Jahresrückblick IV: Oktober bis Dezember 2019
Jahresrückblick
Vierter Teil meines Lese-Rückblicks auf das Jahr 2019. Es ist wieder viel Haskala-Literatur dabei, Bücher über Goslar, Phantastik, etwas über Luftfahrt-Pioniere. Viel Spaß beim Lesen!
Die anderen Quartale: Januar bis März, April bis Juni, Juli bis September
Oktober
Christoph Marzi: Charing Cross
Alexandra Kui: Der Nebelfelsen
Die Verfasserin hat vor meiner Zeit bei der Goslarschen Zeitung gearbeitet und im Buch den Redaktionsalltag geschildert und ein paar Kollegen abkonterfeit. Als mir eine Kollegin das erzählte, war klar, dass ich mir den Roman anschaffen musste. Wobei es nicht um die Goslar-Redaktion ging, in der ich sitze, sondern um eine Außenredaktion, die in dem fiktiven Harzort "Grauen" angesiedelt ist.
Das Buch hat eine sehr schöne, eingängige Sprache und einen guten Erzählfluss, und auch wenn ich nicht viel aus meiner aktuellen Umgebung wiedererkannte, kann ich mir doch vorstellen, dass sie die Kollegen gut getroffen hat. Es geht um eine neblige Klippe, von der sich immer mal wieder ein Selbstmörder hinabstürzt. Ein zwiespältiges Besitztum der Gemeinde Grauen. Denn einerseits will natürlich niemand Menschenleben in Gefahr bringen, doch andererseits lebt fast die gesamte Bevölkerung vom Tourismus, und die regelmäßigen Berichte über die unheimliche Sogwirkung, die von diesem nebligen Felsen ausgeht, erweisen sich als grandioser Besuchermagnet. Busladungen vor Touristen strömen regelmäßig nach Grauen, um den Grusel der Klippe hautnah zu spüren. Als die Heldin des Romans erfährt, dass sich ihre Freundin hier umgebracht haben soll, reist sie nach Grauen. Es geht nicht nur um Spurensuche. Die hochqualifizierte Starfotografin, deren Aufnahmen sonst in Hochglanzmagazinen abgedruckt werden, befindet sich offenbar in einer massiven Midlife-Crisis. Gerade hat sie ihrem Freund den Laufpass gegeben, und im Job kriselt es. Da kommt ihr das Angebot eines Grauener Zeitungsredakteurs, für ihn als Fotografin zu arbeiten, gerade recht. Zwischen Fotografin und Redakteur beginnt es zu knistern. Was eine kriminaltechnische Ermittlung hätte werden sollen, wird zur Liebesgeschichte. Aber dann erfährt die Frau doch noch, was an der Nebelklippe geschah.
Wie gesagt: Eine echt gut geschriebene Story. Einen halben Punkt Abzug gibts für den Etikettenschwindel: Es steht "Krimi" auf dem Buch. Dabei ist es eine waschechte Liebesgeschichte, in der am Rande auch gestorben wird. Ansonsten: Empfehlenswert, nicht nur für GZ-Redakteure.
Hans Baumann: Redleg. Der Piratenjunge im Schottenrock
Ein antiquarisches Buch, gefunden bei Amazon Marketplace. Redleg, der Titelheld, ist ein Junge aus Schottland, der stets einen Schottenrock trägt, auch im Winter. Weil die nackten Beine dann der Kälte und dem Wind ausgesetzt sind, frieren sie rot, daher der Name. Redleg ist Waisenkind und träumt eigentlich davon, eine Mühle zu besitzen. Aber dann wird er von Piraten gefangen und verschleppt. Fliehen kann der rotbeinige Schiffsjunge von dem Schiff nicht. Aber ein gleichfalls verschleppter Schiffsarzt gibt ihm einen Tipp: Der Weg nach draußen führt über die Karriereleiter. Nach und nach arbeitet sich der gewitzte Schottenjunge in der Hierarchie des Schiffs nach oben, wird Ausguck, Proviantpirat, Pulverfachmann, Kassenchef. Schließlich bringt er es bis zum Kapitän. Aber auch das ist nur ein weiterer Zwischenschritt auf seinem Weg zu seinem Lebensziel: Müller zu werden. Heiteres, amüsantes Kinderbuch, nett geschrieben. Hat mir Spaß gemacht. Wenn ich auch die Bemerkung im Klappentext, das Buch sei darum erst so spät fertig geworden, weil der Illustrator sich immer wieder halbtot gelacht hat, doch etwas übertrieben finde.
Gerd Bedszent: Im Auge des Chaac, Teil 1 und 2 (BunTES Abenteuer 23 und 24)
Mich hatte im vergangenen Jahr in der Anthologie "Heimkehr - Thüringen morgen und übermorgen" die Geschichte "Finklbergs Plan" von Gerd Bedszent sehr beeindruckt. Darum musste ich mir auf dem BuCon unbedingt die beiden TES-Hefte des Autors anschaffen. Wobei es nicht zwei Heftromane sind, sondern eine Story, die wegen ihres Umfangs auf zwei Hefte verteilt ist.
Der Ich-Erzähler ist derselbe Journalist wie in "Finklbergs Plan", zu dem dieser Roman gewissermaßen die Vorgeschichte bildet. Es geht um illegalen Handel mit Maya-Artefakten, um brandgefährliche Banditenbanden und skrupellose Kunsthändler, außerdem um eine junge indigene Widerstandskämpferin und ihren Kampf für den Erhalt ihrer Kultur und gegen den Ausverkauf archäologischer Schätze. Als die Banditen ein steinernes Relief einer bisher unbekannten Maya-Pyramide verscherbeln wollen, sind die junge Frau und der Journalist vor Ort und dokumentieren den Fall - eine todgefährliche Reportage ... Sehr spannend und gut geschrieben. Daumen hoch.
Bergrat Dr. Ing. Hans-Hermann von Scotti
Biografie eines für Goslar bedeutenden Menschen, der den Bergbau im Rammelsberg - und nicht nur dort - geprägt hat. Das Buch erschien als Jahresgabe des Fördervereins Weltkulturerbe Rammelsberg. Ich habe es für meine Zeitung gelesen, rezensiert und ziemlich böse verrissen. Ziemlich fragwürdig fand ich das Kapitel über von Scotti als Chef des Rammelsberges in der Nazizeit, über den Einsatz von Zwangsarbeitern in den Bergwerken und die Art, wie er im Zweiten Weltkrieg in eroberten Ländern kriegsnotwendige Rohstoffe requirierte. Im Artikel habe ich geschrieben:
"Erschütternd undistanziert schildert der Autor die Probleme bei der Beschaffung der Arbeitskräfte. 200.000 Jugoslawen waren als Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht worden. 'Dadurch war das Arbeitskräftereservoir in dieser Gegend eigentlich bereits erschöpft' (S.132), heißt es im Tonfall eines modernen Managers, der den Fachkräftemangel beklagt. Eichhorn erwähnt die 'Bereitstellung von 10.000 ungarischen Juden' (S.133). Man könnte fast Mitleid haben mit den Bergbau-Organisatoren, wenn es heißt: 'Die Inbetriebnahme der Werke, die an der Grenze zu Kroatien und Albanien lagen, wurde von Anfang an durch Sabotageakte der Partisanen erschwert. Trotz dieser starken Beeinträchtigungen schaffte es die Preußag, nahezu den gesamten deutschen Antimonbedarf zu decken.'
Beinahe zynisch klingt die Beschreibung, wie Deutschland lange versuchte, die Gruben und Hüttenbetriebe im jugoslawischen Bor zu erlangen: 'Trotzdem waren die französischen Eigentümer erst nach der Kapitulation Frankreichs bereit, ihre Aktien an deutsche Interessenten zu verkaufen', notiert Eichhorn (S. 130). Auch wenn er nachschiebt, dieser Verkauf sei nicht auf politischen Druck geschehen - ein bitterer Nachgeschmack bleibt."
Zum Thema Zwangsarbeiter:
"In einem Bericht aus dem Jahr 1942 heißt es: 'Nachdem jedoch eine Anzahl hartnäckiger Bummelanten der Geheimen Staatspolizei gemeldet und von dieser in ein Arbeitserziehungslager oder Konzentrationslager gebracht worden war, haben die pflichtwidrigen Arbeitsverhältnisse fast völlig aufgehört.' Was er selbst damals dachte, bleibt weitgehend außen vor." (...)
