Nestis und ihre Ahnherrinnen: Ran und die Wellenmädchen
Nestis Germanische Mythologie Edda Meerjungfrauen
Meerjungfrauen, Nixen und Meeresgöttinnen habe ich hier im Blog schon einige vorgestellt. Als Kronprinzessin der Nordsee ist mein Meermädchen Nestis natürlich nicht nur mit den Wasserfrauen der antiken Mythologie verbandelt, sondern auch die germanischen, eddischen Gottheiten gehören zu ihrer Verwandtschaft. Darum möchte ich mich heute einmal der nordischen Göttin Ran und ihren Töchtern, den Wellenmädchen, widmen.
Ran war die Frau des germanischen Meeresgottes oder Meeresriesen Ägir. In der Fritiofs-Saga taucht sie auch unter dem Namen "Rana" auf.
Sie verkörperte vermutlich eher sie etwas dunkleren, unheimlichen und gefährlichen Aspekte des Meeres, während ihr Mann Ägir eher die freundlliche Seite des Meeres repräsentierte. Passend dazu wird Ägir im eddischen Lied von "Ägirs Gelage" gezeigt als großzügiger und freigebiger Gastgeber, der die Götter reich bewirtet. In seinem Festsaal unter dem Meer trägt das Bier sich selbst auf, flüssiges Gold (Meerleuchten) dient als Beleuchtung.
Die Seelen der Ertrunkenen gehören Ran
Ran ist dunkler. Ihr gehören die im Meer ertrunkenen Menschen, die sie mit einem Schleppnetz vom Meeresgrund fischt. Während die im Kampf Gefallenen als Einherier nach Walhall gelangen und sich dort auf die Endzeitschlacht Ragnarök vorbereiten oder der Göttin Freya zufallen, die nach einem Pakt mit Odin die Hälte der Einherier erlangt, und während die unkriegerisch auf dem Festland gestorbenen Menschen ins unterirdische Reich der Hel fahren, ist dies also die dritte Art Totenreich beziehungsweise Totenschicksal in der germanischen Welt. Ran wäre demnach außer einer Meeres- auch wie Odin und Hel eine Totengottheit.
Auch ihr Name scheint schon auf dieses Bedrohliche, Gewaltsame hinzudeuten. Im Isländischen heißt "ran" soviel wie "Raub", die Göttin ist also eine Räuberin, vor allem eine Seelenräuberin.
Rans Fischnetz als Leihgabe für Loki
In der Sagenwelt kommt sie kaum vor. Lediglich im "Anderen Lied von Sigurd dem Fafnirstöter" heißt es, dass Loki, als er den Zwerg Andvari in seiner Fischgestalt fangen will, Hilfe bei der Meergöttin suchte:
"Er kam zu Ran und erhielt ihr Netz und warf das Netz vor den Hecht und er lief in das Netz."
(Die Edda. Göttersagen, Heldensagen und Spruchweisheiten der Germanen. Nach der Handschrift des Brynjolfur Sveinson in der Übertragung von Karl Simrock. Berlin, 1987. S. 186)
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass Loki ausgerechnet nach seiner Flucht aus Ägirs Saal ein Fischnetz konstruierte, dieses dann, als die ihn verfolgenden Asen näher kamen, schnell ins Feuer warf, es aber doch nicht vollständig vernichten konnte. Heimdall, immerhin Rans Enkel, erkannte, was Loki da gebastelt hatte. Es war Heimdall, der Lokis Netz rekonstruierte und damit ermöglichte, dass der in einen Lachs verwandelte verräterische Gott gefangen wurde. Hier scheinen sich also zwei Geschichten wechselseitig zu spiegeln. Loki gilt ja allgemein als Erfinder des Fischernetzes. Aber er hat hier wohl nur etwas nachgebaut, das im Reich der Meergöttin längst bekannt war - zu seinem eigenen Nachteil.
