Nestis 3: Das gekillte Kapitel
Nestis
Mein Meermädchen-Roman "Nestis und die verbotene Welle" ist ja inzwischen erschienen. Da wird es Zeit, der Opfer zu gedenken, die ich auf dem Weg vom Manuskript zum fertigen Buch bringen musste.
Ein komplettes Kapitel ist ganz zu Anfang der Schere zum Opfer gefallen. Ich gebe zu, es war nicht allzu spannend, und das Buch hat einiges an Tempo gewonnen durch den rigorosen Schnitt. Trotzdem mag ich den Abschnitt nicht so sang- und klanglos verschwinden lassen. Ich gewähre dem ersten Tom-Kapitel also an dieser Stelle eine Beerdigung erster Klasse und bette es hier im Blog zur letzten Ruhe. Wer mag, darf es gern lesen und ein paar stille Minuten in Toms Bergeinsamkeit verbringen - während am Grund der Nordsee bereits die Submarine-Metal-Band Ølpæst ihre Hits schmettert ...
1. Kapitel
Flaschenpost nach Helgoland
Tom lag auf dem Bauch und starrte finster vor sich ins Gras der Almwiese. Er bemühte sich, nicht auf das ständige Gebimmel der Kuhglocken zu achten. Umsonst. Resi, die dunkelbraune, kräftige Chef-Kuh des Silberbauern, schien heute besonders stolz auf ihre große Bronze-Glocke zu sein, die an einem breiten, buntbestickten Band um ihren Hals hing. Bei jedem Schritt, bei jedem Grasrupfer, bei jedem Kopfheben des Rindviehs läutete es: „Bimm-Bamm-Bumm!“
Tom seufzte. Er schob den Lautstärkeregler seines iPods noch ein wenig höher. Dann schloss er die Augen und versuchte, sich den Geruch von Salzwasser, Fisch und Seetang herbeizufantasieren. Eine Klassenfahrt in die Berge war ja ganz nett. Aber unten im Hafen von Achterndiek wartete sein Großvater mit dem Kajütboot, der Schwankenden Jenny“, mit verkohlten Spiegeleiern und heißem Tee und Spukgeschichten und Seemannsgarn, und daneben lag das „Hüpfende Seepferdchen“, Toms kleines Segelboot, in der Box und dümpelte auf den Wellen auf und ab, und das alles wartete nur auf ihn, während er hier bei Kuhglockengeläut und Murmeltierpfeifen auf der Almhütte Königslust festsaß und vom Meer träumte. Es war einfach zu ungerecht.
„Bimm-Bamm-Bumm!“, machte die dunkelbraune Resi.
Mit ein bisschen Fantasie konnte man sich das Geräusch verwandeln in das Klingeln und Bimmeln, das über dem Hafen von Achterndiek lag. Wenn die Fallen an den Masten im Wind hin und her schlugen, Stahlseile mit Metallschäkeln, die in der Luft vibrierten, während die Schiffe sich auf den Wellen wiegten. Oh ja, das feine Singen und Klingen, das über dem Hafen von Achterndiek schwebte, er hatte es noch gut im Ohr.
„Bimm, Bimm, Bimm!“
„He, Tom, träumst du?“
Ein Schatten fiel auf ihn. Tom hob den Kopf. Einen Augenblick hatte er Mühe, die beiden dunklen Gestalten zu erkennen, die da mit der Sonne im Rücken vor ihm standen.
„Jan, Ollie, hallo.“
Die beiden Klassenkameraden hatten ziemlich viel Spaß an der Klassenfahrt auf die Alm, das konnte man deutlich sehen. Mit ihren zünftigen Lederhosen sahen sie beinahe schon wie Einheimische aus.
„Was hörst du denn da?“, fragte Jan und deutete mit dem Finger auf die kleinen Ohrstöpsel von Toms iPod. „Lass mich mal.“
„Ach nee“, wollte Tom schon sagen und die Hand schützend vor seine Ohren legen, aber Jan war schneller. Mit flinken Fingern zog er den Knopf aus Toms rechtem Ohr.
