Weihnachtsmärchen: Der kleine Trommler
Weihnachten
Die Weihnachtsgeschenke sind eingepackt, die Post erledigt, die letzten Einkäufe getätigt. Alles ist getan, was vor Heilig Abend noch erledigt werden muss. Nun ist es Zeit, sich zurückzulehnen und die Weihnachtszeit zu genießen. Ich wünsche euch allen ein frohes und friedliches Fest. Und für alle, die Freude an Weihnachtsgeschichten haben, gibt es hier mein neues Märchen. Viel Vergnügen damit!
Der kleine Trommler
„Ta-rattatta-tamm!“
„Hilfe!“ Die Mutter ließ vor Schreck die Puddingschüssel fallen. Die Schale zersprang klirrend. Brauner Schokoladenpudding verteilte sich auf dem gefliesten Küchenfußboden. Jonas blickte schuldbewusst nach unten. Er versuchte, die Sticks hinter seinem Rücken zu verbergen, aber die Trommel, die er vor dem Bauch trug, sah die Mutter natürlich sofort.
„Jetzt schau, was du angerichtet hast!“, schimpfte die Mutter. „Kannst du nicht wenigstens an Weihnachten einmal aufhören mit der dämlichen Trommelei!“
Jonas sah sie mit großen traurigen Augen an. Natürlich sagte er nichts. Jonas sagte nie etwas. Fünf Jahre war er nun schon alt, aber gesprochen hatte er noch nie. Nur getrommelt. Erst auf dem Tisch und auf Töpfen. Und nun eben auf der bunten Blechtrommel, die ihm sein Onkel zum Geburtstag geschenkt hatte. Onkel Ephraim fand das wohl lustig. Die Mutter nicht.
Wütend bückte sie sich und sammelte die Scherben auf. Dann holte sie das Wischtuch, um die dunkelbraune Sauerei aufzuwischen. Jonas sah ihr traurig zu. Er hatte sie nicht erschrecken wollen. Es tat ihm leid, wie sie da auf den Knien über den kalten Fußboden rutschte. Ganz leise, tröstend, klopfte er ein „Ta-rattatta-tamm“ für sie.
„Jetzt reicht es aber!“, schrie sie. Sie fuhr in die Höhe, holte aus und schlug ihm das dreckige Wischtuch um die Ohren. Jonas stand vor Schreck stocksteif da. Rechts und links klatschte das feuchte Tuch ihm ins Gesicht, hinterließ schmierige braune Schokoladenspuren und brannte in den Augen. Jonas hob die Hand, um die Schläge abzuwehren, und nun knallte das Tuch auf seinen Unterarm, schlug ihm die Trommelstöcke aus der Hand, die klappernd auf die Fliesen aufschlugen. Er weinte nicht. Weinen tat er nie. Sah die Mutter nur aus großen Augen an, dann bückte er sich und hob die Sticks wieder auf.
„Gib die Trommel her!“, sagte sie. „Ich habe die Nase voll.“
Aber Jonas schüttelte eigensinnig den Kopf. Da griff sie zu, wollte ihm das Instrument wegnehmen. Jonas wich erschrocken zurück. Mit einer Kraft, die man dem kleinen Jungen gar nicht zugetraut hätte, entriss er seiner Mutter die Trommel, dann rannte er aus der Küche.
„Du nichtsnutziger Wechselbalg! Ja, hau ab, verschwinde sofort und lass dich hier nie wieder blicken!“, schrie sie hinter ihm her. Dann hörte sie die Haustür klappen. Es wurde still in der Küche. Die Mutter verbarg ihr Gesicht in den Händen und weinte. Lautlos weinte sie. Dann seufzte sie und wischte die Reste der Pudding-Katastrophe auf.
