Jahresrückblick I: Januar bis März 2019
Jahresrückblick
Für mich ist es vor allem journalistisch das vermutlich schönste Jahr meines Lebens gewesen. Ich habe im Mai der Gardelegener Volksstimme Lebewohl gesagt und bin seitdem Lokalredakteurin der Goslarschen Zeitung. Das ist jetzt länger als ein halbes Jahr her, aber ich bin immer noch verliebt wie am ersten Tag.
Schriftstellerisch waren meine Höhepunkte die Lesung auf dem Helgoländer Literaturfestival und der Besuch beim Nürnberger Autorentreffen (mit Lesung und Gegrilltem in der Galerie im Weinlager), Pflichtstationen waren auch der Marburg-Con und der Buchmesse-Con und die Leipziger Buchmesse. Ich hatte zwei sehr schöne Lesungen in Gardelegen und drei interessante Radiosendungen bei Radio Tonkuhle.
Was ist in diesem Jahr an Texten entstanden? Ich habe weiter an meiner Sammlung "Buchfinkenmärchen" gearbeitet (aktueller Stand: 45 von geplanten 50 Geschichten) und habe das erste Viertel eines Indianer-Romans, Arbeitstitel: "Der Flug des Jungen Adlers", geschrieben. Dazu einige Kurzgeschichten und Märchen. Auch wieder etwas aus meinem Fantasy-Land Movenna. Und natürlich ein Weihnachtsmärchen.
Im November gab es für mich wieder eine vierwöchige Auszeit auf Helgoland: Einen Monat lang nur Lesen und Schreiben bei vollständiger digitaler Entgiftung. War schön, und die Lesefrüchte aus dieser Zeit stelle ich euch, wie üblich, im vierten Teil dieses Jahresrückblicks vor.
Doch zunächst ein Blick auf das erste Quartal. Es ist eine Mischung aus Kinderbüchern, Klassikern, moderner und alter Phantastik und ein bisschen "unphantastischer" Belletristik. Schaut einmal rein, ob ihr etwas davon gebrauchen könnt. Viel Vergnügen damit.
Hinweis:
Etwaige blau markierte Texte sind herausragende Spitzenbücher, rot steht für absoluten Mist, ein (e) hinter dem Titel bedeutet, dass ich den betreffenden Text in der eBook-Version gelesen habe, und hinter den Links verbergen sich ausführlichere Besprechungen innerhalb dieses Blogs.
Januar
Birgit Otten: Falkenmagie (e)
Hans Baumann: Ich zog mit Hannibal
Jugendbuch-Klassiker über den karthagischen Feldherrn, der Rom erobern wollte und dazu mit Elefanten die Alpen überquerte. Die Geschichte wird erzählt aus der Persepktive eines Jungen, der mit dem Heer mitzieht und sich als besonders guter Elefanten-Betreuer erweist. Zwischen ihm und dem letzten Elefanten Hannibals entwickelt sich eine besondere Beziehung, ebenso wie zwischen Ihm und dem legendären Karthager-Feldherrn selbst. Erneut arbeitet sich Baumann an der Person eines berühmten, charismatischen Führers ab, der die Massen begeisterte, eine große Idee verfolgte, die Welt bewegte. Ein Thema, das den Autor, der in seiner Jugend vollkommen für Hitler schwärmte und damals "Cheflyriker" der Bewegung war, Zeit seines Lebens nicht wieder losgelassen hat. Wir erleben Hannibal von seiner menschlichen Seite, auch als Menschen, der für Humanität und Gerechtigkeit eintritt, der aus Tierliebe auf einen bestimmten Elefanten in seiner Phalanx verzichte und ihn zu Hause lässt und der mit dem kleinen Elefantenführer freundschaftlich und ohne Hierarchiedünkel spricht. Aber Baumann zeigt uns auch das andere Gesicht des Karthagers, den Machtmenschen, der skrupellos über Leichen geht, Städte vernichtet, Unschuldige opfert und für sein Ziel auch bereit ist, Lügen und Fälschungen zur Hilfe zu nehmen.
