Weiße Weihnachten
Weihnachten
Viel Vergnügen mit dem neuen Weihnachtsmärchen und fröhliche Weihnachten!
PS: Falls jemand mehr Weihnachtsmärchen von mir lesen möchte: Meine Geschichte "Paulchen mit den blauen Augen" findet ihr heute in der Weihnachtsbeilage der Hildesheimer Allgemeinen.)
Weiße Weihnachten
Weiße Weihnachten. Er hasste weiße Weihnachten. An jedem anderen Tag, in jeder anderen Nacht wäre ihm das Schneetreiben herzlich egal gewesen. Aber ausgerechnet an Heiligabend musste die olle Frau Holle ihre Federbetten ausschütten und alle Straßen und Wege unter hohen weißen Pulverschneebergen verschwinden lassen. Weiße Weihnachten.
Günther starrte angestrengt durch die Frontscheibe. Die Scheibenwischer, auf höchste Schlagzahl eingestellt, kämpften einen schier aussichtslosen Kampf gegen die auf ihn einstürzenden Schneeflocken, die sich im Licht der voll aufgeblendeten Scheinwerfer in einen wahren Glühwürmchensturm aus sprühenden Feuerfunken verwandelt hatten. Die blaue Lampe des Aufblendlichtes und die orangefarbene der Nebelschlussleuchte glommen übereinander im Dunkel, daneben die Uhrzeit - längst Zeit für die Bescherung - und der beleuchtete Tacho, dessen Zeiger um die 40er Marke herumzitterte. Die Idioten im Radio spielten gerade „White Christmas“. „So ein Mist“, zischte Günther.
Hätte das Wetter nicht morgen erst umschlagen können? Oder wenigstens gegen Mitternacht? So war sein Handy losgegangen, als er sich gerade in das rote Weihnachtsmann-Kostüm hineingezwängt hatte. Und mit einem Fluch hatte er den roten Mantel in die Ecke gepfeffert und sich stattdessen die orangefarbenen Arbeitsklamotten übergestreift. Am städtischen Betriebshof hatte sein Wagen schon auf ihn gewartet, aufgetankt und bis obenhin mit Streusalz beladen. Manni hatte ihm natürlich die Tour zum Weißen Berg zugewiesen. Günter hatte auf dessen „Fröhliche Weihnachten“ nur mit einem „Du mich auch“ geantwortet, und war davongebrettert. So ein Mist.
Die Sicht wurde immer schlechter. Nur die Straßenbäume rechts und links verrieten ihm ungefähr, wo die Fahrbahn lag. Mit schmalen Augen und um das Lenkrad gekrampften Fingern fuhr Günther geradeaus. Immerhin, der Motor brummte zuverlässig und hinter ihm rieselte und sprühte das Salz auf die weiße Schneedecke. Auf dem Rückweg würde er sich an der freigestreuten Spur orientieren können, wenigstens das.
Aber wer zum Henker machte bloß solche Pläne? Den Weg zum Weißen Berg freizustreuen, das war doch absurd. Da oben gab es bloß drei Häuser, und mindestens zwei waren sowieso in dieser Jahreszeit unbewohnt. Sein Einsatz hier, das war doch ein Fall für den Steuerzahlerbund. Und zu Hause saß seine kleine Minnie und wartete auf den Weihnachtsmann. Sie würde weinen, ganz bestimmt. Günther stieg aufs Gas, zog aber den Fuß sofort zurück, als der Streuwagen auszubrechen drohte. Nein, besser doch kein Wettrennen mit der Zeit. Besser, sie weinte wegen eines ausgebliebenen Weihnachtsmanns als wegen eines verunglückten Vaters. Auch wenn es etwas länger dauerte.
Gottseidank, da vorne war endlich der Wendehammer. Und wie er es gedacht hatte: Alles dunkel. Nur in einem der Häuser brannte Licht, da feierte wohl eine Familie und freute sich über die weiße Weihnacht. Idioten. Günther warf wütend eine Extraportion Salz auf das parkende Auto, dann wendete er und fuhr den Berg langsam wieder hinunter.