"Erst im Schlusswort stellt Eichhorn die Fragen, die sich anlässlich des NS-Kapitels dem Leser stellen. Was dachte der Bergrat? Was sagte sein Gewissen? Der Mann wurde nach dem Krieg bald entnazifiziert, war wieder in leitender Position im Bergbau tätig. Er starb erst 1966, eine kritische Aufarbeitung scheint es nicht gegeben zu haben. Eichhorn versucht, von Scottis Handeln aus soldatischer Tradition und preußischer Pflichterfüllung zu erklären. Im Prinzip sei er Technokrat gewesen. Es sei ihm um das Erfüllen von Aufgaben, die technische Abwicklung, das Funktionieren des Betriebs gegangen. Das klingt logisch. Doch hätte man sich gewünscht, dass der Autor in der Technokraten-Eigenschaft dem Forschungs-Objekt nicht gefolgt wäre."
Meine vollständige Rezension zum Buch findet ihr hier (allerdings hinter der Bezahlschranke). Wer sich für das Buch selbst interessiert, findet eine kostenlosen Download hier.
November
Manas. Dargestellt von Theodor Herzen. Erzählt von Samar Mussajew. Russische bearbeitet von Michail Rudow.
Den "Manas" wollte ich schon seit mindestens 20, wohl eher seit 30 Jahren lesen, aber bisher habe ich keine ordentliche Textausgabe die riesigen Epos gefunden (gibt es die überhaupt?).
Auch dies ist keine Ausgabe des Epentextes, sondern ein sehr schönes Kunstbuch. Es enthält die Illustrationen, die Theodor Herzen gemacht hat. Sehr beeindruckende Bilder in unterschiedlichen Techniken und aus unterschiedlichen Schaffensperioden, ein Lebenswerk. Dazu gibt es eine kurze Inhaltsangabe, jeweils auf Russisch und Deutsch, in der die einzelnen dargestellten Stationen der Geschichte kurz erläutert werden. Optisch grandios. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, einmal den kompletten Manas in einer deutschen Übersetzung zu lesen.
George Saunders: Fuchs 8
Ein liebenswürdiges, herzerwärmendes Büchlein über einen Fuchs, der die Sprache der Menschen so wunderschön findet, dass er sie lernt und dann auch zu schreiben beginnt. Fuchs 8, wie der kleine Held dieser Geschichte heißt, hat nicht nur einen freundlichen, naiven Blick auf alles, was die Menschen tun, sondern er hat auch eine Rechtschreibung, die man geradezu als rührend bezeichnen kann. Getreu dem Motto: "Schreib, was du hörst" setzt er seine Gedanken in Buchstaben um. Er erzählt von seinen ersten Begegnungen mit Menschen, vom Zauber ihrer Sprache, die in seine Ohren wie eine wunderschöne Musik klingt. Aber auch von dem schweren Leid, das die Menschen über die Fuchsfamilie gebracht haben, als sie den Wald zerstörten, um ein Einkaufszentrum zu bauen. In der Sprache von Fuchs 8 klingt das so:
"Wenn ir oich so schlecht fülen wollt wi di Fükse jezz dann 1) Wochen lang kaum was fressen, 2) seen, wi vile Froinde, du auch, jeden Tag dünner und dünner werden, 3) seen, wi merere von deinen gelibten Froinden immer dünner werden, bis si sterben."
Fuchs 8 fasst sich ein Herz: Zusammen mit seinem Freund Fuchs 7 schleicht er sich in die "Mall", um etwas zu essen zu finden. Beide sind begeistert. Doch dann passiert das Schreckliche, Undenkbare: Die von Fuchs 8 geliebten und verehrten Menschen entpuppen sich als blutrünstige Mörder und bringen seinen Freund Fuchs 7 um. Fuchs 8 kann fliehen. Lange braucht er, um seinen Schock zu überwinden. Aber dann schreibt er den Menschen einen Brief und fragt sie, warum sie so böse und gemein sind und warum sein Freund sterben musste.
Ganz große kleine Literatur. Wer an diesen Fuchs 8 nicht sein Herz verliert, der hat keines zu verlieren.
Maja Nielsen: Abenteuer! Pioniere der Lüfte
Ich liebe ja Maja Nielsens Abenteuer-Reihe. Bisher habe ich mir die einzelnen Teile immer als Hörbücher beziehungsweise Hörspiele im Auto gegönnt. Dieses hier war Urlaubslektüre und obendrein als Hintergrundmaterial für einen Flieger-Roman bestimmt, da war dann mal die Print-Ausgabe fällig. Erzählt wird darin die Geschichte der Brüder Wright und ihres Flyers. Sehr lehrreich und pädagogisch gut und lebendig aufgebaut. Man kommt gut in die Gedankenwelt der Brüder und die technischen Fragen hinein, und durch die großzügige Bebilderung wird das Ganze auch sehr fasslich. Wie immer bei Maja Nielsen ist auch in diesem Abenteuer die Historie nicht abgeschlossen. Die Autorin erzählt auch über einen aktuellen Pionier der Luftfahrt. Sie stellt den Schweizer Bertrand Piccard vor, der über energiesparende Flugmaschinen nachdenkt und der mit seiner solarbetriebenen Flugmaschine "Solar Impulse" die Erde umrundete. Sehr beeindruckend.
Sabine Fitz: Die bedeutendsten Pioniere der Lüfte
Noch ein Buch über Luftfahrt-Pioniere, diesmal nicht speziell über die Wrights, sondern in jeweils ca. achtseitigen Kapiteln über sehr unterschiedliche Flieger und Konstrukteure. Darunter sind Otto Lilienthal und Graf Zeppelin, aber auch der Schneider von Ulm und Leonardo da Vinci. Es geht um Charles Lindbergh, die Brüder Montgolfier, um Fockes Hubschrauber, um die Rekordpilotin Amelia Earhart und die Langstreckenfliegerin Amy Johnson. Das Ganze reich bebildert, optisch sehr gut und übersichtlich aufgemacht, mit Skizzen, Steckbriefen und mit einem kleinen pädagogisch wertvollen Multiple-Choice-Test nach jedem Kapitel. Sehr lehrreich, ich werde es gern wieder zu Rate ziehen für meinen Roman.
Andreas Zwengel: Panoptikum
Eine Sammlung mit zwölf Kurzgeschichten des Autors. Die Storys sind, bis auf zwei Ausnahmen, bereits in Anthologien veröffentlicht worden und entstammen den unterschiedlichsten Subgenres der Phantastik - von Horror über Science-Fiction zu klassischen Vampirgeschichten und Steampunk. Einen Teil davon kannte ich bereits aus anderen Sammlungen. Mein Favorit war die Steampunk-Geschichte "Volldampf", in der der "eiserne" Kanzler in einem Zug auf den magischen Schutzschild Prags zurast ... Sehr schön.
Antonia Michaelis: Das Institut der letzten Wünsche
Zauberhaft-liebenswürdiger Roman über zwei Frauen, die mit ihrem Unternehmen Sterbenden ihre letzten Herzenswünsche erfüllen wollen. Wer die Dienste des Instituts in Anspruch nehmen will, darf jeden, auch den absurdesten Wunsch aussprechen, und die beiden Frauen setzen alles daran, ihn zu erfüllen. Bedingung: Der Kunde muss eine ärztliche Bescheinigung vorlegen, dass die voraussichtliche Lebenserwartung bei maximal sechs Monaten liegt. Ein trauriger Ausgangspunkt. Aber gleichzeitig auch die Basis für eine ungeheuer leichte, befreiende Geschichte. Denn wenn der Tod ersteinmal so eindeutig an die Tür klopft, wird der Blick klar für das Wesentliche, das wirklich Wichtige im Leben. Und die Wunscherfüllerinnen Mathilde und Ingeborg sorgen dafür, dass sich eine gewisse Leichtigkeit und befreiende, fast heitere Atmosphäre ausbreitet. Für viele Kunden ist dieser letzte Wunsch eine Art Wiedergutmachung, ein Abschluss einer uralten noch offenen Rechnung, die letzte Aufgabe, die es noch zu erledigen gilt, bevor man sich leicht und frei auf den letzten Weg macht. Also eine Art Sterbebegleitung, nur mit Phantasie und einer ganzen Menge Chaos, das die beiden Frauen anrichten, um die Wünsche zu erfüllen.
Schon der Auftakt zum Roman ist ein typischer "Michaelis": Eine absolut unlogische, verblüffende Situation, kreatives Chaos als Institutsalltag: Mathilda versucht, ein Pony in eine U-Bahn zu bekommen. Eine ältere Dame hatte sich nämlich gewünscht, nur einmal im schneeweißen Kleid und mit schneeweißem Sonnenschirm durch den Stadtpark zu reiten. Und der teure Pferdetransporter ist im Büdget einfach nicht mehr drin. Dass es tausendmal schwerer war, einen schneeweißen Regenschirm aufzutreiben, als ein Pony in eine U-Bahn zu bugsieren, hat Mathilde dabei ohnehin gelernt. Als Schirm kaufte sie schließlich ein schwarzes Modell mit Totenköpfen und bleichte es aus.