Jugurtha-Gesamtausgabe 4:
- Der große Vorfahr
- Die Mondberge
- Der schwarze Stein
Teil vier der Jugurtha-Gesamtausgabe. Erneut sehr opulent und hochwertig aufgemacht und wie bereits die Bände 2 und 3 und die zweite Hälfte von Band 1 absolut ohne Bezugspunkte zum historischen numidischen Prinzen gleichen Namens. In diesem Band ist Jugurtha wieder in Afrika unterwegs, ein Hintergrund, der mich wesentlich mehr überzeugt als die asiatischen Abenteuer. Und er trifft auch wieder auf korrupte, dekadente Schergen Roms. Zum Ende hin wird es sogar ein wenig spacig. Und wir erleben den Helden in einigen kurzen Zeichenabenteuern außerhalb der Kontinuität auf Stipvisite im 20. Jahrhundert. Sehr schön.
Clemens Brentano: Rheinmärchen (e)
Ein sehr umfangreiches, verschlungenes Märchen mit zahlreichen eingebetteten kürzeren Erzählungen und der weitverzweigten Geschichte einer Dynastie von Menschen, die auf besondere Weise mit dem Wasser und übernatürlichen Frauen verbunden sind. Ich habe mich damals für meinen Blog-Artikel über die Loreley näher mit dem "Rheinmärchen befasst, das ja in der Geschichte der Kunstsage um die blonde Frau auf dem Felsen eine besondere Rolle spielt. Insofern kann ich mich hier eigentlich kurz fassen. Es ist sprachlich sehr schön, wegen der vier Generationen und zahlreichen Betroffenen teilweise etwas schwer zu verfolgen, sodass man unterwegs manchmal den Faden verlieren kann, aber insgesamt nicht schlecht.
Was mich abgestoßen hat, war der üble Antisemitismus, der, ohne in der Erzählung eine nennenswerte Funktion zu erfüllen, gegen Ende der Geschichte aufflammt. Da haben die Bürger die Gelegenheit, ihre im Rhein versunkenen Kinder nach und nach zurückzuholen, indem jeden Tag ein anderer Elternteil dem Fluss eine Geschichte erzählt. Und plötzlich wollen sich zwei als ausgesprochen widerwärtig, eitel und von Hybris beherrscht dargestellte Jüdinnen vordrängeln und zuerst erzählen, um ihre Kinder als erste zurück zu erhalten. Während alle ehrbaren Christen natürlich dafür sind, dass selbstverständlich der Herrscher als erster erzählen darf. Woraufhin die Jüdinnen damit bestraft werden, dass sie als allerletzte an die Reihe kommen. Ein blindes Motiv. Und nicht nur inhaltlich, sondern auch literarisch und kompositorisch eine ziemliche Ecke, die Brentano hier seinem eigenen Erzählfluss schlägt. Wie groß muss sein Hass gewesen sein, wenn er als guter und professioneller Erzähler, der er ja war, gar nicht merkt, wie er an der Stelle seine eigene Geschichte versaut? Oder kommt mir das nur so vor, weil ich mit den Augen eines Lesers aus dem 21. Jahrhundert darauf blicke?
Hans Friedrich August von Arnim: Quellenstudien zu Philo von Alexandria
- Über die pseudophilonische Schrift peri aphtharsias kosmou
- Philo und Aenesidem
- Ein stoisches Zetema bei Philo
Drei Aufsätze in einem Sammelband. Textsammlung aus dem Jahr 1888, ein Reprint aus der Reihje "Scholar Select", also eines von diesen 1:1 eingescannten Public-Domain-Büchern. Die Druckqualität ist in Ordnung. Inhaltlich sehr speziell. Es geht zum Teil um die Rekonstruktion anderer Autoren, an denen Philo sich abarbeitet. Insgesamt eine sehr sachkundige, detailreiche Arbeit, bedingt durch ihre Entstehungszeit etwas anstrengend im Satzbau.
