Jahresrückblick III: Juli bis September 2019
Jahresrückblick
Der dritte Teil meines Lese-Rückblicks auf das Jahr 2019. Erneut ist ziemlich viel Philosophie dabei: Haskala, Liberalismus, eine Geschichte philosophierender Frauen. Außerdem noch etwas Goslar-Literatur, ein bisschen Phantastik. Und mein Buch des Jahres ist ein Fachbuch über --- Algen!
Ich wünsche viel Vergnügen beim Stöbern und Lesen.
Hinweis:
Etwaige blau markierte Texte sind herausragende Spitzenbücher, rot steht für absoluten Mist, ein (e) hinter dem Titel bedeutet, dass ich den betreffenden Text in der eBook-Version gelesen habe, und hinter den Links verbergen sich ausführlichere Besprechungen innerhalb dieses Blogs.
Juli
Julius H. Schoeps: David Friedländer. Freund und Schüler Moses Mendelssohns
Biographie eines der interessantesten Köpfe der Haskala, der jüdischen Aufklärung. David Friedländer sah sich selbst als Schüler Moses Mendelssohns und trug diesen "Titel" auch mit einigem Stolz vor sich her. Tatsächlich aber ist er weniger ein Philosoph als vielmehr der große "Macher" der Haskala, der Politiker und Praktiker unter den Aufklärern. Als Spross einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie und selbst erfolgreicher Geschäftsmann hatte Friedländer nicht nur eine ausgezeichnete Bildung genossen, sondern er förderte auch andere Gelehrte auf ihrem Weg und unterstützte Bildungsprogramme. Er war gut vernetzt, ein Mann, der Kontakte bis in die höchsten politischen Spitzen hatte, mit Wilhelm von Humboldt über Bildungspolitik diskutierte und sich in dessen Reform einbrachte.
Besonders zwei Projekte sind mit dem Namen Friedländers verbunden: Der Kampf um die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden und der Versuch, Judentum und Christentum einander anzunähern. Auf politischer Ebene hat er einiges erreicht, wenn er auch Rückschläge hinnehmen musste. Eine wichtige Schrift dazu waren die "Aktenstücke", in denen er seine Gutachten und Eingaben und die Schriftstücke weiterer an der Reform beteiligter Personen herausgab. Hierfür gab es viel Anerkennung unter modernen und fortschrittlichen Juden und Christen. Viel Prügel hat er allerdings einstecken müssen für seine Idee, Judentum und Christentum wieder zu einer gemeinsamen Religion zu vereinigen, wie er in einem Sendschreiben an den Probst Teller darlegte. Zu beiden Werken, die ich im Oktober gelesen habe, findet ihr mehr im vierten Quartal.
Ansonsten war Friedländer ein großer Kunstfreund und Numismatiker. Von Goethe hat er sich einmal sehr böse übers Ohr hauen lassen, als er dem alten Geheimrat freundlich ein paar kostbare Münzen aus seiner Sammlung zukommen ließ und dieser ihm dafür als Tauschobjekte ziemlich billigen Schrott zurückschickte. Friedländer hat höflich und zurückhaltend geschwiegen, immerhin war es ja ein Kontakt mit dem Dichterfürsten ...
Insgesamt eine sehr spannende und umfassende Lebensbeschreibung, aus der ich viel gelernt habe.
Israel Abrahams: Moses Mendelssohn - A short Biography (e)
Ein kostenloses eBook für den Amazon-Kindle. Das "short" im Titel ist in diesem Fall wörtlich zu verstehen. Ich habe den Text komplett gelesen, als ich beim Friseur etwas warten musste, und es hat nicht lange gedauert. Eine sehr kurze Übersicht über Leben und Werk, nicht tiefschürfend, nicht allzu ausführlich, aber bei Null Euro kann man nicht meckern.
Ossip Mandelstam: Gedichte (Der Stein, Tristia, Gedichte)
Ein sehr zierliches, kleines Büchlein, Hardcover, 73 Seiten, das mir in der Hildesheimer Buchhandlung Ameis zufällig in die Finger geriet. Enthält Gedichte aus mehreren Sammlungen, alle nach der russischen Oktoberrevolution entstandenen Gedichte Mandelstams in der Übersetzung von Paul Celan, der auch ein kurzes Nachwort dazu schrieb. Der Band erschien im Original 1928 und war die letzte Publikation des Dichters. 1934 fiel er den Stalinistischen Säuberungen zum Opfer.
