Ein Monster unterm Weihnachtsbaum
Weihnachten
Alles Liebe - Petra
Ein Monster unterm Weihnachtsbaum
„Duu, Mami?“
Die kleine Jenny stand in der Küchentür, die roten Haare verwegen zu einem Zopf hoch oben auf dem Scheitel zusammengebunden, die blitzenden grünen Augen groß und herzerweichend auf ihre Mutter gerichtet.
„Was ist denn, meine Maus?“
„Es ist doch bald Weihnachten. Und da kann ich mir doch auch etwas wünschen...?“
Aus dem Nebenzimmer quäkte die fröhliche Musik des Werbeblocks im Kinderfernsehen herüber. „Also, Kinder, holt sie euch aus Michaels magischem Monsterladen! Nur solange der Vorrat reicht“, rief gerade ein gut gelaunter junger Mann.
Frau Mau seufzte. Was um alles in der Welt mochte die Kleine dort schon wieder gesehen haben? „Was wünschst du dir denn?“, fragte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Immerhin, ihre Tochter hatte ja recht: Zum Weihnachtsfest darf man sich etwas wünschen. Solange es im Rahmen blieb.
„Ich hätte gern ein Monster“, flüsterte Jenny mit tiefer, sehnsuchtsvoller Stimme und schaute ihre Mutter auf die Art von unten her an, die ihr vor kurzem den neuen Tretroller beschert hatte. Der großäugige treue Dackelblick war ihre Spezialität im Umgang mit Erwachsenen.
„Ein - - - was?“
„Ein Monster. So ein kleines, grünes, kuscheliges. Zum Liebhaben. Mit Hörnern und spitzen Ohren. Und mit einer Extra-Tüte Spezial-Monsterschleim. Aus Michaels magischem Monsterladen“, verkündete Jenny. „Sie haben sieben verschiedene Monster, aber ich will unbedingt Bernie mit den Fledermausflügeln haben, weil er ist sooo süüüß.“
„Kommt überhaupt nicht infrage!“, entschied die Mutter. „Ein Monster kommt mir nicht ins Haus. Am Ende frisst es uns noch alle auf, hast du daran mal gedacht, Jenny Mau? Überhaupt siehst du entschieden zu viel fern. Los, stell die Glotze aus, und ab mit dir auf den Spielplatz an die frische Luft. Wozu haben Papa und ich dir den teuren Roller gekauft?“
„Der Spielplatz ist doof“, maulte Jenny und schob die Unterlippe vor. „Lena und Lukas sind bei ihrer Tante, und Mina ist krank. Wenn ich ein Monster hätte, dann hätte ich wenigstens jemanden zum Spielen.“
„Ein Monster kommt mir nicht ins Haus, und damit basta.“
Jenny zog sich zurück. Sie wusste, wenn sie eine Diskussion verloren hatte. Zumindest zog sie sich vorerst zurück.
*
Am Abend, als Jenny schon im Bett lag und von Bernie, dem Monster mit den Fledermausflügeln, träumte, sprachen Herr und Frau Mau noch lange über das Thema.„Nein. Und wenn sie im Kinderfernsehen tausendmal dafür Werbung machen, diesen neumodischen Haustieren traue ich nicht über den Weg“, sagte Herr Mau entschieden. „Wir hatten früher Hunde und Katzen und Meerschweinchen, und das war völlig in Ordnung. Kein Mensch weiß doch, wie diese Monster sich entwickeln und was sie fressen, wenn sie mal groß geworden sind.“
„Richtig“, pflichtete Frau Mau bei. „Kein Ungeheuer mit Fledermausflügeln in meinem Haus. Andererseits ... Sie ist wirklich langsam alt genug für ein Haustier, um das sie sich kümmern kann. Ein Meerschweinchen vielleicht?“
„Eine sehr gute Idee. Dann wird sie gleich lernen, Verantwortung für ein Lebewesen zu übernehmen. Das wird ihrer späteren Entwicklung sehr förderlich sein.“
„Ich rede morgen mal mit ihr darüber“, beschloss Frau Mau. Ein Meerschweinchen in der Wohnung, ja, das könnte klappen, dachte sie.