Still war es im Haus. Gottseidank, endlich einmal Stille. Ohne dieses ständige „Ta-rattatta-tamm“, mit dem der Bengel sie immer dann erschreckte, wenn sie ihn gerade für eine Sekunde vergessen hatte. Verdammt, als ob es nicht schon schlimm genug war, dass er nicht sprach. Aber dieses ständige Trommeln. Nein, es war einfach nicht mehr zum Aushalten. Wer konnte es ihr verdenken, wenn sie da die Nerven verlor. Fünf Jahre ohne ein Wort. Die Blicke der Nachbarn. Als ob sie etwas dafür konnte. Ja, Schuld musste doch immer die Mutter sein, den Gedanken konnte sie ihnen an der Stirn ablesen. Die Ärzte hatten nichts feststellen können. Kerngesund sei er, hieß es. Und dumm? Gute Frau, was heißt schon dumm? Dafür hätten manche Menschen eben andere Talente. „Ta-rattatta-tamm“, hallte es in ihrem Kopf. Aber in Wirklichkeit war es still in der Küche. Im ganzen Haus. Seufzend richtete die Mutter sich wieder auf. Sie warf den Lappen in den Putzeimer und ging zur Haustür.
„Jonas!“, rief sie. „Komm halt wieder rein.“ Aber Jonas war verschwunden. Nur die dicke Katze des Nachbarn hockte auf dem Zaun. Und ein paar Schneeflocken trudelten zu Boden. „Jonas!“, rief die Frau erneut, nun etwas lauter, zorniger. Aber der Junge kam nicht. „Jonas! Verdammt nochmal, komm endlich her! Es ist kalt!“ Kein Jonas. Und kein „Ta-rattatta-tamm“. Stille.
Wütend riss sie den Mantel von der Garderobe. Jetzt musste sie den Bengel auch noch suchen. Eine schöne Bescherung. Nun, weit würde er nicht gegangen sein. Es war kalt, und er hatte noch nicht einmal seinen Anorak mitgenommen. Vermutlich war er nur bis zur nächsten Straßenecke gerannt und würde bald wieder umkehren. Höchstens bis zum Spielplatz. Na, dem würde sie etwas erzählen.
Aber Jonas war gar nicht zum Spielplatz gelaufen. Auch nicht zur Bushaltestelle oder zum Kiosk. Er war überhaupt nicht zu irgendetwas gelaufen. Nur weg wollte er. Einfach nur weg. Ängstlich hielt er seine Trommel umklammert. Wie einen kostbaren Schatz drückte er sie an sich. Niemand durfte sie ihm wegnehmen, niemand. Ganz fest hielt er sie. Er lief. So schnell, wie er mit seinen kurzen Beinen noch nie gelaufen war. Die Trommel fest an sich gepresst, die Hände wie Schraubstöcke um die Sticks geschlossen. Schneller als die Mutter, schneller als die Kälte, schneller als alle, die ihm seine Trommel wegnehmen wollten.
Die Straßen wurden enger und dunkler, er merkte es nicht. Längst waren die Küche und die Mutter und der Schokoladenmatsch hinter ihm zurückgeblieben, und nur auf seinen Wangen spürte er noch die kalte, klebrige Schokolade, die langsam trocknete. Er rannte noch immer. Auf und ab schlug die Trommel vor seinem Bauch, und sein Atem ging schwer. Schließlich konnte er nicht mehr laufen. Er blieb stehen, keuchend und vollkommen außer Puste, seine Wangen glühten, Schneeflocken trudelten auf ihn herab und schmolzen auf seinem Gesicht. Ganz vorsichtig zog er die verrutschte Trommel gerade. „Ta-rattatta-tamm“, machten die Sticks auf dem Trommelblech. Unsicher sah er sich um. Das sah alles ganz anders aus als zu Hause. Langsam, zögernd, ging er weiter. „Ta-rattatta-tamm“, machte die Trommel.
Die Mutter hatte inzwischen die ganze Straße abgesucht. Auf dem Spielplatz und an der Bushaltestelle hatte sie gesucht. Am Kiosk und hinter den Glascontainern. Kein Jonas. Dann hatte sie bei den Nachbarn geklingelt. Doch alle schüttelten nur stumm den Kopf. Nein, Jonas hatten sie nicht gesehen. Aber die Mutter konnte auf ihrer Stirn lesen, was sie dachten. Es war nichts Freundliches über den seltsamen Jungen und erst recht nichts Freundliches über sie selbst, die ihr Kind bei diesem Wetter allein auf die Straße gelassen hatte. Es schneite nun stärker. Sie suchte weiter. Lief die Straßen entlang und rief immer wieder seinen Namen. „Jonas! Jonas!“, rief sie. Aber Jonas war fort.
