem Gott schwanger werden, einen Sohn zur Welt bringen würde, der zum neuen Götterkönig bestimmt sei. Er wäre stärker als Zeus und würde seinen Vater vom Thron stürzen. Darauf nahmen Zeus und Poseidon Abstand von der Hochzeit. Lieber solle sie den menschlichen König Peleus heiraten und Mutter eines großen Helden werden.
Thetis war erst gar nicht begeistert. Sie verwandelte sich in einen Fisch und schwamm davon. Woraufhin die Götter Peleus die Fähigkeit verliehen, sich ebenfalls in diverse Tiere zu verwandeln. Es gab eine Verfolgungsjagd durch alle Elemente, bis er sie schließlich fing.
Eine andere Variante der Geschichte erzählt von einem Ringkampf, in der Peleus sie festhalten muss, egal in welche Gestalten sie sich verwandelt. Es erinnert ein wenig an die irische Sage von Tam Lin: Thetis verwandelt sich in Feuer und Wasser, einem Löwen und eine Schlange, sogar in einen Tintenfisch. Peleus beißt die Zähne zusammen und hält sie unverdrossen fest, obwohl er verbrannt, durchnässt, zerkratzt, gebissen und mit Tinte bespritzt wurde (Tintenfisch Otto lässt grüßen).
Ovid schildert es in seinen "Metamorphosen" (11, 221-265) so:
Proteus hatte, der Greis, zu Thetis gesprochen: "Empfange,
Göttin der Flut! Ein Sohn wird dein, der höhere Taten
Als sein Erzeuger vollbringt und größer als jener genannt wird."
Drum, dass Größeres nicht als Iupiter hätte das Weltall,
Meidet, obschon nicht lau in der Brust ihm glühte die Sehnsucht,
Iupiter doch den Verein mit der meerumwogeten Thetis.
Selber entsagend gebeut er dem aiakidischen Enkel,
Hinzunehmen die Braut und die Seejungfrau zu umarmen.
An dem haimonischen Land ist sichelgestaltig ein Busen;
Vor sind die Arme gestreckt, und zum Hafen bei tieferem Wasser
Wär' er bequem; doch flach deckt eben den Boden die Meerflut.
Fest ist daneben der Strand, der weder bewahret den Fußtritt,
Auch nicht aufhält im Gang, noch trägt wirrhangendes Seegras.
Nah ist ein Myrtengebüsch, reich an zweifarbigen Beeren;
Mitten darin ein Grottengewölb, natürlich gebildet
Oder durch Kunst, mehr wohl durch Kunst. Dort kamst du gewandlos,
Thetis, zum öfteren hin, vom gezäumten Delphine getragen.
Wie du vom Schlummer bestrickt dort ruhtest, wagte dir Peleus
Dringlich zu nahn, und weil du, versucht durch Bitten, dich weigerst,
Braucht er Gewalt und hält dir den Hals mit den Armen umschlungen.
Hättest du nicht dich gewandt, die Gestalt vielfältig verändernd,
Zu der gewöhnlichen List, ihm wäre gelungen das Wagnis.
Vogel erschienst du zuerst: doch fest hielt jener den Vogel;
Dann schwer lastender Baum: an dem Baum auch haftete Peleus.
Aber in dritter Gestalt als fleckige Tigerin drohend
Schrecktest du Aiakos' Sohn, dass dich zu umfassen er abstand.
Drauf nun ehrte mit Wein, den über die Wogen er ausgoss,
Jener die Götter des Meers, mit Geweiden des Viehs und mit Weihrauch,
Bis aus dem Strudel hervor ihm so der karpathische Seher
Zurief: "Aiakos' Sohn, du erlangst die begehrte Vermählung.
Binde sie nur, wenn schlummernd sie ruht in der schattigen Grotte,
Schleunig und unvermerkt mit Stricken und haltenden Fesseln;
Und sie betrüge dich nicht, mag hundert Gestalten sie heucheln:
Zwinge sie, was sie auch sei, bis ihr früheres Wesen sie herstellt."
So gab Proteus Rat und barg in den Fluten das Antlitz,
Und sein wallendes Meer ging über das Ende der Rede.
Abwärts fuhr der Titan und war mit geneigeter Deichsel
Dicht am hesperischen Sund, als Nereus' reizende Tochter
Wieder die Tiefe verließ und betrat die gewöhnliche Ruhstatt.