„Oh, kaputt“, sagte er enttäuscht. „Nur Rauschen.“ Dann runzelte er die Stirn und schaute Tom verwundert an.
„Lass mich mal“, sagte Ollie und angelte nach dem Ohrstöpsel. Er lauschte kurz, dann schüttelte er den Kopf. „Ich hör auch nur Rauschen.“
„Ja, klar“, murmelte Tom. Er nahm ihm den Hörknopf weg, schaltete das Gerät aus und wickelte das dünne Kabel auf. Langsam und bedächtig, wie ein Seemann eine Leine aufschoss, damit an Bord alles seine Ordnung hatte. „Das ist Meeresrauschen. Genauer gesagt: Das ist die Brandung am Strand von Achterndiek. Hab ich im letzten Sommer aufgenommen. Klingt toll, oder?“
„Ach, du bist ja nicht normal“, meinte Jan gutmütig. „Aber hör mal, Ollie und ich wollten dich eigentlich fragen, ob du mitkommst zum Wasserfall.“
Tom rappelte sich auf. Wasser war immer gut. Wasser, das bedeutete, dass dort ein Bach war, und ein Bach floss in einen Fluss, und alle Flüsse flossen irgendwann ins Meer. Unbedingt wollte er zum Wasserfall mitkommen.
Der Wasserfall war ein herrliches Naturschauspiel, das musste Tom schon zugeben. Aus fast siebzig Metern Höhe stürzte das eisige Gebirgswasser schäumend hinab ins Tal, das Wasser sprühte und spritzte weit über die Ufer hinweg bis hin zu der Holzabsperrung, hinter der die Touristen stehen bleiben mussten. Wassertropfen und Lichtblitze in allen Regenbogenfarben glitzerten in der Luft. Tom, Jan und Ollie beugten sich weit vor und atmeten den eisigen Sprühregen tief ein.
Später holten sie sich jeder eine Portion Pommes Frites und eine eiskalte Flasche Cola vom Kiosk. Tom kaufte dort auch eine Ansichtskarte, auf der der Wasserfall besonders wild schäumte und dampfte.
„Briefmarke dazu, junger Mann?“, fragte die Verkäuferin.
Doch Tom schüttelte den Kopf. Er fischte einen Bleistiftstummel aus den Tiefen seiner Hosentasche und krakelte auf die Rückseite der Postkarte:
„Liebe Nestis,
ich bin noch immer mit meiner Klasse in den Bergen. Hier gibt es Kühe mit Glocken um den Hals und einen großen Wasserfall. Ich vermisse die Nordsee und das Hüpfende Seepferdchen und euch alle. Zum Glück habe ich noch meinen iPod mit dem Brandungsrauschen von Achterndiek. Was hörst du eigentlich am liebsten für Musik?
Viele Grüße und bis bald
Dein Tom“
Als Adresse schrieb er: „An Prinzessin Nestis im blauen Glaspalast, Algenstraße 1, bei Helgoland, Nordsee.“
Er rollte die Karte zusammen, schob sie in die inzwischen leere Colaflasche und warf sie mit viel Schwung in den Wasserfall. Zwei- oder dreimal tauchte sie noch aus den Wellen auf, dann war sie nicht mehr zu sehen. Aber Tom war vollkommen sicher, dass seine Ansichtskarte ihre Empfängerin finden würde. Alle Flüsse flossen ja ins Meer.
„Was war das denn jetzt?“, fragte Jan, der heimlich über Toms Schulter mitgelesen hatte.
„Ach, Urlaubsgrüße halt“, sagte Tom.
„Mann, du bist wirklich nicht bei Trost“, brummte Jan und tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
Aber Tom war das egal. Er hatte seine Ohrstöpsel wieder in die Ohren geschoben und den iPod eingeschaltet. Meeresrauschen. Gut so.
© Petra Hartmann