Der Junge war zu einem großen Einkaufszentrum gelangt. Ihm war kalt, und der Schnee fiel immer dichter. So ging er hinein, um sich zu wärmen. Er marschierte zwischen den Süßigkeitenregalen hindurch. Aus versteckten Lautsprechern klang „Stille Nacht“ durch das Kaufhaus. Das gefiel ihm sehr. „Ta-rattatta-tamm“, machte die Trommel dazu. Schön klang das. Jonas trommelte mit aller Kraft, und nun konnte er sogar wieder lachen. „Ta-rattatta-tamm, Ta-rattatta-tamm!“ Plötzlich stand ein großer Mann vor ihm, der hatte ein dunkelrotes Gesicht und schrie ihn an. Was das denn solle, schimpfte der Mann. So ein Krach in seinem Einkaufszentrum. Und überhaupt, Kinder ohne Begleitung von Erwachsenen seien verboten in dem Geschäft. Als Jonas nur stumm dastand und sich nicht bewegte, packte der Mann ihn am Arm, zog ihn grob zur Tür und schubste ihn zurück nach draußen. Jonas sah ihn mit großen, traurigen Augen an, aber da hatte der Mann sich schon ruckartig umgewandt und war ins Warme zurückgekehrt. „Ta-rattatta-tamm“, sagte die Trommel. Und Jonas stapfte weiter durch den Schnee.
Die Mutter war inzwischen zur Polizeidienststelle gelaufen. Aber die Beamten dort konnten ihr wenig Hoffnung machen. Immerhin versprachen sie, alle Streifenwagen-Besatzungen zu informieren, damit die nach einem kleinen Jungen mit Trommel Ausschau halten sollten. Es klang nicht sehr erfolgversprechend.
Und die Seitenstraße, in die Jonas nun abgebogen war, war viel zu eng für einen Streifenwagen. Die Mauern waren hoch, und zwischen ihnen pfiff der Wind hindurch. Das „Ta-rattatta-tamm“ der Trommel hallte unheimlich und hohl wider von den Wänden. Aber Jonas marschierte unverdrossen weiter. Und als die enge Gasse auf einem kleinen Platz endete, stand er genau vor einem Schnellimbiss. Es roch nach Fett und angebranntem Fleisch, und durch das trübe Fenster schien etwas Licht nach draußen. Jonas hatte schon ganz kalte Finger, aber die Sticks hielt er noch immer tapfer umklammert. „Ta-rattatta-tamm“, klopfte er. Dann stieß er die Tür auf und trat ein.
Es waren nur zwei Gäste darin. Der eine hockte zusammengesunken vor seinem halbleeren Bierglas. Der andere fütterte unentwegt den Spielautomaten mit Zwei-Euro-Stücken und fluchte vor sich hin. Immer wieder gab der Apparat laute Fanfarenstöße von sich, wenn es einen kleinen Gewinn zu vermelden gab, oder er spielte eine kurze traurige Melodie, wenn der Mann verloren hatte, aber wenn der Spielautomat schwieg, dann hörte man, dass im Radio gerade „Oh Tannenbaum“ lief. Jonas freute sich. Das Lied kannte er. Und begeistert begleitete er die Radiomusiker mit seiner Trommel. „Ta-rattatta-tamm“, machte er. „Ta-rattatta-tamm.“
„Was willst du?“, knurrte der Mann hinter dem Tresen.
„Ta-rattatta-tamm“, trommelte Jonas.
„Dann raus mit dir“, brummte der Mann. „Entweder du bestellst etwas, oder du fliegst.“
„Ta-rattatta-tamm“, trommelte Jonas, drehte sich um und ging zurück in die Kälte. Inzwischen konnte er schon zwei Geräusche machen: „Ta-rattatta-tamm“ mit der Trommel und ein Klappern wie von Kastagnetten mit den Zähnen. Das wunderte ihn etwas, aber es klang gar nicht schlecht zusammen, fand er. Wenn es nur nicht so kalt wäre.
Die Mutter irrte durch die Innenstadt. Ob Jonas zum Weihnachtsmarkt gegangen war? Bunte Lichter flackerten an einem Bratwurststand. Glühweindunst quoll ihr in dichten Schwaden entgegen. Schmalzkuchen, Crêpes und Waffeln dufteten. Ein paar Kinder kamen den Weg entlang, die hatten dicke Bäusche von Zuckerwatte vor dem Gesicht. Ihre Augen leuchten, und sie unterhielten sich über irgend einen Film aus dem Kinderprogramm. Nein, da war Jonas nicht dabei, dachte die Mutter. Diese Kinder konnten ja reden und sich freuen. Und es gab ihr einen kleinen Stich ins Herz, wenn sie an ihren kleinen, schokoladenverschmierten Nichtsnutz dachte.