*
Als Jenny am anderen Tag aus dem Kindergarten kam, leuchteten ihre Augen wie zwei große grüne Smaragdfeuer. „Mama“, erzählte sie strahlend, „weißt du was? Nina hat von ihren Eltern ein Einhorn geschenkt bekommen. Es ist nur ein kleines Einhorn, weißt du? Aber mit einem echten Horn aus Karfunkelstein und mit Regenbogenmähne. Und von den Hufen sprüht Goldstaub, wenn es über den Wohnzimmerteppich trabt, das hat sie mir selber erzählt. Oh, Mama, bitte, ich möchte doch kein Monster zu Weihnachten. Ich wünsche mir so sehr ein Einhorn, wie Lisa hat. Bitteee.“Frau Mau räusperte sich. „Hör mal, Jenny ... So ein Einhorn, weißt du, diese ganzen Fabelwesen, die jetzt so modern sind ... Papa und ich haben uns darüber unterhalten, und wir glauben, dass diese Tiere nicht gut für dich sind ...“
„Aber fast alle im Kindergarten haben ein eigenes Fabeltier“, begehrte Jenny auf. „Leon hat einen Greif, und Lukas einen kleinen Zerberus, der kann bellen und Kunststücke machen. Und Hanne sagt, sie kriegt zu Weihnachten einen Pegasus.“
Frau Mau schwieg betroffen. Doch dann lächelte sie liebevoll. „Und du sollst auch ein eigenes Haustier bekommen, Jenny. Papa und ich haben beschlossen, dass du ein Meerschweinchen haben sollst. Na, was sagst du?“
„Du bist so gemein!“, rief Jenny. Sie stürzte davon, rannte die Treppe hoch in ihr Kinderzimmer und warf sich aufs Bett. Noch lange hörte die Mutter ihre Kleine weinen.
*
Am Nachmittag war Jenny immer noch traurig. Aber sie hatte aufgehört zu weinen. Auf ihrem blitzendroten Tretroller fuhr sie hinüber zu ihrem Großvater. Das tat sie oft, wenn ihre Eltern sie nicht verstanden. Opa Neßmann war früher zur See gefahren. Er trug einen goldenen Ring im Ohr wie ein echter Pirat. Er konnte auch lachen und Seemannslieder grölen wie ein echter Pirat. Und Opa Neßmann war von Kopf bis Fuß tätowiert mit all den tollen Haustieren, die Jenny nicht haben durfte.
„Na, Jenny, kommst du deinen alten Opa mal wieder besuchen?“, dröhnte ihr der fröhliche Brummbass des alten Seemanns entgegen, als sie das kleine Häuschen betrat. Früher hatte sich Jenny ja ein bisschen gefürchtet vor dem Haus und all dem sonderbaren Zeug, das der Seebär darin aufbewahrte. Aber inzwischen kam sie gern in die gute Stube und betrachtete die Erinnerungsstücke von Opas Weltreisen. Über dem Kaffeetisch pendelte ein riesiger Schwertfisch von der Decke. Säbel und Dolche und alte Flaggen schmückten die Wände. Getrocknete Seesterne, ausgestopfte Fische und gewaltige Muschelschalen - so groß wie Gänsebrattöpfe - lagen überall in den Regalen.
„Mama hat gesagt, ich darf zu Weihnachten kein Einhorn kriegen“, schniefte Jenny.
„Und da hat sie auch verdammt recht mit, junge Dame“, sagte Opa Neßmann. „Die Biester können nämlich sehr gefährlich werden. Ja, weißt du das denn nicht mehr?“
Jenny sah ihn verwundert an. „Was denn?“
„Na, wie es damals war, als dich das Einhorn entführt hat? Da in den Bauch hat es dich gepiekt mit seinem Horn, und dann ist es mit dir weggelaufen, das schlimme Tier. Wenn ich damals nicht hinter euch hergelaufen wäre und ihm das Horn abgebrochen hätte, uiuiuiuiui, ich mag gar nicht daran denken, was dann passiert wäre ...“
„Hier in den Bauch?“ Jenny schob ihren Pullover hoch und betrachtete nachdenklich ihren Bauchnabel.
„Jawohl, so war das“, bekräftigte der Großvater. „Da drüben hängt noch das Horn, das ich ihm abgebrochen habe, diesem Biest.“
Der Narwalszahn über Opa Neßmanns Bücherregal sah wirklich beeindruckend aus. Und je länger Jenny abwechselnd ihr Bauchloch und das Einhorn-Horn betrachtete, desto besser erinnerte sie sich an das Abenteuer von damals. „Ja, lieber doch kein Einhorn“, murmelte sie.