Aber wie schaffen es Mathilda und Ingeborg, einer sterbenden alten Dame ihren Herzenswunsch zu erfüllen und sie noch einmal ein Konzert der Callas erleben zu lassen? Und was tut man, wenn sich ein älterer Herr danach sehnt, noch einmal einen Spielabend in einer Studenten-WG zu erleben, und alle Studenten absagen, weil sie sich davor fürchten, in ihrem zu Hause plötzlich einen toten Opa herumliegen zu haben? Und was passiert, wenn sich die Wunscherfüllerin in einen Kunden verliebt? Genau das geschieht nämlich Mathilde mit einem Krebspatienten, der auf der Suche nach seiner Jugendliebe ist, die ihn damals, als sie schwanger wurde, verlassen hat. Eine eigenartige platonisch-poetische Liebe keimt auf, und beide wissen, dass sie keine Zeit und keine gemeinsame Zukunft mehr haben ... Einfach ein zauberhaftes, herzerwärmendes Buch mit mehreren überraschenden Wendungen und erfüllt von einer großen Liebe zum Leben. Stellenweise absurd, aber immer irgendwie den Naturgesetzen und einer eigenen Logik folgend, schräg, liebenswürdig, schön.
Das Vermächtnis der Astronautengötter
Science-Fiction-Anthologie, die alten Legenden über Wesen nachgeht, die vom Himmel herabgestiegen sind. Die alten Völker nannten sie Götter, aber was, wenn es eigentlich Astronauten waren? Besucher von fernen Planeten oder aus der Zukunft, die den menschlichen Kulturen vielleicht sogar den entscheidenden Kick gaben und deren Entwicklung vorantrieben? Die Autoren erzählen von Atlantis, Ägypten oder biblischen Propheten, von Mayas und Inkas, Hippies, von Universitäten und Weltraummüll. Es sind sehr schöne und interessante Geschichten dabei, allerdings wiederholen sich die Situationen und Begegnungen auch manchmal, sodass eine gewisse Monotonie entsteht. Für sich einzeln betrachtet sind die Storys aber auf jeden Fall gut gearbeitet und spannend.
Andreas Kennecke: Isaac Euchel. Architekt der Haskala
Isaac Euchel war vermutlich neben Moses Mendelssohn der bedeutendste philosophische Kopf der Haskala und neben David Friedländer einer der größten "Macher" der jüdischen Aufklärung. Insofern ist die Bezeichnung als "Architekt" der Haskala, wie er im Buchtitel genannt wird, recht passend gewählt. Euchel stammt aus Kopenhagen (wie Naftali Herz Wessely), kam als Hauslehrer der Familie Friedländer nach Königsberg in die Stadt Kants, studierte an der dortigen Universität, eben bei Kant, und wurde, eine geradezu unerhörte Angelegenheit, von Kant als Dozent für orientalische Sprachen vorgeschlagen. Trotz der prominenten Unterstützung - ein Jude als Universitätsdozent, das war damals dann doch unmöglich. Und am Ende musste Kant selbst, der inzwischen Universitätschef geworden war, seinen eigenen Zögling aufgrund der Universitätsstatuten ablehnen. Immerhin: Es war ein Anfang. Und Euchel bekam wenigstens eine Stelle als Dolmetscher. Dennoch, schade.
Euchel hat sich daraufhin noch stärker auf seine Arbeit für hebräische Literatur konzentriert. Bekannt wurde er als Übersetzer des jüdischen Gebetbuchs, als engagierter Kämpfer für eine jüdische Freischule in Königsberg nach Berliner Vorbild, vor allem aber als Mitbegründer der Gesellschaft der hebräischen Literaturfreunde. Deren große Leistung war die Gründung des "Me'assef", des "Sammlers", der ersten modernen hebräischen Zeitschrift. Hierfür steuerte Euchel zahlreiche Artikel bei und war wie Wessely bemüht, eine neue hebräische Hoch- und Literatursprache zu schaffen. Unter anderem veröffentlichte er hier Reisebriefe an einen seiner Schüler, für die er eine ganze Menge neuer hebräischer Wörter erfinden und konstruieren musste, denn viele Sachen, die man bei Reisen durch das Europa des 19. Jahrhunderts unterwegs sieht, kommen ja im biblischen Hebräisch nicht vor ... Weitere Themen waren Philosophie (zum Beispiel Kants Kritik der reinen Vernunft) oder die Diskussion über die frühe Beerdigung bei Juden (hierzu hatte ja auch Mendelssohn Stellung bezogen). Aber auch Literatur: Euchel schrieb den ersten Briefroman der hebräischen Literatur.
Später war Euchel Leiter orientalischen Buchdruckerei in Berlin (ebenfalls eine Gründung der Maskilim), tat sich als Mendelssohn-Biograph hervor und veröffentlichte in seinen späten Jahren unter dem Titel "Reb Henoch" ein polyglottes satirisches Theaterstück, auch ein resignierter Abgesang auf die Haskala. Denn Euchel musste auch miterleben, wie viele Projekte scheiterten, wie der Zeitschrift nach und nach die Abonnenten ausblieben und wie viele Juden sich lieber der deutschen Sprache zuwandten als dem modernen Haskala-Hebräisch. Aber ein Scheitern auf hohem Niveau und ein faszinierender und engagierter Vorkämpfer seiner Bewegung. Lesenswert.
Marburg-Award 2018: Ein fataler Fehler!
Die Beiträge des Wettbewerbs in zufälliger Reihenfolge und in liebevoll aufgemachter Taschenbuch-Ausgabe, limitiert auf die Auflage von 50 Exemplaren und reich bebildert. Enthält 40 Geschichten zum Thema "Ein fataler Fehler!", vertreten sind fast alle Genres. SF, Fantasy, Horror, Dystopien, Märchenhaftes, sogar ein Western und eine Geschichte über den Verfasser von fiesen, kleingedruckten AGBs. Meine absolute Lieblingsgeschichte ist "Albenheim" von Iver Niklas Schwarz. Die Geschichte handelt von einem Wissenschaftler, dessen Frau bei einer gemeinsamen Expedition in einer Höhle verschüttet wurde und der nun versucht, Hilfe zu finden. Aber der Vertreter der Uni Hannover, der an dem unheimlichen Ort seine Messungen vornimmt, will ihm nicht glauben, dass er er selbst ist. Als beide sich doch noch auf die Suche machen, entdecken sie etwas Schockierendes ... Und sonst? Es ist eine besonders vielseitige Sammlung. Es geht um Druckfehler, Programmierfehler, falsch ausgesprochene Zaubersprüche und künstliche Intelligenzen, denen man zu viel Freiheit ließ. Um Therapien für Vampire und Fehleinschätzung gefährlicher Kunden. Um kleine Unachtsamkeiten, die zum Untergang ganzer Zivilisationen führen. Kurzum: Die ganze Palette der Fehlerkultur. Nur das Buch zu kaufen, das war eindeutig kein Fehler.
Herbstlande II - Verklingende Farben
Fabienne Siegmund: Das Herz der Nacht
Wieder ein echter Siegmund: Melancholisch, magisch, traurigschön und einfach zauberhaft. Erzählt wird die Geschichte des nicht besonders talentierten Zauberers Mateo, dessen Lebensgefährtin und Showpartnerin Anisa plötzlich verschwindet. Die Suche bleibt ergebnislos, auch die Polizei kann nicht helfen. Es stellt sich aber heraus, dass noch mehrere andere Künstler verschwunden sind. Auf seiner Suche gelangt der Zauberer schließlich in einen seltsamen Zirkus. Hier trifft er auch seine Geliebte wieder, aber sie kann sich nicht mehr an ihn erinnern und ist jetzt mit einem Feuerspeier zusammen. Mateo lässt sich auf diesen seltsamen magischen Zirkus ein und nimmt eine Anstellung an. Er ist begeistert. In dieser Manege gelingt jeder, ausnahmslos jedert Trick, fast meint er, er könne wirklich zaubern. Doch nach und nach erkennt der Zauberer die Schatten hinter der heilen Glitzerwelt des idealen Zirkus. Alle Artisten sind Gefangene ihrer eigenen Kunst, unfrei und eingekauft mit den besonderen Fähigkeiten und der perfekten Show, die diese Manege möglich macht. Es führt kein Weg aus diesem Zirkus heraus. Es sei denn, Mateo bricht den Zauber der enttäuschten Liebe, der diesen Zirkus einst geschaffen hat. Dazu muss er allerdings den Widerstand der anderen Artisten überwinden. Denn für sie ist die schöne Scheinwelt ihr einziges zu Hause und eine Droge, auf die sie nicht verzichten können. Ein modernes, sehr weises Märchen über die wahres Glück und Drogen, die nur scheinbar glücklich, in Wirklichkeit aber leer machen. Über Weltflucht und den Weg zurück. Hat mir gefallen.