Die Spannbreite der Themen ist weit. Naturschilderungen, Schwermut, Gedanken über Freiheit, Klagen über den Kerker Welt, Meer und Himmel, Sterne und Flügel, aber auch Revolutionspathos, Erinnerungen an den "Eid, den ich den vierten Stand geschworen", Widerständiges, die Weigerung, jemands Zeitgenosse zu sein ...
Schwer zu sagen, ob Mandelstam schon von Natur aus so klang wie Celan, oder ob die beiden einfach gut zusammen passten, auf jeden Fall ein sehr berührender und dabei präziser celanoider Klang. Gedichte, die sich irgendwie gut einatmen lassen, auch in den harten Sequenzen, und bei denen man immer mal wieder innehält, die Augen schließt und sich die gerade gelesene Zeile noch einmal im Gedanken nachsprechen muss. Hat mir gefallen.
Hans-Georg Dettmer: Der Roeder-Stollen im Rammelsberg
Mein Ausflug in den Roeder-Stollen ist eine hochinteressante Expedition in die Tiefen des Rammelsberges bei Goslar. Stadtführerinnen haben mir den Berg auch als den "Schicksalsberg" der Stadt beschrieben. Ging es dem Bergbau gut, ging es auch der Stadt gut. Und wenn der Bergbau als Quelle des Reichtums der alten Kaiserstadt darniederlag, dann ging es auch Goslar schlecht. Das muss sich eine Lokalredakteurin, die neu in der Stadt ist, natürlich anschauen.
Im Stollen kann man die beeindruckende alte "Wasserkunst" ("Kunst" war damals ein Wort für "Technik") mit ihren riesigen hölzernen Förderrädern bewundern, man sieht die Vitriole (Sulfate) an den Wänden in faszinierenden Farben leuchten (Kindern sagen, die blauen Vitriole sähen aus wie "Schlumpfkacke"), und man lernt den Plastikhelm, den man am Eingang noch für eine typisch deutsche überzogene Sicherheitsvorschrift gehalten hat, spätestens nach dem ersten Anditschen an der Stollendecke schätzen (bei mir hat es ca. 30 mal geditscht). Dass sie, als ich mich am Schluss der Führung rund 100 schmale, steile Metallgitter-Treppenstufen hinaufkämpfen musste, die Unverschämtheit hatten, "Glück auf, Glück auf" zu spielen, war allerdings ziemlich fies.
Klar, dass ich mir danach das Büchlein zum Stollen kaufte. Es hat 42 Seiten, kostet 5 Euro und ist eine knappe und übersichtliche Darstellung des Stollens, seiner Geschichte und seiner Besonderheiten. Handlich und sehr schön, auch eine schöne Erinnerung.
Jhumpa Lahiri: Die Kleider der Bücher
Netter Essay über Buchcover. Die Autorin denkt darüber nach, wie wichtig das Titelbild für den ersten Kontakt mit dem Leser ist, wie sie sich manchmal gewundert hat darüber, wie ihre Bücher eingekleidet wurden, und wie seltsam es doch ist, dass Cover in jedem Land anders funktionieren und dass man selten ein Motiv übernehmen kann, wenn das Buch in einer anderen Sprache und einem anderen Kulturkreis erscheint. Nicht buchwissenschaftlich, sondern eher private Eindrücke. Ein sehr nettes, dünnes Büchlein, es war okay, aber hat mich jetzt auch nicht nachhaltig berührt. Es war auf jeden Fall nichts dabei, was mich jetzt für meine Autorenkarriere und für Diskussionen mit Verlegern über das Outfit meiner Bücher geprägt hat.
Mario Vargas Llosa: Der Ruf der Horde
Eine etwas andere Philosophiegeschichte, in der Vargas Llosa einen Kanon der großen liberalen Denker aufstellt und gleichzeitig darlegt, wie und worin die einzelnen Persönlichkeiten ihn geprägt haben. Der Titel ist insofern irreführend, als es nicht rinfach um den "Ruf der Horde" geht, also um Populismus, Massenbewegungen und die immer stärker hochkochende mediale Ochlokratie, in der wir uns bewegen, sondern gerade darum, sich diesem "Ruf der Horde" entgegenzustellen, ein philosophisches Gegengift gewissermaßen.