Sie blieb bis zum Abend bei ihrem Opa, malte seine Meerjungfrauen- und Seeschlangen-Tätowierungen mit Filzstift aus und lauschte andächtig seinen Erzählungen von seinem Kampf mit dem furchtbaren Riesenkraken. Ob es wohl in Michaels magischem Monsterladen einen kleinen Riesenkraken zu kaufen gab?
*
„Einen Riesenkraken?!“, rief Frau Mau entsetzt. „Sag mal, wer ist denn jetzt verrückt geworden, du oder Opa Neßmann?“
„Opa hat gesagt, Riesenkraken sind ganz zahm. Man muss ihnen nur ein wenig Zucker auf den Hauptarm streuen, dann fressen sie einem aus der Hand.“
„Ja, und die Hand gleich mit“, knurrte Herr Mau hinter seiner Zeitung hervor.
Eine Weile herrschte bleierne Stille am Frühstückstisch. Dann faltete der Vater die Zeitung zusammen und sah seine Tochter ernst an. „Hör mal, Jenny. Deine Mutter und ich finden es ja sehr gut, dass du dich so für Tiere interessierst ...“
„... deshalb sind wir auch überein gekommen, dass wir dir ein eigenes Tier schenken wollen“, fiel die Mutter ein.
„Ja“, stimmte der Vater bei. „Ein eigenes Tier ist sehr gut für einen jungen Menschen. Es fördert auch die Charakterbildung und die Empathiefähigkeit, das wird dich später im Leben mal voranbringen.“
„Wirklich?“ Jenny konnte ihr Glück kaum fassen.
„Wirklich“, nickte der Vater und strahlte wie das Christkind höchstpersönlich. „Die Katze eines Kollegen hat kürzlich Junge bekommen. Und wenn du brav bist, dann darfst du heute Nachmittag mit Mama zusammen hinfahren und dir ein kleines Kätzchen aussuchen ...“
„Ihr seid so gemein!“, heulte Jenny auf. Sie stieß ihren Kakaobecher um, sodass sich eine braune Flut über den Küchentisch ergoss. Dann rannte sie weinend aus dem Zimmer.
„Ich schätze“, sagte der Vater, nachdem er lange auf die Kakaopfütze auf dem Tisch und die braunen Flecken auf seinem Hemd gestarrt hatte, „das war jetzt nicht der Versuch, brav zu sein.“
„Nein“, sagte die Mutter. Dann seufzte sie. „Also kein Kätzchen.“
*
Nein, kein Kätzchen.
Auch kein Mantikor, kein Pegasus und keine Chimäre, wie Jenny bei ihren nächsten Vorstößen erfuhr. Nicht einmal ein kleiner Basilisk, obwohl der in Michaels magischem Monsterladen sogar als Sonderangebot zu haben war. Mit Extra-Basilisken-Kraftfutter und zwei Sammelkarten. Es war zum Heulen.
Entsprechend patzig reagierte die Kleine, als ihr ihre Eltern als Friedensangebot einen Hundewelpen vorschlugen. So etwas konnten sich auch nur Eltern ausdenken.
Am Heiligen Abend traute sich Jenny kaum ins Wohnzimmer. Und als sie wenig später gemeinsam mit ihren Eltern vor dem Baum stand und alle drei zusammen „Stille Nacht, heilige Nacht“ sangen, warf sie bange Blicke auf die eingepackten Geschenke, die dort für sie lagen. Ob sich in dem großen Karton wohl doch ein Drachenei verbarg? Oder ein Vogelkäfig mit einer kleinen Harpyie?
Neugierig begann sie mit dem Auspacken. Ein Gesellschaftsspiel. Plüsch-Hausschuhe. Filzstifte. Ein Bilderbuch mit Fabeltieren. Zwei T-Shirts und ein Kleidchen. Das war alles. Jennys Augen füllten sich mit Tränen.
„Danke“, sagte sie. Aber am liebsten hätte sie geheult.
In diesem Augenblick klingelte es an der Haustür.
Wenig später kam Opa Neßmann schnaufend ins Wohnzimmer gepoltert. Und in den Händen hielt er einen großen, schwarzen, rundlichen Gegenstand.