Tausendundeine Nacht: Das glückliche Ende. Übersetzt von Claudia Ott
Die Ausgabe wurde vor drei Jahren als Sensation gefeiert, und seitdem besitze ich das Buch auch schon, hatte nur nie genug Muße, es zu lesen. Es handelt sich um eine Übersetzung eines uralten Manuskripts, das in einer Bibliothek in Zentralanatolien lange ungesichtet und verräumt lag. Eine Ausgabe mit dem lange verschollenen Ende des Zyklus der Erzählungen aus 1001 Nacht.
Also, natürlich weiß jeder, dass Scheherazade - im vorliegenden Buch Schahrasad - sich durch ihre Erzählkunst retten konnte und den Sultan überzeugte, seine Ehefrauen nicht mehr nach der Hochzeitsnacht hinzurichten. Aber hier ist eben ausführlich das Ende (und der Weg dorthin) erzählt.
Das Buch enthält die Geschichten der letzten 125 Nächte. Außerdem wird die Rahmenhandlung weiter vorangetrieben. Das ist meist etwas stereotyp und formelhaft, die Erzählerin schließt vor dem Einschlafen immer wieder mit dem Versprechen, in der nächsten Nacht noch toller und amüsanter und spannender zu erzählen, und am nächsten Abend fordert ihre Schwester sie auf, doch mit ihrer Geschichte fortzufahren.
Das Ganze ist recht verschlungen, es passiert immer wieder, dass innerhalb einer Geschichte eine oder mehrere Personen ihrerseits wieder Geschichten erzählen. in denen dann auf einer weiteren Unterebene womöglich noch andere Märchen vorgetragen werden. In diesen letzten 125 Nächten kommen nicht die Gestalten vor, die man sonst mit 1001 Nacht verbindet. Sindbad, Ali Baba, Aladin bleiben außen vor. Es geht sogar ohne Magie ab, es geht um Schwänke, Diebe, romantische und erotische Begegnungen, Schelme und Gelehrte, Verheiratungen, Anekdoten, Tierfabeln und Sammlungen von Sinnsprüchen und Weisheiten.
Interessant ist dabei auch die Rahmenhandlung. Denn es wird deutlich gezeigt, wie der Sultan auf die Geschichten reagiert, wie er sich Gedanken über das Gehörte macht, manchmal in Selbstgesprächen kommentiert, dass er seine eigene Situation in den Erzählungen wiedererkennt und nach und nach zu der Erkenntnis kommt, dass sein Umgang mit seinen Ehefrauen, sprich: die ständigen Hinrichtungen, sehr ungerecht sind. Der Leser erlebt im Verlauf der Nächte den Wandel und den Erkenntnisprozess des Herrschers mit. Es ist nicht so, dass Sheherazade ihn am Ende der 1001. Nacht mit seinem Verbrechen konfrontiert, sondern der Mann kommt, behutsam von ihr angeleitet, selbst drauf. Bravo.
Inhaltlich muss ich sagen, dass ich die orientalischen Märchen nicht so mag. Ich habe lieber die klar strukturierten klassischen GrÃmm- und Andersen-Märchen mit perfekter, novellenartiger Handlungskurve. Und nicht dieses unstrukturierte Kuddelmuddel von immer neuen Handlungsfäden, die ins Kraut schießen, wirr durcheinander laufen und die, wenn das Publikum wegsackt, mal eben noch ein neues, spannenderes Fass aufmachen müssen. Die ständigen Unterbrechungen, wenn die Erzählerin und ihr Publikum einschlafen, nerven. Zumal sie manchmal auch bereits nach "Kurznächten" erfolgen, in denen die Frau nur zwei oder drei Sätze neu zu ihrer Geschichte hinzufügt und sich dann wieder schlafen legt. Diese ständigen neuen Handlungsstränge ermüden, und die Märchen gehen gar nicht weiter. Wenn ich der Sultan gewesen wäre, ich hätte ziemlich schnell losgeblafft: "Komm endlich zum Punkt, Sheherazade!"
Wie gut die Übersetzung geworden ist, kann ich nicht beurteilen. Man merkt aber, dass die Übersetzerin und Herausgeberin eine Menge davon versteht. Im Anhang schreibt sie vieles zum Hintergrund, über das Manuskript und die Tradition der Sammlung. Das hat mir sehr gefallen, wie auch die Aufmachung des Buchs. Ein gediegenes Stück Buchkunst und Literaturwissenschaft. Nur, dass die Märchen nicht so ganz meine Welt sind.
Verfluchte Mahnmale und Gedenkstätten
Düstere Anthologie mit Horror-Kurzgeschichten. Es sind ein paar sehr schöne Stücke darunter. Wobei es nur in den wenigsten Fällen tatsächlich um Mahnmale oder Gedenkstätten geht, oft sind es auch "nur" Gräber oder verfluchte Orte oder Schauplätze eines Unglücks, ohne dass jemand da groß Erinnerungskultur betrieben und eine Erinnerungstafel aufgestellt hätte. Die Sammlung enthält ausnahmslos gute Geschichten. Ich habe lange keine Anthologie gelesen, bei der ich wirklich alle Beiträge gemocht habe. Aber das hier ist wirklich ein Sonderfall. Sehr schön in der Komposition, eine gelungene, gut durchgehaltene Spannung und ein durchgehend hohes Niveau. Grusel, der wirklich zu empfehlen ist.
Antonia Michaelis: Die Allee der verbotenen Fragen
Und noch ein Buch von einer Lieblingsautorin. Kann die Frau eigentlich auch schlechte Bücher schreiben? Vermutlich nicht.
Es ist eine Art Liebesroman, allerdings mit einer doppelt schrägen Ausgangssituation. Johann Fin Paul, ein junger Mann aus England, kommt nach Deutschland, um sich die Heimat seiner Eltern anzusehen. Plötzlich steht er vor einem Grabstein, auf dem sein Name und sein Geburtsdatum zu lesen sind. Nur, dass dieser Johann Fin Paul offenbar bereits am Tag seiner Geburt gestorben ist. Während er noch verdutzt dasteht, kommt der örtliche Pfarrer auf ihn zu und händigt ihm einen Brief und einen Koffer aus. Und für Johann Fin Paul, den Lebendigen, beginnt eine seltsame, fast unwirkliche Suche nach einem anderen Fin Paul, der ihm offenbar sehr ähnlich sah.
Die zweite Hauptfigur ist weiblich, heißt Elena oder Akelei, ist schon im mittleren Alter, nicht glücklich, aber sattmachend verheiratet, und hat gerade ein lebendiges Huhn in ihre Einkaufstasche gesetzt, das sie für ihren Mann, der aus Überzeugung nur Hühner ist, die er selbst geschlachtet hat, abholen sollte.
Akelei ist vollkommen erschüttert, als sie den jungen Johann Fin Paul entdeckt. Er sieht ihrer Jugendliebe, Fin Paul, zum Verwechseln ähnlich. Die gleichen einzigartigen türkisfarben Augen, das gleiche Gesicht, die gleichen roten Haare. Und plötzlich gibt es für sie nur eine einzige Option: Diesem zweiten Fin Paul zu folgen und herauszubringen, wer er ist und wohin er geht. Sie lässt ihr altes Leben, ihren Mann, ihr zu Hause vollkommen hinter sich und folgt dem Jungen mit den Türkisaugen quer durch die Republik, nach Berlin, München, Hamburg, ohne Gepäck, nur mit einem Huhn als Begleiter. Eine absolut irrsinnige Kombination, aber das ist so rasant und zauberhaft erzählt, man muss einfach immer weiter lesen und beiden Helden, die erst sehr spät überhaupt mit einander reden, bei der Aufklärung eines schrecklichen Familiengeheimnisses folgen. Ja, die Geschichte ist konstruiert und absolut unwahrscheinlich. Aber genau das sind griechische Tragödien auch. Und das hier ist tragisch. Und doch einfach zauberhaft.
William Hiscott: Saul Ascher. Berliner Aufklärer
Eine Dissertation mit tragischem HIntergrund. Denn der Doktorand verstarb während der Abfassung. So sind es "nur" 800 Seiten geworden, das letzte Kapitel - über Aschers "Germanomanie" fehlt, dafür gibt es einen Lexikoneintrag, den der Verfasser über das Buch veröffentlicht hat. Schade. Aber auch so eine ganze Menge Lesestoff.
Saul Ascher war mir bisher nur aufgrund von zwei Reaktionen auf seine Werke ein Begriff. Zum einen durch Heines "Harzreise" in der er auf geniale und unvergessliche Weise als "Vernunftdoktor" dargestellt wird, der als Gespenst durch die Träume des Harzwanderers geistert und ihm dabei mit unwiderlegbarer kantianischer vernünftig-logischer Argumentation beweist, dass es keine Gespenster gibt.
