Jonas Gawinski: Die Nacht wächst schnell nach
Lyrik Jonas Gawinski
"Die Nacht wächst schnell nach" ist der Debüt-Band des jungen Lyrikers Jonas Gawinski. Ein schmales, nur 56 Seiten umfassendes Bändchen, das es jedoch in sich hat. Der Dichter, Jahrgang 1995, hat bereits in Zeitschriften und Anthologien publiziert, gewann 2015 den Nahbellpreis und gehörte zu den Finalisten des Münchner Lyrikpreises.
Jonas Gawinskis Gedichte fallen vor allem durch ungewöhnliche, aber treffende Wortwahl und aufmerksame Beobachtungen auf. Ob es das "gemörserte Licht" ist, das auf schwere Platten und den Waldboden fällt, oder die "blattlosen Tage", die weich dahintreiben. Manches ist absurd, manches schwarz und skurril, da liegen tote Schafe auf den Wiesen, jemand schneidet dem lyrischen Ich mit der Nagelschere das Moos von den Lippen, und erster Schnee legt sich wie Gebetshauch auf die Fensterscheiben.
Die Liebe, die geliebte Frau, das Dichten, manchmal auch bekannte französische Maler sind Gawinskis Themen und Inspirationsquellen. Das ist recht traditionell, und Gawinski weiß sich durchaus in einer langen Tradition, aber traditionell heißt in diesem Fall nicht epigonales Nachahmertum ohne Eigenleistung. Vor allem Naturschilderungen jenseits kitschiger Heile-Welt-Malerei gelingen dem Autor, da ist von Wanderungen, barfüßigen Spaziergängen im Wald die Rede, oft gehen Natur- und Kulturlandschaften in einander über, beide oft von Vergänglichkeit, Fäulnis und Tod geprägt, und Flora und Fauna dringen in den häuslichen Bereich ein, wie etwa im kurzen Gedicht "Im Herbst schließe ich die Fenster", in dem es heißt:
Im Herbst schließe ich die Fenster und die Möbel
blühen dunkel und feucht.
Moos, Silben, Beine bleiben
Gebet, das Heuschreckensummen in deinen Zehenspitzen bleibt.
Da wird mit verrotteten Lilien gedealt, es riecht nach nassen Sonnenblumen oder Schwarzbrot, und manchmal dauert es "die Entstehung sieben toter Wälder", einen Menschen zu vergessen.
Meeresufer und alte Fischerboote gemahnen an Storms graue Stadt am Meer, doch eigen und durchaus selbstständig. Da fliegt "eine Möwe, die verlernt hat / zu schreien", die "leere Ewigkeit / der Strandkörbe" umfängt ein Liebespaar, und "Taschentücher liegen wie schmutzige Sonntage / auf dem Steg". Schwermütig, etwas melodramatisch, aber von guter Seeluft durchflutet, kommt die "Ballade eines Ostseefischers" daher, die Geschichte eines Mannes, der seine Frau verloren hat, dessen Gebete "rostiger sind als dein Kahn" und der nun ein letztes Mal hinausfährt:
"keiner winkt dir altem Kahnführer, wenn
du ein letztes Mal hinausfährst und ausglühst, alles
mit Benzin übergießt und dein letztes Gedicht,
das erste Streichholz hineinwirfst, doch vorher noch
Ihre blonde Strähne in deiner See beerdigst,
ein Gebet für sie sprichst, bald bist du
bei ihr, guter Alter, doch eine Weile glühst du
noch aus, bis nur noch dein Gedicht bleibt,
das übers entweihte Wasser treibt,
dein Kahn, der dich überlebt -"
Jonas Gawinski ist längst kein "junger Wilder" mehr. Die hier vorliegenden Gedichte zeugen von großer Kunst, Reife und Stilsicherheit, von einem Bewusstsein, das sich längst selbst gefunden hat. Mark Twain hat einmal gesagt, der Unterschied zwischen einem beinahe treffenden und einem treffenden Wort sei ungefähr so groß wie der Unterschied zwischen einem Glühwürmchen und einem Blitz. Gawinskis Worte treffen. Er ist kein verspielter, experimentierender Jung-Autor, der sich am Wortklang berauscht und einfach schöne Vokabeln aufeinandertürmt. Dieser Dichter findet mit erstaunlicher Sicherheit Bilder und Worte, die so noch nicht dagewesen sind, aber nach jedem Stutzen und Aufhorchen ist man als Leser bereit zu sagen: Ja, genau so, so ist es.
Fazit: Ein Debüt, das längst über den Debütanten-Status erhaben ist. Er wird schwer sein, diesen Erstling zu toppen.
Jonas Gawinski: Die Nacht wächst schnell nach. Gedichte. München: Allitera Verlag, 2016. 56 S., Euro 9,50.
© Petra Hartmann