Vargas Llosa stellt sieben Philosophen und ihre Ideen und Programme vor: Adam Smith, José Ortega y Gasset, Friedrich August von Hayek, Karl Popper, Raymond Aron, Isaiah Berlin und Jean-François Revel. Mit den letzteren drei hatte ich bisher noch nichts zu tun, die drei Kapitel klangen aber durchaus so, als sollte man da etwas nachholen.
Der Verfasser nennt als sein Vorbild Edmund Wilsons "Auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof". Wie dieser die Geschichte der sozialistischen Ideen, wolle er selbst eine Geschichte des Liberalismus schreiben. Keine schlechte Idee, auch wenn meine Auswahl der liberalen Köpfe vermutlich etwas anders und "deutscher" (also weniger global) ausgesehen hätte. Nicht ganz folgen kann ich ihm allerdings, wenn er das Büchlein als persönliche Lebensbeschreibung betrachtet sehen möchte. Er nennt es zwar im Untertitel "Eine intellektuelle Autobiografie", aber die Bezüge zur eigenen Biografie und zum eigenen Denken legt er nicht allzu ausführlich offen. An einigen Stellen beschreibt er durchaus, was der einzelne Porträtierte für ihn selbst bedeutete und wie er sich an ihm abgearbeitet hat, aber oft fehlt dieser Bezug eben auch. So ist es für den Nicht-Fachmann und nur Gelegenheits-Vargas-Llosa-Leser etwas schwierig, die Verbindung zu finden.
August
Die Welten von Thorgal - Thorgals Jugend 6: Der Drakkar aus dem Eis
Gilles Ménage: Geschichte der Philosophinnen (lat./dt.)
Das Buch erschien zuerst im Jahr 1690 und ist auch heute noch die vermutlich umfangreichste Sammlung von Namen der antiken Philosophinnen. Ménage war jemand, der Frauen sehr schätzte und ihre Leistungen anerkannte, er soll sich unter anderem dafür ausgesprochen haben, Frauen in die Academie Française zu berufen. Der Verfasser widmete die Schrift der Denkerin Anne Dacier, die unter anderem als Philosophin, aber auch als Homer-Übersetzerin und - zusammen mit ihrem Mann - als Übersetzerin der Werke Marc Aurels viel geleistet hat.
Das Werk ist allein schon als grundlegende Schrift und wohl erste ihrer Art bedeutend. Es ist sehr umfassend. Jede einzelne Frau, die in der Antike an irgend einer Stelle als Philosophin oder Schülerin eines Philosophen erwähnt wird, ist hier aufgelistet. Je nach Quellenlage ist die Darstellung ausführlicher oder eben nicht. Bei manchen Frauen ist nur der Name überliefert. Bei manchen heißt es nur, dass auch eine gewisse Anzahl von Frauen in dieser oder jener Schule mit dabei waren, ohne dass man die Namen kennt. Besonders ausführliche Darstellungen gibt es beispielsweise bei den Pythagoräerinnen, allen voran Theano, auch die Platonikerin Hypatia ist recht gut dokumentiert. Bei anderen, wie gesagt, oft nur ein Satz. Aber so ziemlich alles, was an Quellen überhaupt vorhanden war, hat Ménage aufgespürt und ausgewertet. Eine sehr akribische Arbeit. Und auch heute noch bedeutend genau für eine Neu-Übersetzung.
Jostein Gaarder: Genau richtig
Der Titel ist die Botschaft: Gaarder setzt sich mit der Beobachtung auseinander, dass vieles auf dieser Erde einfach "genau richtig" ist. Angefangen mit der optimalen Entfernung zur Sonne - nicht zu heiß und nicht zu kalt, um Leben zu ermöglichen - bis hin zur Familiengeschichte des Jungen, der die Hauptperson ist. Sein Vater, der inzwischen längst verstorben ist, erzählt ihm, wie er und seine Frau sich kennen lernten, sich ineinander verliebten und schließlich dieses Kind bekamen: EInfach genau richtig, um diesen jungen Menschen zu dem zu machen, der er wurde.