Sallust: Bellum Iugurthinum / Der Krieg mit Jugurtha lat/dt (Reclam)
Das musste mal sein, wenn ich mich schon durch die Comic-Klassiker über den numidischen Prinzen durchfresse. Also mal wieder zu den Quellen. Erstmals gelesen habe ich den "Bellum Jugurthinum" 1988 im Lateinunterricht. Ich erinnere mich noch gern an die Diskussionen mit Herrn Möbius über Geschichte, Politik und allgemeine Weltanschauungsfragen. Waren manchmal echte Sternstunden. Schade, dass ich es versäumt habe, ihm den Comic zu zeigen. Tja, aber das Reclam-Heft ist ja auch ganz hübsch. Schöne zweisprachige Ausgabe, ein gut kommentierter Begleiter durch die römische Geschichte. Und Sallust ist als Geschichtsschreiber auch nicht ganz so dröge. War ein nettes Wiedersehen.
Vanessa Kaiser, Fabienne Siegmund, Stephanie Kempin, Thomas Lohwasser, Jana Damaris Rech: Herbstlande. Ein Reiseführer
Ich habe die beiden Bücher "Herbstlande" und "Geschichten aus den Herbstlanden" mit Genuss gelesen und hatte auch sehr viel Spaß an dem Reiseführer durch die drei Länder September, Oktober und November. Es handelt sich um ein DIN A 5-Heft, in dem die geographischen und zeitlichen Besonderheiten der Herbstlande dargestellt werden und in dem der Leser viele der besonderen Lebewesen, die diese Phantasiewelt bevölkern, noch einmal vorgestellt bekommt. Erneut ein sehr liebevoll aufgemachtes und opulent illustriertes Büchlein aus den Herbstlanden und trotz der einfachen Heftung und des schlichten Papp-Umschlags eine kleine bibliophile Kostbarkeit. Sehr nett.
Annette Zgoll: Der Rechtsfall der En-hedu-Ana im Lied nin-me-sara
En-hedu-Ana gilt als erste Schriftstellerin der Welt. Die Tochter Sargons II. war Priesterin der Liebesgöttin Ischtar und des Himmelsgottes An, aber auch Wissenschaftlerin und Politikerin. Als eine ihrer großen Leistungen gilt die Schaffung einer Art "Interpretatio romana" für die Götter des alten Zweistromlandes, in der sie die sumerischen und akkadischen Gottheiten einander zuordnet. Im Lied "Nin-me-sara" wendet sie sich in sehr persönlicher Weise an Ischtar und bittet sie um Hilfe in einer Situation, in der ihre Macht schwand und sie sich gegen Feinde zur Wehr setzen musste. Das Ganze ist dargelegt als eine Art Gerichtsfall, in dem sie auf der einen und der Gott Marduk auf der anderen Seite steht. En-hedu-Ana legt ihre Rechtschaffenheit und ihre Ansprüche dar und bittet um Unterstützung in der Verhandlung, sie sieht sich ungerecht behandelt und will in ihre alten Rechte wieder eingesetzt werden.
Ein wenig hat es mich an Sapphos Aphrodite-Ode erinnert, hier wie da wird die Liebesgöttin um Hilfe angerufen, es werden ihre Vorzüge geschildert, und die Verfasserin erinnert die Göttin daran, dass sie ihr ja schon zuvor in ähnlichern Situationen beigestanden hat. Der Unterschied ist, dass es bei Sappho um das eher private Thema Liebe und die Gewinnung eines bisher abweisenden Menschen (vermutlich einer Frau) geht, bei En-hedu-Ana aber um eine hochpolitische Angelegenheit und um Machtfragen.
Die vorliegende Arbeit enthält den Text des Gedichts/Gebetes, zunächst in einer wörtlichen, dann in einer etwas freieren Übersetzung sowie eine interpetierende und kommentierende Annäherung an die Priesterin. Ein sehr interessantes Werk, aus dem ich viel gelernt habe.