„Ahoi, Leichtmatrose Jenny!“, sagte er mit seinem tiefdröhnenden Brummbass. „Ich hoffe, ich bin noch rechtzeitig zur Bescherung gekommen. Fröhliche Weihnachten wünsche ich dir. Und viel Vergnügen mit dem kleinen Racker hier.“
Jennys Augen wurden groß und rund. Das, was ihr Großvater in den Händen hielt, sah aus wie eine Miesmuschel. Allerdings wie eine besonders große schwarze Miesmuschel. Die fest geschlossenen Muschelschalen waren noch ein kleines bisschen größer als Mamis großer schwarzer Gänsebratentopf.
„Was ist denn das?“, fragte Jenny neugierig.
„Das habe ich dir von einem wirklich gefährlichen Ostseetörn mitgebracht. Diese Biester sind nicht ganz harmlos, musst du wissen. Sie leben in der Bornholmtiefe, und manchmal, wenn man nicht aufpasst, dann können sie ziemlich fies zuschnappen. Sei also hübsch vorsichtig damit, hörst du?“
Jenny nickte ehrfürchtig. Als der Großvater die schwere Doppelschale auf den Stubentisch stellte, fuhr sie mit den Fingerspitzen vorsichtig über das raue Gehäuse.
„Oh!“ Erschrocken sprang sie zurück. Darin bewegte sich etwas.
„Das ist keine gewöhnliche Muschel, meine Kleine. Es ist eine Wau-Muschel. Manchmal kann man sie nachts am Strand von Bornholm bellen hören. Dann geht man besser nicht runter ans Meer.“
„Eine Wau-Muschel?“ Jenny staunte. „So etwas habe ich noch nie gehört.“
„Da wette ich drauf. Es gibt nicht viele Kinder, die eine echte Wau-Muschel bekommen. Aber wenn du ganz lieb zu ihr bist und ihr Vertrauen gewinnst, dann kommt sie vielleicht sogar eines Tages aus ihrer Schale und lässt sich von dir streicheln.“
Vorsichtig hob Jenny die obere Schale ein wenig an. Zwei Augen, in denen man fast nur das Weiße sah, blickten ihr aus dem Dunkel misstrauisch entgegen. Die Wau-Muschel knurrte leise.
„Du musst keine Angst haben, kleine Wau-Muschel“, flüsterte Jenny. „Ich werde gut auf dich aufpassen.“ Und als sie jetzt die rechte Hand vorsichtig zwischen die Schalen schob, kam plötzlich eine kleine rosa Zunge aus dem Dunkel und leckte ihr über die Finger. „Ich glaube, sie mag mich“, sagte Jenny. „Oh, seht doch nur!“
Langsam hob sich der Deckel der Muschel. Eine schwarze, feuchte Nase tauchte auf. Dunkle Augen, aus denen das Weiße verschwunden war. Zwei kleine braune Schlappohren mit winzigen schwarzen Löckchen am Rand. Die Wau-Muschel krabbelte auf ungeschickten krummen Dackelwelpenbeinen auf Jenny zu, und das Mädchen schloss sie mit einem leisen Aufquietschen in die Arme. So etwas Niedliches gab es ganz bestimmt nicht in Michaels magischem Monsterladen. Das konnte einem eben nur ein Großvater zu Weihnachten schenken, der zur See gefahren war.
„Tu mir bitte einen Gefallen, Jenny, ja?“, bat der alte Seemann. „Sag bitte keinem, dass es eine Wau-Muschel ist. Ich möchte mit den dänischen Zollbehörden keinen Ärger bekommen. Wenn du es geschickt machst, dann werden sie Leute vielleicht denken, dass es ein ganz gewöhnlicher Dackel ist. Auch wenn das natürlich ein Riesenunterschied ist ...“
„Versprochen“, flüsterte Jenny und streichelte ihre Wau-Muschel, die inzwischen in ihren Armen eingeschlafen war.
Und Jenny hat ihr Versprechen auch tatsächlich gehalten. Niemals hat irgend jemand auch nur den leisesten Verdacht geschöpft, bei dem freundlichen kleinen Hundewelpen der Familie Mau könne es sich um irgend etwas anderes handeln als um einen Dackel. Und dabei war es doch eines der gefürchtetsten Ungeheuer aus der Bornholmtiefe.
© Petra Hartmann