Es ist ein Gedanke, den Gaarder seit "Sophies Welt" immer wieder vertreten hat: Wir sehen nur die "Gewinnerlose". Alles, was ist, hat eine Vorgeschichte, in der alles "genau richtig" gepasst hat, um es hervorzubringen. Auch jeder einzelne Mensch ist ein solches "Gewinnerlos". Eine fast unendliche Kette von Vorfahren, die alles genau richtig gemacht haben, um diesen einen Nachkommen hervorzubringen. Wäre in dieser Kette nur ein einziges Glied ausgefallen (und in den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte voller Krieg, Mord, Totschlag, Hunger und Seuchen wäre das gar nicht so unwahrscheinlich gewesen), dann hätte ganz genau dieser Mensch, der heute lebt und sich über das Wunder des Lebens Gedanken macht, niemals das Licht der Welt erblickt.
Dabei verlief die Vorgeschichte der Familie gar nicht undramatisch. Der Vater stand sogar kurz davor, sich umzubringen. Gerettet wird er durch geradezu wunderbar erscheinende Umstände, die sich aber bei Licht betrachtet ebenfalls als eine Kette von Ereignissen erweisen, in der einfach alles zusammenpasst.
Ein sehr schönes, warmherziges Buch, das Romanhandlung, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte zu einem großen Ganzen verbindet und den Leser mit einem guten Gefühl zurücklässt. Alles gut gemacht. Einfach genau richtig.
Sophie Scholl: Lesen ist Freiheit
Enttäuschend. Aber was habe ich denn eigentlich erwartet? Da hat sich halt jemand die Mühe gemacht, aus Briefen und Tagebucheinträgen Sophie Scholls Textstellen herauszusuchen, in denen sie darüber spricht, dass sie Bücher liebt und dass ihr das Lesen Kraft gibt. Ja, klar, natürlich hat auch Sophie Scholl gern gelesen. Welcher vernünftige Mensch tut das denn nicht? Okay, ein paar unveröffentlichte Sachen sind dabei. Aber für jemanden, der vor 30 Jahren die "Briefe und Aufzeichnungen" von Sophie und Hans Scholl, herausgegeben von ihrer Schwester Inge, komplett gelesen hat und der auch eine sehr schöne "Peter Pan"-Ausgabe mit ihren Zeichnungen besitzt, war es jetzt nicht gerade erkenntniserweiternd. Andererseits, noch einmal: Was habe ich denn erwartet von dem Büchlein? Einen bisher unentdeckten Essay zu dem Thema vielleicht. So ist es halt nur eine Art nettes Geschenkbüchkein wie "Seneca für Manager" oder "Goethe für Gestresste", irgendwelche Exzerpte unter einem Namen, der für gute Verkäufe bürgt. "Sophie Scholl für Buchliebhaber" oder so. Hätte ich nicht gebraucht.
Heinrich Detering: Untertauchen
Axel Hacke: Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen
Ein Essay über die zunehmende Verrohung unserer Welt und Sprache, aber auch darüber, dass es doch noch irgendwo das Gefühl für Anstand gibt. Ausgangspunkt ist ein Gespräch Hackes (oder meinethalben seines lyrischen Ichs) mit einem Freund in der Kneipe, als dieser eine bestimmte Biersorte aus politischen Gründen nicht trinken will. Eine kleine Geste, die zum Nachdenken darüber Anlass gibt, was Anstand überhaupt ist, wie man ihn im Laufe der menschlichen Geschichte definierte und wieso und wohin er jetzt möglicherweise verschwunden ist. Ein Plädoyer dafür, trotz alledem anständig zu sein und zu bleiben, und sei es auch nur in solchen kleinen Gesten wie der Weigerung, ein bestimmtes Bier zu trinken.