Das zweite war, dass seine "Germanomanie" von Studenten als "undeutsch" auf dem Wartburgfest verbrannt wurde. Rechtslastiges Gesocks hat schon immer gern Bücher verbrannt. Die "Germanomanie" und die danach erschienene Schrift "Das Wartbugfest" gab es in der Germanisten-Bibliothek in Hannover als Kopiervorlage. Ich las sie im zweiten Halbjahr 1995 als Vorbereitung für meine mündliche Prüfung über das Hambacher Fest, für das ich eben auch einen Vergleich zum Wartburgfest ziehen wollte. Meine beiden fotokopierten Exemplare der Ascher-Bücher habe ich noch immer.
Ascher war Vertreter der "dritten Generation" der Haskala. Er kam, wie viele vor ihm, aus der Philosophie, hat sich dann aber vorwiegend als Schriftsteller hervorgetan. Dabei war er einer der ersten "Privatgelehrten". Es ist bezeichnend für diese dritte Generation, dass Ascher sich weniger als jüdischer Schriftsteller sah, der sich mit spezifisch jüdischen Themen auseinandersetzte. Vielmehr sah er sich als deutscher Literat und schrieb philosophische, politische und belletristische Texte für alle Leser. Tragisch, dass in dieser Zeit der Antisemitismus erfunden wurde. Als Juden noch "nur" aus religiösen Gründen gehasst wurden, ließ man sich halt als letzte Notlösung taufen und hatte die gleichen Rechte wie die christlichen Nachbarn. Aber wer aus "rassischen" Gründen verfolgt wird, dem hilft auch keine Taufe.
Hiscotts Dissertations-Fragment schlägt einen weiten Bogen und biete ein großzügiges Panorama der Haskala. Das heißt, dem Leser wird ein umfangreicher Überblick über die Bewegung geboten, und man erfährt so sehr viel über den Gesamtzusammenhang, in dem Aschers Werk steht. Die Texte Aschers selbst werden mit der Methode des "Close Reading" vorgestellt, das heißt, dass der Autor sich sehr eng am Text entlanghangelt, ihn wiedergibt und detailliert erläutert. Auch wer noch nie eine Zeile von Ascher gelesen hat und nicht viel über die Haskala weiß, wird hier umfassend in Kenntnis gesetzt und kann auch ohne Vorkenntnisse gut folgen. Sehr akribisch wurden auch die Reaktionen von Zeitgenossen und die Antworten und Rezensionen aufgespürt und gesammelt.
Gefallen hat mir die unverkrampfte und unverkopfte Sprache Hiscotts. Der Verfasser war Amerikaner, schrieb seine Dissertation aber in Berlin und auf Deutsch, ein sehr frisches Deutsch, das nicht vom deutschen Wissenschafts-Imponiergehabe der Universitäten verdorben wurde. So schreibt er, die Streitkultur der Aufklärung, speziell in Berlin, sei "zur ersten Massenprügelei der Philosophiegeschichte seit der Antike" geworden oder notiert anlässlich der Umstrukturierungen nach Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I.: "Die Intelligenz im Beamtenapparat wurde maßgeblich verkleinert".
Fazit: Trotz des Fragmentcharakters eine sehr umfangreiche und ausführliche Arbeit. Absolutes Standardwerk.
Vikings of the Galaxy
Raufen, saufen, plündern, auf Abenteuerfahrt aufbrechen und unbedingt im Kampf sterben, sonst wird es nach dem Tode nichts mit der Aufnahme ins Wikingerparadies Walhall. Passt das zusammen mit dem Weltraum? Doch, irgendwie schon ... Wenn man genug Fässer Met intus hat und Spaß an der etwas schrägeren Art humorvoller Literatur. Der Leseratten-Verlag hat da offenbar Mächte heraufbeschworen, denen kein Zwerchfell gewachsen ist, jedenfalls haben es diese rotbärtigen Kerle und durchsetzungsstarken Walküren ganz schön in sich. Ob durch irgendwelche Dimensionslöcher oder Zeitreisemaschinen in den Weltraum versetzt oder ob sie einfach schon immer darin unterwegs waren, prügeln und saufen sich die Wikinger die Milchstraße entlang. Und beim Lesen empfiehlt sich, ebenfalls das Trinkhorn zur Hand zu nehmen. SkÃ¥l.
Juri Rytchëu: Gold der Tundra
Ein Roman, der auf der asiatischen Seite der Beringstraße im Land der Tschuktschen spielt. Es geht um eine Kooperation mit den USA, ein Projekt zur Walbeobachtung. Außerdem möchte der amerikanische Besucher mit tschuktschischen Wurzeln auch sein familiäres Erbe finden und wenn möglich mitnehmen. "Erbe" ist in diesem Fall durchaus wörtlich zu versehen. Denn sei Vorfahr besaß, der familiären Überlieferung nach, mehrere große schwere Goldklumpen, die er mit Kies überklebte und zur Befestigung seiner Jaranga (tschuktschisches Zelt) benutzte. Vorsichtiges Nachfragen ergibt, dass die Zeltsteine später als Grundsteine für eine Bäckerei benutzt wurden, die aber längst marode ist und nicht mehr produziert. Alle sind erstaunt, als die selbstlosen Amerikaner ihnen eine neue Bäckerei stiften und die alte abreißen wollen.
Dazu eine Liebesgeschichte, ein Blick in die Historie Tschukotkas, die negative soziale Entwicklung durch die sozialistische Umerziehung, die Alkoholprobleme. Und immer wieder werden Bodenschätze wie Öl oder Gold von den Einwohnern gezielt verborgen, um bloß keine Ausbeutungskonzerne auf das Land aufmerksam zu machen ...
Sehr schöner, auch etwas harter Roman. Aber ich habe schon viele bessere von Rytchëu gelesen.
Judith Swaddling: Die Olympischen Spiele der Antike (Reclam)
Gute Übersichtsdarstellung mit Infos zur Geschichte, zum Kult, zu den einzelnen Disziplinen und zu bekannten und erfolgreichen Athleten. Neu für mich war, dass es auch für Frauen Wettbewerbe gab, die Heraia zu Ehren der Götterkönigin Hera. Und dass es auch Wettbewerbe für Herolde und Trompeter gab. Man erfährt etwas über die Ehren und materiellen Vorteile, die Olympioniken hatten. Und auch über Fälle von Bestechung oder anders gearteter Kampfrichter-Beeinflussung wird berichtet. Dazu Anekdotisches. Und ein paar Vergleiche mit den heutigen Spielen. Sehr schönes, volles, informatives Buch, hat mir gefallen.
Pablo De Santis: Voltaires Kalligraph
Einer der Lieblingsautoren, denen ich mich in meinem Lese-Urlaub auf Helgoland gewidmet habe. Diesmal geht De Santis auf in der Liebe zur Kalligraphie und erzählt die Geschichte des Schreibers Dalessius, der im Dienste Voltaires den Mord an Marc Antoine Calas unrersuchen soll.
Verdächtig ist die gesamte Familie, vor allem Vater Jean, der schließlich hingerichtet wird. Als Motiv wird vermutet, dass der Sohn einer protestantischen Familie zum Katholizismus übertreten wollte.
De Santis verknüpft geschickt den historischen "Fall Calas" und den von Voltaire aufgeklärten Justizmord am Vater des Getöteten mit philosophisch-ästhetischen Gedanken über das Wesen des Schreibens und die Schönheit bestimmter Schriften. Das ganze vor dem Hintergrund einer an E.T.A. Hoffmann erinnernde Geschichte um "Automaten", also künstliche Menschen. Sehr düster und ein würdiger Nachfolger der schwarzen Romantik ist die in den Roman integrierte Erzählung über einen künstlichen Mönch, der es später zu den höchsten Würden bringt. Aber ist die Geschichte wirklich nur literarisch? Der Kalligraph, der nicht nur mit dem Henker de Vaters Calas, sondern auch mit einem genialen und verschlossenen Automatenbauer und dessen schöner Tochter zu Tun bekommt, hat jedenfalls einige sehr unheimliche Begegnungen, bevor er beginnt, die Wahrheit aufzuschreiben.
Erneut ein hintergründiger magisch-realistischer Roman von De Santis, der einen ungeheuren Sog entwickelt und den Leser in ein düsteres Gedankensystem hineinzieht. Der Mann versteht es einfach, historische Überlieferung und den kleinen irren Schuss Wahnsystem miteinander zu kombinieren. Sehr schön, allerdings seine anderen Romane fand ich noch besser.