Zurück zu Ran. Außer in der erwähnten Geschichte tritt sie in den Liedern der Edda nicht weiter in Erscheinung. Wohl aber taucht ihr Name häufiger in der Skaldendichtung auf, in der Umschreibungen wie "der Ran in die Hände fallen" für Ertrinken oder "Die Straße der Ran" für das Meer verwandt werden.
Rans Töcher, die Wellenmädchen
Ran und Ägir hatten neun Töchter, die man die Wellenmädchen nannte. Die Namen werden je nach Verfasser und Dichtung unterschiedlich angegeben. Im Skaldskaparmal in der Prosa-Edda des Snorri Sturluson tauchen sie an zwei Stellen auf (wobei die Namenslisten nicht deckungsgleich sind, daher hier zehn Wellenmädchen):
Himingläva, Himingläfa - "die, durch die man den Himmel klar sehen kann"
Dufa oder Dusa - die Hohe oder die Taube
Blodughadda, Blödughadda oder auch nur kurz Hadda - die Bluthaarige (gedacht ist wohl an roten Schaum auf der Welle)
Hefring, Heffrig - die Steigende
Uðr, Udor, Udur oder Unn - die Schäumende
Hrönn, Raun - die Fließende
Bylgja, Bygleya, Bylzia - die Wogende
Dröfn, Dröbna - die Schaumbefleckte
Kolga - die Kühlende.
Bara - Wellenspitze, modern: Tsunami
In der Skaldendichtung gibt es auch andere Namen für Wellenmädchen: Angeyja - die Bedrängerin, Atla - die Furchtbare, Eistla - die rasch Dahinstürmende, Eyrgjafa - die Sandspenderin, Gjalp - die Brausende, Greip - die Umkrallende, Jarnsaxa - die schneidende Kälte, Imd - die Dunstige, Ulfrun - die Wölfische.
Ähnlich wie bei den Walküren, deren Namen je nach Autor variieren und einfach für verschiedene Aspekte des Kampfes stehen, sind auch die Namen der Wellenmädchen also nicht eindeutig in einem Kanon festgelegt. Die neun Wellenmädchen sind Naturgottheiten und verkörpern die Wellen in ihren jeweiligen Zuständen, manchmal auch einfach nur poetische Umschreibungen für bestimmte Formen von Wellen. Eine Kenning (mehrgliedrige poetische Umschreibung eines Begriffs) für "Wellen" lautet zum Beispiel "Kolgas Schwestern"
Die Geburt Heimdalls
Eine gynäkologische Besonderheit, die ich so noch in keiner anderen Mythologie gefunden habe, ist die Geburt des Gottes Heimdall. Odin zeugte ihn nämlich mit allen neun Wellenmädchen gemeinsam. Als die Zeit der Geburt herangekommen war, gebar die eine einen Kopf, die andere einen rechten Arm, die dritte ein linkes Bein und so weiter. Erst Odin setzte die Einzelteile zusammen und schuf so einen der wichtigsten Götter. Im Gylfaginning in der Prosa-Edda heißt es folgendermaßen:
"Heimdall heißt einer, er ist groß und hehr und von neun Mädchen, die Schwestern waren, geboren. [...]
Auch sagt er selbst in Heimdalls Gesang:
Ich bin neun Mütter Sohn und von neun Schwestern geboren."
(Die Edda. Germanische Göttersagen aus erster Hand. Nach der Übersetzung von Karl Simrock neu herausgegeben, bearbeitet und kommentiert von Walter Hansen. Wien, Heidelberg, 1981. Seite 38)
Im Hyndlalied wird die Geburt Heimdalls folgendermaßen beschrieben:
Geboren ward einer am Anfang der Tage,
Ein Wunder der Stärke, göttlichen Stamms.
Neune gebaren ihn, der Frieden verliehen hat,
der Riesentöchter am Erdenrand.
Gialp gebar ihn, Greip gebar ihn,
Ihn gebar Eistla und Angeyja,
Ulfrun gebar ihn und Eyrgiafa,
Imdr und Atla, und Jarnsaxa.