Die Frage nach dem Anstand ist eine ziemlich wichtige. Schon seltsam, dass sie bisher gar nicht gestellt wurde. Oder nicht laut genug gestellt wurde. Trotz seiner Leichtfüßigkeit und seines Plaudertons ist es auf jeden Fall ein wichtiges Buch. Auch wenn es die Frage, wie man den Anstand denn wieder in die Menschen hineinbekommt, gar nicht beantwortet. Hacke beobachtet, verknüpft, erzählt. Er liefert keine Patentrezepte. Allerdings, vielleicht ist es ja schon mal ein guter Anfang, etwas mehr darüber nachzudenken. Und sich selbst eben anständig zu verhalten. Was immer daraus werden mag.
September
Stella Fontana: Die Hexenbande
Ein Kinderbuch einer Goslarer Autorin. Erschienen bei BoD, reich illustriert. Es ist ein Lokalkrimi, der in Goslar spielt. Es geht um vier Mädchen, die eine Diebstahlserie in einem Kaufhaus aufklären. Es sind vier sehr unterschiedliche Charaktere, Schülerinnen der Schiller-Schule, unterstützt von einem Hund und von Kommissar Zufall. Der Fall ist recht einfach, eben kindgerecht, und für die Zielgruppe Grundschüler passend. Witzig fand ich das "Diebfangmittel", das eine der vier "Hexen" in ihrem Detektivkoffer hat. Es ist ein Pulver, das die Heldinnen auf dem Diebesgut verteilen und das die Finger schwarz färbt, wodurch der Dieb erkannt werden kann. Insgesamt nicht unbedingt ein anspruchsvoller Denksport-Krimi, keine Knobeleien und Spurensuche, eher ein wenig abenteuerlich. Die "Hexen" finden halt zufällig das Diebesgut und suchen dann den Dieb dazu. Für Grundschüler aber durchaus angemessen. Ich habe im Sommer für meine Zeitung eine Buchvorstellung dazu geschrieben.
Tina Birgitta Lauffer: Applejucy. Abenteuer in Amerika
Horst Pöttker, Anke Vehmeier (Hrsg.): Das verkannte Ressort. Probleme und Perspektiven des Lokaljournalismus
Berufliche Lektüre. Ab und zu aus dem Praxis-Sumpf auftauchen und sich mal wieder die reine Lehre zu Gemüte führen, tut ja nicht schlecht. Das Buch ist nicht mehr ganz neu, es erschien im Jahr 2009, aber so umwerfend viel hat sich in der Zwischenzeit nicht geändert.
Ein Schwerpunkt ist das Thema Qualität, eine besondere Baustelle die Qualifizierung der freien Mitarbeiter. Festangestellte Vollzeitredakteure bilden sich ja noch eher fort beziehungsweise erhalten durch ihren Arbeitgeber Unterstützung, wenn sie bestimmte Seminare besuchen wollen oder müssen. Ich denke, das Problem kennt jeder Rdeakteur, der bei einem bestimmten Freien immer die gleichen Fehler verbessern muss - und jeder Freie, der sich immer wieder über das Herumwerkeln eines Redakteurs in seinem Text ärgert. Es gibt im Buch Untersuchungen darüber, was von einer Zeitung organisierte Fortbildungen für ihre Freien bringen, und eine Beschreibung der "Anleitung zu Glücklichsein" der Rheinischen Post. (Ich hatte vor Urzeiten ja in Springe mal versucht, einen Leitfaden mit den wichtigsten Regeln für unsere Freien zusammenzustellen. Weiß nicht, was nach meinem Weggang daraus wurde.)
Ansonsten fand ich die Rolle der Bundeszentrale für politische Bildung ganz interessant. Es war mir bisher gar nicht so klar, dass die "Dehscheibe" Teil der eines Lokaljournalistenförderungsprogramms der Bundeszentrale ist und aus dem unmittelbaren Bedürfnis dieses Staates nach einem qualitativ ordentlichen Journalismus hervorging. (Sollte mich das misstrauisch machen?)
Teilweise ist das Buch etwas NRW-lastig, etwa bei den Spezialtexten zu bestimmten journalistischen Rechten und Auskunftsmöglichkeiten, aber das schadet nichts. Vieles lässt sich auf Niedersachsen übertragen.