Vorsichtig musste er sich vorantasten, immer aufpassen, dass er nicht in den Straßengraben rutschte oder einen der Bäume mitnahm. Überhaupt waren die Bäume noch immer seine einzigen Orientierungspunkte. Langsam, ganz langsam suchte er sich seinen Weg zurück durch den Schneeflockenreigen. Warum zum Henker war die Spur links von ihm noch immer nicht zu sehen? Die Asphaltdecke hätte doch schon längst schwarz aus dem Schneematsch hervorleuchten müssen. Doch nichts dergleichen war da zu finden, nicht einmal seine Reifenspuren von der Hinfahrt. So ein Mist. Offenbar war dieses Schneegestöber doch stärker als er gedacht hatte. Die Flocken hatten die von ihm gestreute Fahrbahn bereits innerhalb weniger Minuten wieder in Besitz genommen und unter sich begraben. Es war zum Aus-der-Haut fahren. Aber Schimpfen half nicht. Günther musste sich auf die Straße konzentrieren. Beziehungsweise auf das, was er von der Straße erahnte. Unendlich langsam rollte der orangefarbene Wagen bergab. Und es wurde später, immer später.
Erst als er die Bundesstraße erreichte, sah Günther wieder eine schwarze Fahrbahn vor sich. Schwarz, glitzernd, aber eisfrei, ganz wie es sich gehörte. Zufrieden schaltete er die Streuanlage ab. Aber als er in den Rückspiegel auf die schmale Kreisstraße zum Weißen Berge zurückblickte, lag alles noch weiß und unberührt da, eine dichte Schneedecke breitete sich über die Fahrbahn aus, und nur die Bäume zeigten an, wo die Straße verlief. Günther zuckte die Achseln. Sein Job war erfüllt, sagte er sich. Er hatte am Weißen Berg gestreut und damit basta. Was konnte er denn dafür, wenn der Schnee hier so hartnäckig war? Zu Hause wartete seine Tochter auf ihn. Er stieg aufs Gas und fuhr zügig auf die freie Bundesstraße.
„Und was, wenn die Familie dort oben heute doch noch in die Stadt muss?“, flüsterte eine leise Stimme in seinem Kopf.
„Nicht mein Problem“, murmelte Günther. „Die werden sich eher freuen über die weiße Prachtweihnacht. Ist doch ein Abenteuer.“
„Aber vielleicht haben sie auch ein kleines Mädchen wie deine Minnie. Vielleicht braucht sie ausgerechnet heute Nacht einen Arzt oder muss sogar ins Krankenhaus ...“, flüsterte es leise.
„Verdammter Mist, das ist doch nicht mein Problem!“, fluchte Günther.
Er fluchte und schimpfte, bis er zur nächsten Ausfahrt kam. Und er fluchte immer noch, als er schon längst gewendet hatte und auf dem Weg zurück zum Weißen Berg war. Als er in die schmale, kaum sichtbare Straße einbog, schaltete er den Salzstreuer wieder an. Er stellte diesmal die doppelte Streumenge ein. Für besonders große Schneemassen und hartnäckige Eispanzer. Dann tuckerte er an den tief verschneiten Feldern und den kahlen Bäumen entlang. Langsam und sorgfältig. Manni würde ihm nicht nachsagen können, dass er schlampig arbeitete. Und falls es in dem Haus ein kleines Mädchen wie seine Minnie geben sollte, nun, seinetwegen würde sie bestimmt nicht dort oben festsitzen und vergeblich auf den Notarzt warten müssen.
„Es schneit, es schneit, kommt alle aus dem Haus“, quäkten dusselige Kinderstimmen aus dem Radio. „Mistwetter!“, schimpfte er. Die Scheibenwischer wischten und schaufelten die dichten Flocken von der Windschutzscheibe, aber sie kamen mit dem Schneeschieben kaum noch nach.
Da, endlich! Der Wendeplatz war fast nur noch an dem aufgestellten Hinweisschild zu erkennen. Daneben stand das Auto von vorhin und war vollkommen zugeschneit. Und etwas weiter hinten leuchtete das einsame Licht aus dem Fenster des dritten Hauses. Günther warf fluchend noch eine Extraportion Salz aus, wendete und fuhr den Hang wieder hinunter. Doch schon nach wenigen Metern wurde sein Fluchen zu einem verzweifelten Schreien. Da war noch immer keine Fahrbahn. Nichts. Nur die unberührte weiße Schneedecke und eine viel zu schmale Straße, die sich zwischen den Bäumen allenfalls erahnen ließ. Günther biss die Zähne zusammen. Angestrengt starrte er auf die weiße Fläche vor sich und versuchte, in dem Gestöber wenigstens eine Andeutung von Reifenspuren zu entdecken. Aber da war nichts. Weiß und unschuldig lag die schmale Straße vor ihm, als hätte sie niemals einen Streusalzfahrer gesehen. Es war wie verhext.