Horst-Günther Lange: Geschichte der Juden in Goslar
Als ich nach Goslar kam, war eine der ersten Stadtführungen, die ich mitmachte, der Rundgang "Jüdisches Leben in Goslar". Die Stadtführerin hat mir zwei Bücher zum Thema genannt, die ich mir inzwischen antiquarisch beschaffen konnte und im Urlaub gelesen habe. Das oben genannte Buch ist eine Geschichte der Goslarer Juden vom Mittelalter bis zum Jahr 1933, das andere handelt von der Zeit zwischen 1933 und 1945.
Die jüdische Gemeinde in Goslar war immer recht klein, schon im Spätmittelalter bzw. der frühen Neuzeit gab es Probleme, einen Minjan (zehn religionsmündige Männer) zusammen zu bekommen, um einen jüdischen Gottesdienst abzuhalten. Es waren zumeist Kaufleute und kleine Händler. Ein Ghetto oder eine bestimmte Straße, in der die Juden leben mussten, gab es in Goslar nie, sie lebten also mitten unter ihren christlichen Nachbarn.
Dem Buch zufolge gab es relativ wenige Reibereien zwischen den städtischen Vertretern und den Juden, Konfliktpotential und Spannungen gab es aber immer wieder mit christlichen Geschäftsleuten, die ihre jüdischen Konkurrenten ausschalten oder zumindest kleinhalten wollten. An besonderen Ereignissen berichtete Lange unter anderem von der Flucht aller Goslarer Juden aus der Stadt im Jahr 1414: Zum Laubhüttenfest im September waren die Goslarer Juden vollständig nach Braunschweig gezogen, da die Gemeinde, wie gesagt, sehr klein war. Es war üblich, das Fest in Braunschweg zu feiern, und so zogen sie wie jedes Jahr hinüber zur Nachbarstadt, nachdem sie sich, ebenfalls wie üblich, der Stadt gegenüber verpflichtet hatten, nach dem Fest zurückzukehren. Allerdings kehrten sie nicht zurück. Die Ursachen liegen im Dunkel. Lange deutet zwar an, dass es sich um eine Steuerflucht gehandelt haben könnte, ist sich aber auch nicht sicher. Und nur wegen der Steuer sein Haus und seinen gesamten Besitz zurücklassen und mit der kompletten Gemeinde wegziehen? Es bleibt rätselhaft. Jedenfalls gab es einigen Kampf nach dieser Flucht. Die Goslarer konfiszierten das gesamte zurückgelassene Eigentum, die Juden ließen dafür jeden Goslarer Schuldner, der sich nach Braunschweig begab, festsetzen und trieben ihre Schulden ein. Erst 123 Jahre später ließ sich erneut ein Jude in Goslar nieder.
Im Gedächtnis ist mir auch noch der Eklat um eine "jüdische Schlittenfahrt", bei der einige junge Juden den Zorn der Christen auf sich zogen, als sie zur Weihnachtszeit rodelten. Und sehr spannend fand ich den Fall einer geraubten KInderleiche vom jüdischen Friedhof: Ein Medizinstudent grub das Kind heimlich aus, um anatomische Studien an der Leiche zu unternehmen. Das wirklich Besondere an dem Fall ist, dass der Vater des Kindes, als die Tat bekannt wurde, vor Gericht ziehen konnte und Recht bekam: Der Student musste ihm die Überreste des Kindes zurückerstatten, und das Kind wurde erneut bestattet.
Was ich auch nicht wusste, das ist, dass Christian von Dohm, bekannt geworden durch seine Schrift "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden", zwei Jahre lang als preußischer Verwaltungsbeamter wirkte. Allerdings war er für die Juden, die sich mit einer Eingabe an ihn wandten, wohl kein großer Helfer, er war hauptsächlich mit Reform und Anpassung der Goslarer Verwaltung an preußische Verhältnisse beschäftigt.
Werner Koch: Diesseits von Golgatha
Ich bin Fan von Werner Koch, seit ich seine See-Trilogie vom Bodensee las. Im vorliegenden Buch geht es erneut um einen See und seine Menschen, nämlich um Menschen zur Zeit Jesu am See Genezareth. Darunter ist Judas, der nach Jerusalem geht, um sich einer Terroristengruppe anzuschließen. Aber auch Maria Magdalena und Barrabas. Einfache Leute, viele Fischer, ein reicher Wirt, Hirten und Hirtinnen. Das Ganze versucht nicht, ein historischer Roman zu sein. Es geht um sehr weltliche und gegenwärtige Gedanken, die Frage nach Gerechtigkeit, Verteilung von Besitz, Revolte der jungen Generation, am Rande eben auch um Jesus. Kurze philosophisch-aphoristische Kapitel, in der jeweils unterschiedliche Charaktere ihre Weltsicht darlegen. Am Ende ist es Judas, der Jesus verät. Aber der Vater des Barrabas ist schuld am Tode des Wanderpredigers, als er die gesamte See-Gemeinde motiviert, in die Stadt zu ziehen und seinen zum Tode verurteilten Sohn "loszuschreien". So kann Judas schließlich Barrabas nachdrücklich in Erinnerung rufen: "Er ist für dich gestorben." Sehr schöne Sprache, unbeschreiblich, am besten sich selbst laut vorlesen.
Dirk van den Boom: D9E - Tod einer Agentin
Nata, die ehrgeizige Agentin der Hondh, die eigentlich gewohnt ist, über Leichen zu gehen, hat bei ihrem jüngsten Auftrag versagt. Die Belohnung, die die geheimnisvollen außerirdischen Eroberer ihren Dienern in Aussicht stellen, das ewige Leben, könnte ihr dadurch nun endgültig durch die Lappen gehen. Doch die Hondh wollen ihr wertvolles Werkzeug nicht so ganz ungenutzt wegwerfen. Nata erhält eine Bewährungs-Chance: Sie soll sich zur Roboter-Zivilisation der mechanischen Hoheit begeben und dort einen Virus einschleusen, ähnlich dem, der die andere Roboterzivilisation, die 1713, ausgelöscht hat. Nun ist Nata zwar ehrgeizig, und die Belohnung will sie auch haben ... Aber die Art, wie ihr die Hondh die Waffe gegen die Roboter in den Unterleib pflanzten, hat sie zutiefst verletzt. Außerdem stinkt ihr, dass sie mit einem Partner und Aufpasser zusammenarbeiten soll. Und dann ist da noch ihre Liebe zu Thrax ... Spannend geschrieben, interessante Wendungen und an keiner Stelle langweilig. Ein temporeiches Abenteuer mit überraschender Pointe.
Holger M. Pohl: D9E - Ein uralter Plan
Die Hondh expandieren und scheinen unaufhaltebar. Aber ein uralter Plan könnte die geheimnisvollen Eroberer vielleicht doch noch stoppen. Dazu müssten sich allerdings die drei Völker Keruen, Senuin und Hoc - die Nachfahren der Aan-Vechtula - vereinigen. Letztere wurden schließlich nicht umsonst "Jene, die sich nicht beherrschen lasssen" genannt. Nomongent, der uralte Planer, konnte allerdings vor zahllosen Genrationen nicht voraussehen, dass jetzt, bei der Vereinigung der Völker und der gefundenen Artefakte ein bestimmtes Ingrediens fehlt ...
Ich habe mich schon beim ersten Auftreten in den Hoc verguckt und fand dieses Volk ausgesprochen spannend. Insofern fieberte ich der Fortsetzung dieses Handlungsstrangs ganz besonders entgegen. Trotzdem: Eine gewisse Skepsis bleibt. Menschen können nicht einmal Pläne durchhalten, die mehr als eine Genereation überspannen. Und dieser, der sich nicht beherschen lässt, soill etwas ausbaldowert haben, das erst nach mehreren Jahrmillionen Früchte trägt? Glaube ich nicht. Das erinnert mich an diese Mathematikaufgabe, in der ein Urururgroßvater eine Mark auf ein Bankkonto einzahlt, und durch Zins- und Zinseszins summiert sich das alles auf, sodass der Urururenkel plötzlich Millionär ist. Ja, Pustekuchen. Dazwischen gab es mehrere Inflationen und Währungsreformen, das Konto ist längst verloren ... Egal, hoffen wir mal das beste für das Universum. Möge der Plan funktionieren.
Hörbuch
Die Bibel
Altes und Neues Testament auf zehn MP3-CDs. Ungekürzt gelesen von Sven Görtz. Das Ganze hat eine Laufzeit von 105 Stunden und hat mich auf meinen Autofarten nach Gardelegen und Goslar rund ein Dreivierteljahr beschäftigt. Gekauft hatte ich mir die Box schon vor Jahren, dann aber festgestellt, dass mein betagter CD-Player in meinem ebenfalls betagten Fiat Panda gar keine MP3s abspielen kann. Dank des neuen Micra bin ich jetzt also doch noch in den Genuss dieses Werkes gekommen. Wobei "Genuss" hier schon noch etwas spezifiziert werden sollte.