Doch plötzlich stutzte sie. Vor dem hohen Weihnachtsbaum in der Mitte des Platzes waren eine Menge Kinder aufmarschiert. Jungen und Mädchen aus dem benachbarten Kindergarten stellten sich in drei Reihen ordentlich hin, und eine junge Frau, offenbar die Kindergärtnerin, hob die Hand. Sofort wurde alles still. Dann gab sie den Einsatz. Aus fünfzehn hellen Kinderkehlen erklang ein Weihnachtslied.
„Durch die stille Nacht ...“, sangen die Kinder.
„Ta-rattatta-tamm“, kam es da plötzlich hinter dem Tannenbaum her.
Die Mutter zuckte zusammen. Da stand er. Jonas. Um ein Haar hätte sie sich sofort auf ihn gestürzt und ihn gepackt und weggezerrt. Jetzt störte der Bengel auch noch den Auftritt der Kinder mit seinem ewigen Trommeln.
„... da ging ein kleiner Junge ...“, sangen die Kinder. Wunderschön klang das.
„Rattatta-tamm“, machte Jonas. Verdammt, jemand musste den Bengel da wegholen.
„Hielt seine Spielzeugtrommel in der Hand, wollt zu dem Stalle, wo die Krippe stand ...“
„Rattatta-tamm, rattatta-tamm, rattatta-tamm“, machte Jonas. Er stand breitbeinig und pausbäckig da, das schokoladenverschmierte Gesicht glänzte im Schein der elektrischen Tannenbaumkerzen. Sehr ernst und konzentriert schlug er die Trommel. „Ta-rattatta-tamm, rattatta-tamm, rattatta-tamm“, machte es. Und plötzlich hatte die Mutter das unbestimmte Gefühl, dass dieses scheußliche „Ta-rattatta-tamm“ gar nicht mehr so laut und furchtbar klang, wie sie immer gedacht hatte. Dass es einfach dazu gehörte zur Weihnacht und zu diesem Lied, und dass auch ein kleiner Trommler angehört werden musste, selbst wenn er nichts anderes von sich gab als „Ta-rattatta-tamm“.
„Die kleine Spielzeugtrommel sang und klang“, sangen die Kinder.
„Rattatta-tamm, rattatta-tamm“, machte Jonas.
„Und das Jesuskind lächelt ihn an“, schlossen die Kinder.
Als sie sich verbeugten, hörte er mit dem Trommeln auf. Erstaunt schaute er sich um. Sah die vielen applaudierenden Menschen an und wusste für einen Augenblick nicht so recht, was er davon halten sollte. Da entdeckte er seine Mutter mitten im Publikum. Wie sie in die Hände klatschte und strahlte. Erst wollte er weglaufen, aber er konnte sich einfach nicht von der Stelle bewegen. Es war zu kalt, und der Schnee fiel noch immer, setzte sich auf seine Schulten, die Haare, die Trommel. Da war die Mutter auch schon bei ihm. Sie kniete neben ihm nieder, schloss die Arme um ihn, weinte, dann zog sie ihm rasch ihren Mantel an. Verwirrt sah er sie an. Er konnte sich einfach keinen Reim auf ihr eigenartiges Verhalten machen. Nur, dass sie ihm offenbar nicht mehr böse war, verstand er. Und dass es ihm langsam wieder warm wurde.
„Sind Sie die Mutter von dem Jungen?“, fragte plötzlich eine Frauenstimme. Die Kindergärtnerin stand neben ihnen und sah freundlich auf sie herab. „Vielleicht hätte ihr Sohn ja Lust, uns einmal zu besuchen? Einen so tollen Trommler haben wir schon lange gesucht.“
„Ja, hättest du denn Lust dazu, in den Kindergarten zu gehen?“, fragte die Mutter zweifelnd.
„Ta-rattatta-tamm“, machte die Trommel.
„Ja“, sagte Jonas.
© Petra Hartmann