Dem Sohn mehrte die Erde die Macht,
Windkalte See und Sonnenstrahlen.
(Die Edda. Göttersagen, Heldensagen und Spruchweisheiten der Germanen. Übersetzung von Karl Simrock. A. a. O., S. 134)
Meerfrauen und Riesinnen
Ob die an Heimdalls Geburt beteiligte Jarnsaxa identisch ist mit der Riesin Jarnsaxa, die Thors zweite Frau (neben Sif) und die Mutter von dessen Söhnen Modi und Magni war, ist nicht belegt. Möglicherweise war sie auch nur eine Namensvetterin. Jarnsaxa jedenfalls gilt als "Riesinnenname". Thors Jarnsaxa war eine Riesin, und auch Ägir wird ja oft als Meeresriese bezeichnet. So sind die Wellenmädchen außer dem nasen Elemant auch dem Riesenvolk verwandt. Auch ihr Sohn Heimdall gilt als besonders groß und kräftig.
Großmütter der Menschen
Bedenkt man, dass Heimdall, wie im Lied von Rigr bericht wird, als Stammvater der Menschen gilt, so folgt daraus, dass die Wellenmädchen Großmütter des Menschengeschlechts sind, Ran wäre damit die Urgroßmutter. Vor diesem Hintergrund ist die eigentümliche Verkleinerungsform "Mädchen" im Namen dieser Wasserfrauen ausgesprochen befremdlich. Diese Frauen waren ganz sicher keine Mädchen mehr, sie waren Mütter eines erwachsenen Sohnes, der bereits in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte Söhne zeugte. Trotzdem bleiben sie die ewig jungen Mädchen der nördlichen Meere.
Zauberfrauen mit Hut und Schleier
Ganz sicher waren sie aber nicht derart zahme, romantisch-biedermeierliche Figürchen, wie sie ein "Damen-Conversationslexikon" aus dem Jahre 1838 beschreibt:
"Wellenmädchen (Mythologie), die n[e]un Töchter der Meeresgöttin Ran in der skandinavischen Mythe. Sie haben bleiche Hüte und weiße Schleier, und tauchen lieblich und hilfreich aus den Wogen der See, retten Ertrinkende, und leiten sie mit sanfter Hand zum Ufer, die Unrettbaren aber legen sie in ihrer Mutter Schoos. Ihre Namen sind: Himingläffa Dufa, Blödughadda, Heffring, Udar, Raun, Bylgia, Droina und Kölga."
(Damen Conversations Lexikon, Band 10. [o.O.] 1838, S. 415. Text auf Zeno.org)
Nestis' Schwester als Erbin der Wellenmädchen
Bei mir ist vor allem ein Wellenmädchen prägend gewesen: Kolga lautet der Name einer jüngeren Schwester von Nestis. Sie ist die Viert-Älteste, also die Mittlere der sieben Töchter des Nordseekönigs, hat ein Faible für schicke Frisuren und schwärmt für Katzenhai Cat Sharkey, den Sänger der Rockband "Ølpæst".
Auch in meiner Walküren-Serie "Falkenblut" tauchte ein Wellenmädchen namens Kolga auf. Zwischen der Walküre Valkrys und dem Wellenmädchen Kolga gibt es immer wieder Reibereien, schließlich waren sie eigentlich im Kampf um die Seelen "Konkurrentinnen". Darum beschimpft Valkrys Kolga auch manchmal als "Seelenräuberin".
Außerdem hat die Ägirstochter Himingläfa in meinem Werk Spuren hinterlassen: Deren Namen trägt die Segelyacht, die im Roman "Ulf", in meinem "Journal einer Reise, die nicht nach Gotland führte" und in meiner ersten Darthula-Geschichte eine Rolle spielt. Und dass sich hinter der mitleidlosen Meergöttin Reene in meinen Movenna-Büchern die germanische Ran verbirgt, wundert nun auch niemanden mehr, oder?
© Petra Hartmann
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