Noch langsamer und vorsichtiger als beim ersten Mal ließ Günther seinen Wagen den Hang hinunterrollen. Der Motor brummte noch immer ruhig und zuverlässig, und das war das einzige, was ihm in dieser Nacht noch das Gefühl vermittelte, die Dinge in der Hand zu haben. „Schneeflöckchen, Weißröckchen“, sangen sie im Radio. Schluss damit. Er drehte den Ausschalteknopf so energisch, dass er ihn beinahe abbrach. Konzentriert lauschte er nach hinten. War das Geriesel des Streusalzes noch zu hören? Womöglich waren die Düsen verstopft? Oder hatte er etwa schon alles Salz verbraucht und fuhr hier mit leerem Wagen auf und ab? Das war doch lächerlich.
Als er die schwarze Bundesstraße vor sich liegen sah, stoppte er den Wagen und legte Leerlauf und Handbremse ein. Durch Schnee und Wind kämpfte er sich nach hinten und bekam sofort einen kräftigen Sprühstrahl Streusalz auf die orangefarbenen Hosenbeine geschleudert. Der Wagen schüttete einen wahren Hagelsturm an Salzkörnern hinaus in den Schnee, und Günther atmete erleichtert auf. Alles schien in Ordnung zu sein. An der Technik jedenfalls lag es nicht. Nur die Straße zum Weißen Berg, die lag immer noch weiß und zugeschneit hinter ihm.
„Das wollen wir doch mal sehen!“, rief Günther aus. Er sprang ins Fahrerhaus, wendete und fuhr erneut bergauf. Zum dritten Mal. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn er vor dieser dummen Straße kapitulierte.
Beim vierten Mal fluchte er schon etwas leiser.
Beim fünften Mal war er heiser.
Beim sechsten Mal schwieg er, stierte nur noch aus rot unterlaufenen Augen vor sich in das Schneetreiben und knirschte mit den Zähnen.
Als er zum siebten Mal am Fuße des Berges wendete, glaubte er, etwas Schwarzes unter der Schneedecke zu sehen. Beim achten Mal war er ganz sicher: Das Streusalz zeigte endlich Wirkung. Nach dem neunten Wenden sah er beim Zurückfahren die Gegenspur vollkommen schwarz vor sich liegen. Und als er unten an der Bundesstraße angekommen war, siehe da, da lag hinter ihm endlich die gesamte kleine schwarze Kreisstraße schneefrei in der Nacht und der Weg zum einsamen Haus war für jeden Notarzt passierbar.
„Günther, das hast du gut gemacht“, sagte er zu sich selbst. Aber dann dachte er wieder an seine Minnie und schaute auf die Uhr. „So ein Mist“, murmelte er. „Für nichts und wieder nichts diesen Berg freistreuen, das ist doch eine Schande. Und dafür muss Minnie ausgerechnet an Heiligabend auf ihren Vater verzichten.“
Es hatte aufgehört zu schneien. Gerade wollte Günther auf die Bundesstraße auffahren, als er am Straßenrand einen großen, kompakten Schatten entdeckte. Vor Schreck hätte er seinen Streuwagen beinahe in den Straßengraben gesteuert. Doch er schaffte es noch rechtzeitig, sein Gefährt zu stoppen. Brummend stand der orangefarbene Wagen am Straßenrand und zitterte vor sich hin, genau wie sein Fahrer. Günther blickte unsicher zu dem großen schwarzen Schatten hinüber. War dort ein Lastwagen in den Straßengraben gerutscht? Dann hatte der Fahrer seinen Führerschein garantiert in der Lotterie gewonnen. Wer konnte schon auf einer so vorbildlich freigestreuten Straße die Kontrolle über seinen Wagen verlieren? „Anfänger“, knurrte er. Aber was half es? Minnie war wohl ohnehin längst im Bett. Da konnte er die paar Minuten auch noch bleiben und dem Trottel dort drüben gehörig die Meinung sagen. Er schaltete den Motor ab, holte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stapfte hinüber zu dem Unfallwagen.
„Hallo? Sind Sie in Ordnung?“, krächzte er.