Peleus nahete kaum, da nimmt die gefährdete Jungfrau
Wechselnde neue Gestalt, bis dass sie am Ende die Glieder
Fühlet gehalten und weit auseinander gezogen die Arme.
Da nun seufzt sie und sagt: "Du siegst nicht ohne die Götter",
Und sie erschien wie zuvor. Die wirkliche Thetis umarmet
Peleus, glücklich im Wunsch, und zeugt ihr den großen Achilleus.
(Übersetzung: Reinhart Suchier, 1862)
Schließlich wird die Hochzeit gefeiert. Eingeladen sind alle Götter - mit Ausnahme der bösen Eris, die, ähnlich wie die 13. Fee bei Dornröschen, auf Rache sinnt und auf perfide Weise den Tronanischen Krieg auslöst.
Thetis wird bald darauf Mutter des Achill. Sie gibt dem Kind alles mit, was es als Rüstzeug für das Leben als Held braucht. Vor allem taucht sie ihn in die Wasser des Unterweltflusses Styx, um ihn unverwundbar zu machen. Da sie ihn dabei aber irgendwie festhalten muss, bleibt an der Ferse ein Stücklein seines Körpers ungeschützt, die Achillesferse, die später Ursache seines Todes sein wird. Als besorgte Mutter versucht sie zunächst, den jungen Achill vom Trojanischen Krieg fernzuhalten, indem sie ihn in Mädchenkleidung steckt, als Agamemnon und seine Getreuen Mitstreiter für den Kampf gegen Troja suchen. Später ist sie es aber auch, die für ihn die sagenhafte Rüstung und einen Schild mit unglaublich kunstvollen Bildnissen besorgt. Denn auch der Götterschmied Hephaistos ist mit Thetis gut befreundet und schuldet ihr noch einen Gefallen.
Manche beginnen die Geschichte des Trojanischen Krieges ja mit dem Parisurteil, manche mit dem Ei der Leda. Ich selbst habe meiner kleinen Schwester damals gefühlt tausendmal die Geschichte Trojas erzählt und immer einen neuen Einstieg gesucht. Aber am häufigsten begann ich doch mit Thetis.
Zweimal habe ich versucht, das Ganze als Buch zu gestalten. Der erste Versuch - leider in Buntstift und nach dem Einscannen nicht gerade vorzeigbar - zeigte eine junge Frau mit grüngelben, vom Wind zerzausten Haaren, einem hellgrünen Minirock, der im Wind wehte, und silbernen (Bleistift) Beinen, deren Waden hinten zwei spitze Flossen hatten (ähnlich dem Superhelden Aquaman). So stand sie, die Hände in die Hüften gestützt im knöcheltiefen Wasser am Meeresufer und nahm das Festland in den Blick. Das Ganze hätte ein Bilderbuch für meine Schwester werden sollen, damit sie sich endlich merkte, was rund um Troja so los war. Ich bin aber über die ersten sieben Zeichnungen nicht hinausgekommen. Ein Text dazu kam nicht zustande.
Den zweiten Versuch seht ihr unten. (Ich bitte um Nachsicht für die zeichnerische Qualität, damals war ich noch ziemlich jung ...) Hier hat Thetis keine Füße, sondern einen ordentlichen meermädchenkonformen Fischschwanz und sitzt auf einem Stein am Ufer. Die Inspiration durch die kleine Meerjungfrau im Kopenhagener Hafen ist unverkennbar. Das Bild gehört zu einer Serie aus 39 Zeichnungen (davon habe ich tatsächlich 33 fertigbekommen). Es sollte ursprünglich mal ein Lyrikband mit dem Titel "Stimmen um Troja" werden, in dem jeder der dargestellten Charaktere seine eigene Sicht auf das Kriegsgeschehen und Sinn oder Unsinn dieses Krieges äußern sollte. Von den Gedichten habe ich kein einziges geschrieben. Aus heutiger Sicht möchte ich hinzufügen: Gottseidank. Es wäre schrecklich schwülstig geworden. ;-)
Eine kleine Erinnerung an Thetis ist im Nestis-Kosmos übrigens noch zu finden: Thetis ist der Name einer Schwester der Titelheldin. Zusammen mit Glauke bildet sie ein Zwillingspaar. Die beiden sind nach der kleinen Undine die jüngsten der sieben Töchter des Meerkönigs.
© Petra Hartmann
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