Miek Zwamborn: Algen. Ein Porträt
Das zauberhafteste und faszinierendste Buch, das ich 2019 gelesen habe. Eindeutig mein Buch des Jahres. Magisch. Es handelt sich um ein kleines, schmales, algengrünes Bändchen mit vorn aufgeprägtem dunkegrünem, verzweigtem Tang-Ast, wunderschönes Hardcover-Büchlein, das man fast für einen Lyrikband halten könnte. Ich bin in der Hildesheimer Ameis-Buchhandlung darauf zugelaufen, in der ich oft Überraschungen entdecke, einfach Bücher, die abseits meiner ausgetretenen Literaturpfade liegen.
Worum es geht? Um genau das, was im Titel steht. Die Autorin schildert in ausgesprochen poetischer Sprache zunächst ihre ersten Begegnungen mit Algen, ihre Gänge zum Strand, die optische und haptische Faszination dieser Lebewesen. Es liest sich wie ein Essay über Ästhetik, nur eben nicht von einem drögen Philosophieprofessor, sondern von einer brillanten lyrischen Feder. Doch die Würdigung der einzelnen Algenarten als Kunstgenuss ist nur ein kleiner Teil dieses Ausflugs in die Welt des Federtangs, Meersalats und Purpurtangs, des Korallenmooses und der Drahtalgen. Die Autorin erzählt auch die Geschichte der Algenforscher und der Liebhaber, die diese Pflanzen zu konservieren versuchten. Über große Sammlungen, sozusagen eine Bibliothek der Algen, berichtet sie ebenso wie über Nahrungsmittel-Gewinnung aus dem Meer oder Zuchtfarmen. Angereichert wird das Ganze durch bezaubernde, einfühlsame Porträts einzelner Algenarten, durch Lyrik und Prosa aus aller Welt über Seetang und durch eine Sammlung von Algen-Rezepten zum Selbst-Ausprobieren.
Es ist unfassbar. Da wollte ich eigentlich nur ein wenig Sekundärliteratur studieren, die ich vielleicht für einen vierten Nestis-Band gebrauchen könnte, und plötzlich tut sich eine vollkommen neue Welt auf. Ich bin verliebt in dieses Buch. Es ist einfach unglaublich.
Andrea Tillmanns: Julia Jäger und die Welt der Wächter
Herbert G. Wells: Die Meerfrau
Ein Roman über eine Meerjungfrau - aber diesmal etwas anders. Eine britische Familie ist gerade beim Baden am Strand, als draußen im Meer eine scheinbar ertrinkende Frau auftaucht. Die Dame wird "gerettet", an Land gebracht und entpuppt sich zur Überraschung der Familie als eine Meerfrau. Der seltsame Gast schweigt sich über seine Ziele aus. Anscheinend will die fischschwänzige Frau die Menschen und ihre Kultur kennern lernen. Eine Art historische "Alf"-Geschichte. Die Familie verbirgt sie vor der Öffentlichkeit beziehungsweise tarnt sie als kranke Frau, die einen Rollstuhl benötigt. Nach und nach gewinnt die Meerfrau an Macht über die sie umgebenden Leute.
Die Geschichte ist reich an humorvollen Szenen und satirischen Seitenhieben. Da ist die sehr korrekte und sehr verschwiegene Dienerin der Familie, die mit der ihr eigenen Sturheit darauf besteht, dass die Lady beim Einkauf natürlich auch Schuhe erhalten muss. Da ist der investigative Journalist, der nachweisen kann, dass es sich um eine Meerfrau handelt - aber dank der Beziehungen der Familie von seinem Chefredakteur aufs Abstellgleis geschoben wird und seine Story wegwerfen muss. Und dann ist da auch noch der junge Politiker, der der Lady hoffnungslos verfällt. Das Ganze sehr schön mit historischen Illustrationen versehen und als geschmackvolles kleines Hardcover-Bändchen, selbstgebunden, in der Edition TES erschienen - einfach ein Leckerbissen.