Ein Schwall von Schimpfwörtern toste ihm entgegen. Da saß jemand und fluchte lautstark. Weder Seemänner noch Streusalzfahrer hatten jemals solche schlimmen Worte in die Nacht hinausgeschrien wie dieser Fahrer. Um Himmelswillen! Wo hatte der Mann nur all die Kraftausdrücke her?
Erschrocken blieb Günther stehen. Das war kein Lastwagen. Und der Mann, der da so schimpfte, das war auch kein Brummifahrer. Er trug einen dicken roten Mantel und hatte einen wallenden weißen Rauschebart.
„Fröhliche Weihnachten“, sagte Günther schüchtern.
Doch damit kam er bei dem Weihnachtsmann an die absolut falscheste Adresse.
„Bist du der Trottel, der hier immer wieder den Schnee wegstreut? Sag mal, wie bescheuert kann man eigentlich sein? Zehnmal habe ich den verfluchten Drecksweg jetzt schon eingeschneit, und jedesmal, wenn ich mit dem Schlitten losfahren will - Knirsch - da kratzen die Kufen schon wieder auf dem Asphalt! Glaubst du vielleicht, ich bin zum Spaß hier draußen! Ich will auch endlich nach Hause! Und jetzt hat es mir auch noch die Schneemaschine weggefetzt, alles deinetwegen, Blödmann!“
Der Weihnachtsmann schwenkte bedrohlich die Rute und kam auf Günther zu. Der hob abwehrend die Hände und wich langsam zurück. „Das - das tut mir leid“, stotterte er. „Ich wusste doch nicht ...“
„Natürlich nicht“, schimpfte der Weihnachtsmann. „Niemand weiß je von irgendwas. Und was soll ich jetzt machen? Da oben auf dem Berg wartet ein kleines Mädchen auf seine Weihnachtsgeschenke, und du bist Schuld, dass sie keine bekommt.“
Günther senkte betreten den Kopf. „Das wollte ich nicht“, sagte er leise. Verdrossen standen Weihnachtsmann und Streuwagenfahrer nebeneinander und schauten auf den fast leeren Rentierschlitten und die beiden letzten Pakete, die noch darin lagen. Die Rentiere ließen den Kopf hängen. Kein Schnee mehr zu sehen auf der Straße. Für den Schlitten war die Fahrt definitiv zu Ende. Günther saß ein dicker Kloß im Hals.
„Meinst du, das Mädchen wäre sehr enttäuscht, wenn du nicht mit dem Schlitten kämest, sondern mit einem ganz einfachen Streuwagen?“, fragte er leise.
Da hörte der Weihnachtsmann mit dem Schimpfen auf. Misstrauisch schaute er zu dem orangefarbenen Laster hinüber. „Nun“, sagte er zögernd, „es ist natürlich etwas ungewöhnlich ...“
Wenig später rollte der Streusalzwagen zum zehnten Mal den Weißen Berg hinauf. Günther parkte neben dem inzwischen wieder freigetauten einsamen Auto und sah dem Weihnachtsmann zu, wie er mit seinem großen Geschenkpaket auf das beleuchtete Haus zustapfte. Tatsächlich - dort wurde er schon sehnsüchtig erwartet. Die Freudenschreie des kleinen Mädchens konnte Günther bis zu seinem Parkplatz hören. Wie froh war er, dass er den Weihnachtsmann hergefahren und nicht am Straßenrand sitzen lassen hatte.
Da war der Weißbärtige schon wieder da. Als er die Tür öffnete und zu ihm in den Streuwagen stieg, ging die Innenbeleuchtung an. „Hey, du hast noch ein Paket vergessen“, sagte Günther und deutete auf das Geschenk, das auf dem Beifahrersitz lag.
Doch der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. „Das ist für ein anderes Kind. Du fährst nicht zufällig in Richtung Innenstadt?“
„Na hör mal“, protestierte Günther. „Das ist jetzt aber ein bisschen ...“ Dann erkannte er den Namen, der auf dem Geschenk stand. „Für Minnie“ stand da. Er holte tief Luft. „Du wirst lachen, Weihnachtsmann, genau da will ich auch hin.“
Vorsichtig, aber zügig ließ er seinen Streuwagen zum letzten Mal den Weißen Berg hinunterrollen. Im Radio spielten sie „Leise rieselt der Schnee“, und Günther dachte bei sich, dass weiße Weihnachten gar nicht so schlecht waren. Weiße Weihnachten und schwarze Straßen. Genau so, wie es sein sollte. „Fröhliche Weihnachten“, murmelte er.
© Petra Hartmann