Über die literarischen Qualitäten der Bibel muss ich wohl hier nicht allzu viele Worte verlieren. Das Teil hat seine Stärken, aber auch sein Längen. Gerade in den Geschlechtsregistern und den Reinheitsvorschriften ist das vorliegende CD-Set alles andere als ganz großes Hörbuch-Kino. Und wenn man sich stundenlang in immer wiederkehrendem Satzschema die unterschiedlichen Arten von Aussatz anhören muss, beißt auch ein geduldiger Hörer ab und zu mal ins Lenkrad. Aber, wie jeder weiß, der schon mal reingeschaut hat, die Bibel hat auch große, starke Erzählpassagen, und ich habe viele Stellen mal mit ganz anderen Augen gelesen beziehungsweise mit ganz anderen Ohren gehört als vorher.
Die Elberfelder-Übersetzung ist teilweise sehr irritierend. Und, auch wenn es hart klingt, ich mag die Stimme von Sven Görtz einfach nicht. Ich fühlte mich eher unangenehm berührt. Er klingt einfach sehr arrogant. blasiert, wie ein anämischer Wichtigtuer und Drübersteher, gerade an Stellen, die eher Herzenswärme, Menschenfreundlichkeit und Bescheidenheit austrahlen sollten. Er leiert. Oder er neigt zur Übertreibung. Dass die Stimme bei mir so unsympathisch ankommt, dafür kann er nichts, und es ist auch kein ordentliches Bewertungskriterium, aber 105 Stunden mit dem Mann auf engstem Raum in einem Kleinwagen sind einfach hart ...
Die Leistung des Sprechers muss ich aber dennoch ausdrücklich hervorheben. Der zu bewältigende Text ist hart, lang, oft monoton, enthält rhetorische und literarische Zumutungen, besteht aus endlosen Geschlechterregistern und seitenlangen Wiederholungen immer der gleichen Phrasen nur mit anderen Namen oder Objekten. Das zu lesen, das kann man gar nicht genug würdigen. Also auf jeden Fall Hut ab vor seinem Durchhaltevermögen und seiner schauspielerischen Kunst, das alles zu sprechen. Ein ganz ganz großes Kompliment.
Was mir tierisch auf die Nerven ging, war die falsche Aussprache mancher Namen. So wurde die Namensendung "i-el" (zweisilbig mit langem "e") oft zu einem "iel" wie in "Kiel", das ist extrem verwirrend. (Immerhin: Den "Hesekiel" hat er nicht verhunzt.) Und ich war lange Zeit total durcheinander, weil da immer wieder ein "Ase" vorkam. Wohlgemerkt, wir sind in der Bibel und nicht in der Edda, wo germanische Gottheiten hingehören. Erst beim genauen Hinhören und Nachzählen wurde mir klar, dass dieser "Ase" einer der zwölf Söhne Jakobs war: Gemeint war Ascher. Und erst dann hörte ich auch das "R" am Ende des Namens "Aser".
Trotzdem: Auch dieser siebte oder achte Bibel-Durchgang für mich brachte mir ein paar neue Erkenntnisse, ich habe eine Menge interessanter Details bemerkt, die mir vorher nicht aufgefallen war. Dankeschön dafür, Herr Görtz. War schon in Ordnung.
Dezember
Marburg-Award 2019: Viel zu heiß!!!
Die Beiträge zum Marburg Award 2019, erneut in einem reich illustrierten Taschenbuch in 50er Auflage. Geschichten aus dem gesamten Spektrum der phantastischen Literatur. Wobei das Motto "Viel zu heiß!!!" - wenig überraschend - viele Autoren zu Dystopien inspirierte und dazu, die befürchtete Klimakatastrophe auch tatsächlich losbrechen zu lassen.
Witzig, dass mir, wie im Vorjahresband die Gechichte von Iver Niklas Schwarz am besten gefallen hat. Den Autor werde ich mir merken. Seine Geschichte "Der letzte Flug der Glühwürmchen" ist mir aus zwei Gründen aufgefallen. Erstens wegen des Einstiegs: "Hi. Mein Name ist Mika Weiß. Ich habe heute einen Mann getötet und zum ersten Mal mit einem Mädchen geschlafen." Und dann wegen des Schauplatzes. Er lässt nämlich seinen Helden vor der tödlichen Sonne nach St. Andreasberg ins Unesco Weltkulturerbe Grube Samson flüchten. Tja, ich hab's nun mal ab jetzt mit dem Harz ...
Hans Donald Cramer: Das Schicksal der Juden in Goslar 1933 - 1945
Eine sehr detaillierte und gut recherchierte Arbeit. Die jüdische Gemeinde in Goslar war sehr klein ünd überschaubar. Cramer hat allen diesen rund 50 Personen nachgespürt und ihre Geschichte dokumentiert. Das Buch enthält viele Fotos und andere Dokumente der jüdischen Familien, beschreibt ihre Schicksale und arbeitet ihre Biographien heraus.
Er berichtet über den Boykott jüdischer Geschäfte, über die Reichspogromnacht und darüber, wie die Goslarer Juden im "Judenhaus" gegenüber dem alten Kloster und späteren Gasthaus "Trollmönch" zusammengepfercht lebten und auf ihren Abtransport in Konzentrationslager warteten. Einige wenige flüchteten rechtzeitig ins Ausland, doch die meisten konnten und wollten nicht glauben, dass ihnen in ihrer Heimat Deutschland etwas Böses widerfahren könnte ... bis es dann zu spät war. Viele waren Kriegveteranen, einige waren schwer verwundet aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt. Bei einigen Geschäftsleuten wurde deren soziales Engagement hervorgehoben und der Umstand, dass sie auch mal "anschreiben" ließen. Und Kramer berichtet auch von dem Kaufmann, der einem Nazi-Posten vor seiner Tür halb ironisch einen Stuhl brachte, damit der arme Mann nicht den ganzen Tag stehen musste. Aber da ist auch die Geschichte von dem jüdischen Jungen, dem ein Wachmann während des Besuchs Adolf Hitlers in Goslar die Pistole in den Rücken drückte: "Wenn dem Führer etwas passiert, schieße ich dich tot."
Auch nach den Boykottaufrufen kauften eine Menge Kunden noch bei den jüdischen Geschäftsleuten, bestellten oft heimlich, oft per Telefon, und wurden nachts beliefert. Auch legten Nachbarn manchmal Nahrungsmittel vor dem Judenhaus nieder, in dem die Bewohner hungerten.
Aber es gab auch Plünderer und Spitzel. Etwa den Denunzianten, der eine Frau anzeigte, weil sie ihren Judenstern nicht trug. Viele Goslarer machten gern mit bei der Zerstörung jüdischer Geschäfte und ihrer Waren.
Kein schönes Buch, aber ein notwendiges.
Bettina Ferbus: Spiegelmatrix
Teil zwei der Spiegelwelten-Serie. Den ersten Teil hatte ich vor rund zwei Jahren gelesen, ich kam aber gut wieder rein in die Handlung. Die Heldin ist eine junge Frau namens Tanja, die während einer Zaubershow, in der sie als Statistin bei einem Zaubertrick mitspielen sollte, in eine andere, magische Welt versetzt wurde. Sie befindet sich im Körper einer Saraud, einer Art Assasine, und ist offiziell schwachsinnig. Eine übliche Art des Umgangs mit Straftätern: Sie werden einer Operation unterzogen, die sie dumm und träge macht (lobotomiert). Eine solche "Tarigi" wird oft von Zauberern in dieser Spiegelwelt als Dienerin erworben, um als Blutspenderin für Rituale herzuhalten. Doch Tanja ist um die Operation herumgekommen. Ihr Zauberer und sie sind ein gutes Team, zumal Tanja und er durch einen Pakt mit einem Dämon eine mächtigen Verbündeten haben.
Im ersten Band wurde das Zusammenfinden dieses ungleichen Trios geschildert. Nun sind die drei damit beschäftigt herauszufinden, was in der Magierwelt nicht läuft und welcher Schurke in der Zauberer-Verwaltung welche Strippen zieht, um seine düsteren Interessen durchzusetzen. Lebensgefährlich wird es, als man Tanjas Zauberer auf die Schliche kommt und ihn wegen des Paktes mit einem Dämon anklagt. Tanja und ihre Freunde müssen ihn vor der Hinrichtung retten. Hierbei könnte ein neuer Spiegelzauber helfen, mit dem sich heimliche Räume, vielleicht sogar ganze neue Welten erschaffen lassen.
Erneut ein spannender, sehr gut und zügig geschriebenen Spiegelwelt-Roman. Hat mir gefallen.