Hörbuch/Hörspiel
Carol Rifka Brunt: Sagt den Wölfen, ich bin zu Hause
Wow. Das war einfach toll. Geschichte eines ungleichen Schwesternpaars und seines verstorbenen Onkels. Der Mann war ein weltberühmter Maler, hat sich dann aber zurückgezogen. Kurz vor seinem Tode will er die beiden Mädchen noch einmal malen. Erzählt wird die Geschichte dieses Bildes und das, was davor geschehen war. Nach und nach erfährt der Leser die ganze Familiengeschichte und wie die "anständige" Familie den Onkel an den Rand drängte, wie er selbst zum Außenseiter wurde, zuerst als Künstler, dann als Homosexueller, schließlich als Aidskranker. Erzählt wird auch die Geschichte der beiden Mädchen. Zwischen ihnen gibt es die üblichen Reibereien unter Pubertierenden, aber das, was die ältere ihrer jüngeren Schwester antut, ist mehr als fies, es ist schon kriminell. Erzählt wird das Ganze aus der Sicht der jüngeren Schwester, die ihren Onkel abgöttisch liebte. Schließlich lernt sie seinen Lebensgefährten kennen, einen jungen Mann, der in der Familie als derjenige gilt, der den Onkel mit der Seuche angesteckt hat. Eine Geschichte, die unter die Haut geht. Wundervolle Sprache und sehr gut gelesen.
Februar
Jostein Gaarder: Das Orangenmädchen
Die Erzählung einer Jugendliebe, in Briefform von einem Vater für seinen Sohn aufgezeichnet. Nette Geschichte, leicht und locker erzählt, ein wenig rätselhaft, schon irgendwie im oberen Drittel angesiedelt, aber Gaarder kann mehr.
Günter Abramowski: darüberhinaus
Ulrike Stegemann: Dämonenfriedhof
Reinhold Mayer: Versuch über Paulus
Eine Betrachtung über Paulus und seine Art, das Christentum zu verbreiten, mit besonderem Schwerpunkt auf dem Antisemitismus des Mannes. Reinhold Mayer zeichnet nach, wie Paulus den Juden nach und ihre Rechte am Bund mit Gott aberkennt - bis hin zu der These, die Juden seien nur die illegitimen Abkömmlinge Abrahams von der Magd Hagar, während die Christen die wahren Kinder Abrahamns von dessen Ehefrau Sara seien. Schon schlimm, wenn man sich mal die Texte des engagiertesten Außendienstlers Jesu daraufhin genauer anschaut.
März
Regina Nagel: Flaschenpostsommer
Ein Buch, das ich lektoriert habe. Da ich selbst "die Finger drin habe", enthalte ich mich der Bewertung. Nur kurz zum Inhalt: Es geht um ein Mädchen und einen Jungen, die beide schwer kranke Geschwister haben. Auf beiden ruht daher schon in jungen Jahren eine große Verantwortung, und beide kommen in ihrer Familie selbst ein bisschen zu kurz. In den Ferien lernen sie sich kennen, und sie lernen, dass sie selbst ebenfalls wichtig sind.
Sibylle Luig: Magie hoch zwei. Band 1: Operation Waldmeister
Sibylle Luig: Magie hoch zwei. Band 2: Die fiesen Omas
Amos Oz: Wo die Schakale heulen
Kurzgeschichtensammlung aus der frühen Kibbuz-Zeit von einem der ersten israelischen Autoren. Kibbuzarbeit, Zwischenmenschliches, Streit, Verletzungen, immer wieder Angriffe, ringsum raue Wüste, und ab und zu heult ein Schakal. Eine sehr herbe Welt wird anschaulich, das ganze sehr spröde in der Sprache, fast emotionslos, aber eben darum sehr treffend.
T.H. White: Der Habicht
Sternmetall. Bulgarische Phantastik
Weitere Jahresrückblicke
Teil II: April bis Juni 2019
Teil III: Juli bis September 2019
Teil IV: Oktober bis Dezember 2019
© Petra Hartmann