Klaus Schröter: Der Brocken. Mythos & Wirklichkeit
Mini-Buch im Hosentaschenformat, dessen geringe Größe in verblüffendem Gegensatz seht zu seinem Gehalt. Man erfährt eine ganze Menge über den Berg, seine prominenten Besucher wie Heine und Goethe, seine Geschichte und die dort beheimateten Pflanzen. Man erfährt, dass der Teufelsbündner Faust erst in einem Buch von 1756 mit dem Berg in Verbindung gebracht wurde. Dass die Himmelsscheibe von Nebra "offensichtlich" exakt auf den Sonnenuntergang am Brocken justiert wurde (echt jetzt?). Dazu Infos über das Wetterphänomen "Brockengespenst", über die Brockenbahn, die Brockenpost, über Flieger und ihre Landeversuche auf dem Berg, über den Brocken als Standort für Sendemasten und Abhöranlagen, über Brockenwirte und das Original Brocken-Benno. Das alles auf rund 90 Mini-Seiten. Eine wahre Fundgrube für Harz-Einsteiger.
Betty Kast: Christines fantastische Welt. Teil 1: Christine ist unschuldig
Kinder/Jugendbuch einer Autorin aus Seesen, das ich für die Goslarsche Zeitung gelesen und besprochen habe. Die Geschichte entstand, als eine Tochter der Verfasserin im Urlaub schwer krank wurde und die Mutter an ihrem Bett saß und ihr etwas erzählen musste. Es geht um eine junge Frau, die Tochter einer Fee und eines Menschen ist. Da solche Kontakte den Feen streng verboten sind, werden die Eltern getrennt und mit Vergessen gestraft, das Kind wächst ohne Kenntnis seiner Herkunft bei einer Verwandten auf. Christine lebt in ärmlichen Verhältnissen. Sie liebt ihre Pflegemutter, aber deren Lebensgefährte hasst sie und will das Mädchen loswerden. Er schafft es, sie als Diebin hinzustellen, woraufhin Christine zur Zwangsarbeit verurteilt wird und in einem Bergwerk schuften muss. Und dann ist da noch eine böse Fee, die dem Mädchen ans Leben will ...
Das Tagebuch der Anne Frank - Graphic Novel
Das Tagebuch der Anne Frank - als Comic? Geht das überhaupt? Immerhin sitzen die ganze Geschichte über nur acht Personen in einem engen Raum, das gibt doch optisch nicht viel her.
Doch, das geht. In ihrem "Graphic Diary" zeigen Ari Folman und David Polonsky, dass die Welt der Anne Frank zwar räumlich beschränkt war, doch gerade dadurch eröffnete sich der Autorin eine nahezu unbegrenzte Welt der Phantasie. Wer diesen Comic aufschlägt, erhält einen Eindruck davon, wie reich und weit die Welt der Anne Frank war. Ihre Erinnerungen, aber auch ihre Lektüre und ihr Lernstoff bieten immer wieder Anlass für großformatige Bilder, für Landschaften, Gebäude, hiostorische Persönlichkeiten. Ihre bildhafte Sprache und ihre spitzen Bemerkungen über die eitle Frau von Daan beispielsweise werden von den Künstlern gern wörtlich genommen und mit kongenial spitzem Karikaturenstift in Szene gesetzt. Wenn Anne aus dem Fenster schaut und plötzlich ein jüdisches Paar sieht, das ihr fast vorkommt wie das siebte Weltwunder - schon erweitert sich der Horizont, und das Paar steht zwischen den Pyramiden, dem Artemision und dem Koloss von Rhodos. Und wenn die große Schwester Margot ihr wieder einmal als vollkommenes, unerreichbares Vorbild gegenübergestellt wird, dann erscheint im Buch eine überlebensgroße Ideal-Margot, an der mit Verbindungslinien und Stichpunkten wie in einem Schulbuch alles beschriftet ist, was denn nun so großartig an der großen Schwester ist. Aus der größtmöglichen Begrenztheit erwächst so eine unendliche, grenzenlose Weite. Das ist vielleicht eine Interpretation. Aber auf jeden Fall eine stimmige. Und die Künstler, die sich als Faustregel gesetzt haben: 30 Seiten Buch für eine Seite Comic, haben dennoch so viel Raum, auch mehrfach eine komplette Seite reinen Text aus dem Original-Tagebuch zu übernehmen. Eine beeindruckende neue Umsetzung des Tagebuchs. Sensibel, sehr eigen, sehr stimmig. Anne Frank als Comic? Ja, das geht. Sehr gut sogar.
Weitere Jahresrückblicke
Teil I: Januar bis März 2019
Teil II: April bis Juni 2019
Teil IV: Oktober bis Dezember 2019
© Petra Hartmann