Barbara Stollberg-Rilinger: Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert (Reclam)
Breit angelegte Überblicksdarstellung, die die Aufklärung als europäisches Phänomen darstellt. In den einzelnen Kapiteln geht es um Aspekte wie Geselligkeit, Frauen, Hunger, Bildung. Ein Thema, das kein eigenes Kapitel hat, ist die Literatur. Informativ, gut geschrieben und ein ordentlicher Überblick, sehr hilfreich.
Alexander von Ungern-Sternberg: Die Zerrissenen
Der Roman füllt die ersten Seiten eines Ziemlich dicken Buchs von Ungern-Sternberg, das den Titel "Gesammelte Werke" trägt. Das Buch kam letztes Jahr heraus, und ich habe es mir als Fan des "Jungen Deutschlands" und Vormärz-Interessierter natürlich anschaffen müssen. Wobei ich "Die Zerrissenen" schon mehrfach gelesen habe. Es ist eine Art Künstler-Roman, außerdem geht es um einen Fürsten und seine Liebschaften, und Eduard, der Protagonist, ein Maler, hat auch einige amouröse Beziehungen zu Frauen. Ferner gibt es ein paar gruselige, gespenstische Begegnungen und ein paar Betrachtungen über Kunst und Liebe. Das Buch ist nicht so toll, aber durch seinen Titel prägend für die damalige Autorengeneration. Eben Leute, die eine gewisse "Zerrissenheit" empfanden, sie manchmal auch feierten.
Ich habe in den Werken bereits weitergelesen und bin jetzt mitten im Roman "Lieselotte", ein historischer Roman über Lieselotte von der Pfalz. Ansonsten sind in dem ziemlich dicken Ziegelstein auch Ungern-Sternbergs Schiffersagen und die "Braunen Märchen" abgedruckt, beides Sammlungen, die ich sehr gut finde. Wesentlich besser als die Romane. Ich denke, die kleine Form liegt ihm mehr, und darin besteht seine wahre Stärke. Außerdem sind im Buch noch ein paar weitere historische Romane und ein paar Biographien zu finden.
Was mich etwas ärgert: "Eduard", die Fortsetzung der Zerrissenen", ist nicht mit aufgenommen. Dabei ist der Roman wesentlich besser. "Gesammelte Werke" heißt eben nicht: "Sämmtliche Werke".
Und wovor ich auch dringend warnen möchte: Das Buch ist extrem klein gedruckt. Wer den "fast-gesamten" Ungern-Sternberg auf 815 Seiten presssen will, muss halt Mini-Buchstaben wählen. Wer es als Leser größer braucht, dem sei das eBook empfohlen, das für nur 49 Cent erhältlich ist.
Plotin: Ausgewählte Schriften (Reclam)
Plotin, der bedeutendste Philosoph des Neuplatonismus, ist jemand, um den ich in den vergangenen Jahrzehnten absichtlich oder unabsichtlich einen weiten Bogen gemacht habe. Mit Platon habe ich es ja nie so gehabt, aber der Mann war literarisch ja einer der ganz Großen, und so hatte ich bei ihm wenigstens doch noch "was für die Sele" gefunden.
Plotin ist sprachlich etwas weniger verlockend. Sehr theoretisch, sehr präzise, sehr treu dem Meister und dabei seine Lehre fortschreibend. Was für den Pythagoräer das "autos epha" bedeutete, war für den Neuplatoniker das Werk Platons. Da geht es um eine Fortschreibung der Seelenlehre und darum, was denn un das "eine" sei, das vor allem anderen komme. Aber es geht auch um den interessanten Gedanken, dass ein Mensch beziehungsweise eine Seele nur Dinge erkennen könne, die ihr selbst bereits innewohnen. Das Auge, schreibt er, könne die Sonne nur daher erkennen, weil es selbst eine gewisse Sonnenähnlichkeit habe. "Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken", schrieb wesentlich später Goethe. Da hat er es also her. Plotin geht der Frage nach, was das Gute sei, oder was schön sei. Er fragt nach der Natur des Menschen. Bekämpft die Gnostiker. Und fragt sich eben, was das "Eine" ist. Sehr interessantes und sehr gehaltvolles Buch, gut aufgemacht und mit viel Informationen zu Plotin und seiner Lehre versehen. Aber, wie ich schon ahnte, nicht ganz meine Welt.
David Friedländer: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Uta Lohmann
Die Sammlung enthält vier wichtige Schriften Friedländers, allesamt von Uta Lohmann mit einer Einleitung versehen und um weitere Materialien ergänzt. Zusätzlich gibt es eine biografische Einleitung zu dem gesamten Buch, die Leben und Werk Friedländers vorstellt.
Wie bereits im Jahresrückblick des dritten Quartals geschrieben: Hier sieht man Friedländer bei seiner Verhandlungstätigkeit und in seiner Arbeit als Gutachter. Vor allem die "Akten-Stücke" können wohl als sei Hauptwerk betrachtet werden. Friedländer, als gut vernetzte und einflussreiche Persönlichkeit, verhandelt und diskutiert mit hochrangigen Beamten und Fachleuten darüber, ob und wie Juden das Bürgerrecht in Preußen erhalten sollen. Beim Blick auf die Unterlagen und Listen wird einem erst recht wieder klar, dass vieles, was uns heute selbstverständlich ist, damals überhaupt nicht möglich war, erst recht für Juden nicht. Ob es Handwerk oder Landwirtschaft war, es war für Juden verboten. Universitätszugang und Abschlüsse waren bis vor kurzem noch völlig unmöglich, zu Friedländers Zeiten gab es schon ein paar Möglichkeiten des Studiums (siehe auch Isaac Euchel), hier hatte auch die Tätigkeit des Leuchtturms Moses Mendelssohn einige Schranken niedergerissen.
Friedländer widerlegt den Vorwurf, Juden seien krimineller als Christen durch statistisches Material.
Er geht der Frage nach, inwieweit sich jüdische Rechtsvorschriften und die Gesetze des preußischen Staates widersprechen, nach und kommt zu dem Schluss, dass es für Juden als ganz normale Staatsbürger auch selbstverständlich sein werde, die für alle geltenden Regeln und Gesetze zu befolgen. Zwei Unterschiede macht er aus: Das jüdische Erbrecht bevorzugt den ältesten Sohn, doch dies könne man getrost über Bord werfen, betont er, es sei eher eine Kann-Bestimmung, und das preußische Erbrecht könne problemlos auch von jüdische Preußen übernommen werden. Der andere Sonderfall sei die "Leviratsehe", bei der eine Witwe den Bruder des Verstorbenen heiraten könne. Auch daran müsse man nicht zwingend festhalten.
Friedländer geht fermer der Frage nach, ob Juden, die gleiche Bürgerrechte haben, dann auch die gleichen Pflichten erfüllen müssten, und kommt zu einem entschiedenen "Ja, natürlich." Hier ging es in Preußen vor allem um den Wehrdienst. Das sei überhaupt kein Problem, sagt Friedländer. Zwar seien die Juden in Preußen derzeit physisch nicht allzu stark und wehrtauglich (auch durch Armut und schlechte Eernährung), aber bereits die nächste Generation, die mit vollem Bürgerrecht aufgewachsen sei, könne auch im Heer Tüchtiges leisten.
Ansonsten seien Fragen des Glaubens und der Gebräuche Privatsache, die mit dem Leben als Bürger und dessen Pflichten gar nichts zu tun hätten, es sei also kein Widerspruch und stehe dem vollen Bürgerrecht nicht entgegen, und es gehe niemanden etwas an, wie jemand seine Religion privat praktiziert.
Für die Akten-Stücke hat Friedländer von allen Seiten viel Lob erfahren. Mit dem Sendschreiben an Propst Teller dagegen, setzte er sich gewaltig in die Nesseln und rief auch bei guten Freunden ratloses Kopfschütteln hervor. Was er dem Geistlichen anbot, war mehr oder weniger die Vereinigung von Juden und Christen zu einer neuen, gemeinsamen Religion, beziehungsweise die Wiedervereinigung in der beiden gemeinsamen ursprünglichen Religion. Wenn die Juden auf ihr strenges Zeremonialgebot verzichten würden und die Christen nicht mehr darauf bestehen würden, dass Jesus leiblicher Sohn Gottes sei, dann könne man sich doch zusammentun. Die Idee fand auf beiden Seiten nicht viel Zuspruch. Allerdings hatte es für die jüdischen Gemeinden einen sehr ernsten Hintergrund: Immer mehr Gemeindeglieder ließen sich taufen, um, wie es Heinrich Heine formulierte, ein "Entreebillet" zur Gesellschaft zu erhalten. Friedländer versuchte, diesen Konvertierungsstrom zu stoppen beziehungsweise den Juden die Chance zu geben, in die christliche Gemeinschaft aufgenommen zu werden, aber doch Juden bleiben zu können.
Die Welten von Thorgal: Kriss de Valnor 8 - der Herr der Gerechtigkeit
© Petra Hartmann