Weihnachtsmärchen: Die Tannenbaumspitze
Weihnachten Weihnachtsmärchen
Die Tannenbaumspitze
Wie lange war ich nicht mehr hier oben auf dem Dachboden? Jahre? Jahrzehnte? Ein Leben lang? Es ist unfassbar, was sich in all der Zeit angesammelt hat. Aufräumen war nie meine starke Seite, aber wer es in diesem Jahr nicht schafft, seinen Dachboden zu entrümpeln, der wird es nie schaffen, dachte ich mir. So kam ich herauf.
Bald habe ich die ersten kaputten Stühle nach unten geschafft, alte Umzugskisten geöffnet, und da ist ja auch die Comic-Sammlung aus den 80ern mit den Yps-Heften und Superhelden-Abenteuern. Als ich den Karton mit der Weihnachts-Deko öffne, werde ich langsamer. Die Krippe mit dem dreibeinigen Schaf und ohne Jesus. Die Tannenzapfen-Wichtel und Goldpapier-Sterne und die rotleuchtenden Kugeln aus hauchdünnem, zerbrechlichem Glas.
Wie ein absurder Fremdkörper liegt die dicke orangefarbene Knetkugel mit dem Loch in der Mitte daneben. Eine plumpe, von grobmotorischen Kinderfingern zusammengerollte Knetkugel, auf der drei ungeschickt daraufgedrückte blaue Sterne kleben. Ziemlich hässlich, aber wir haben es nie übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen.
Und jetzt weiß ich auch wieder, wo ich damals die wunderschöne, hauchzarte Tannenbaumspitze aus Glitzerglas versteckt habe. Ganz vorsichtig balanciere ich nach hinten in den dunkelsten Bereich des Speichers und passe auf, dass ich die ekligen Spinnennetze nicht berühre. Dort im Geheimversteck hinter dem alten Eichenbalken finde ich die graue Pappschachtel, die ich vor über 40 Jahren dort verborgen hatte. Vorsichtig hebe ich den Deckel.
Es ist kaum zu glauben, aber sie liegt noch vollkommen unversehrt vor mir. Und als ich jetzt an die kleine Dachluke trete und ein dünner Wintersonnenstrahl sich in dem Glitzerglas fängt, wahrhaftig, da leuchtet das wunderschöne Zauberding auf und funkelt wie ein Eiskristall im Schneekönigin-Märchen. So wunderschön, denke ich.
Nie habe ich eine schönere Tannenbaumspitze gesehen. Aber gezeigt habe ich sie niemals jemandem. Vorsichtig lasse ich mich auf einem der alten, zerbrechlichen Stühle nieder und drehe das glänzende Meisterwerk hin und her. Die schönste Tannenbaumspitze der Welt.
*
Nie werde ich das Gesicht unserer Mutter vergessen an dem Tag, als sie die Scherben der zerbrochenen Tannenbaumspitze aufsammelte. Das Geräusch des zersplitternden Glases ist verschwunden aus meinem Gedächtnis. Das Wanken und Schwanken des Weihnachtsbaums, der Sturz - nichts. Nur ihr bleiches, trauriges Gesicht und die dunklen Augen, die auf die Scherben starrten, als sei alles Glück und alle Herrlichkeit der Welt für alle Zeit zerbrochen.
Meine Schwester und ich fühlten uns hundeelend an dem Tag. War sie schuld, war ich es? Ich wusste es nicht mehr. Ich wusste nur, dass Weihnachten nie wieder dasselbe sein würde und dass ein Baum ohne Tannenbaumspitze das Furchtbarste war, was es auf der ganzen Welt geben konnte. Wir hatten sie doch nur einmal genau ansehen wollen. Und nun lag Weihnachten in Scherben.
Die Kleine konnte es noch nicht wissen, die kam gerade mal in den Kindergarten und verstand nicht viel. Aber ich, ich war schon groß und kam bald in die zweite Klasse. Ich wusste genau, was wir getan hatten. Wir hatten Weihnachten getötet. Und wenn Mama auch versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, es hatte sie getroffen. Und was sollte nun werden?
Natürlich geht das Leben immer irgendwie weiter. Anfang Januar verschwand der Baum aus unserem Wohnzimmer, und die Kugeln und Zwerge und Sterne kamen in die große Weihnachtskiste, die Papa auf den Dachboden trug.
Das Frühjahr kam, der Sommer, der Herbst. Ich hatte das Unglück schon fast wieder vergessen, als unsere Lehrerin anfing, uns Weihnachtssterne basteln zu lassen, Sterne aus rotem Tonpapier und Goldfolie, damit wir zu Hause unseren Baum auch ordentlich schmücken konnten.
Ach, da fiel es mir alles wieder ein. Welchen Sinn konnte es schon haben, einen Tannenbaum zu schmücken, wenn die Spitze zerbrochen war? Nein, das würde kein frohes Fest werden. Mama würde weinen beim Anblick des Baumes, das wusste ich doch.
In der Woche darauf hatten wir eine Deutschstunde bei unserem Schulleiter. Wir sollten einen Wunschzettel schreiben, entweder an den Weihnachtsmann oder an das Christkind, das durften wir uns aussuchen. Da musste ich gar nicht lange überlegen.
„Lieber Weihnachtsmann“, schrieb ich in Beinahe-Schönschrift, „ich wünsche mir ganz doll eine Wasserpistole und eine Tannenbaumspitze.“
Der Schulleiter fand das seltsam. Aber ich war doch froh, dass er auf die Idee mit dem Wunschzettel gekommen war. Denn nun musste doch alles gut werden.
Nach der Schule lief ich sofort hinüber zum Briefkasten und warf meinen Wunschzettel ein. Doch dann hörte ich den dicken Peter hinter mir dreckig lachen. Er hatte alles mitgekriegt, und nun lachte er mich aus, weil ich einen Wunschzettel abgeschickt hatte und weil ich noch an den Weihnachtsmann glaubte. „Du bist ja noch ein richtiges Baby“, lachte er. „Den Weihnachtsmann gibt es doch gar nicht, und die Geschenke, die kaufen ja die Eltern.“
Ich habe nicht geweint, als er es sagte. Ich habe die Nase ganz hochgenommen und bin aufrecht an ihm vorbeigegangen. Aber bestimmt habe ich ein Gesicht gemacht wie meine Mutter, als sie die Scherben der Tannenbaumspitze zusammenkehrte. Doch, ein bisschen habe ich doch geweint. Aber erst, als Peter mich nicht mehr sehen konnte. Und dann ist mir etwas eingefallen. Mir ist eingefallen: Wenn Eltern Geschenke kaufen können, dann können Kinder das auch.
An das Geräusch des Sparschweins, das ich zerschlug, erinnere ich mich noch genau. Auch an sein verdutztes Gesicht. An die drei Fünfmarkstücke zwischen den dicken gelben Steingutscherben und daran, wie gut ich aufpasste, dass ich mir nicht Finger zerschnitt, als ich sie herausfischte.
Damals gab es noch den kleinen Dorfladen von Renate Huber im Eichenweg. Ich war Stammkunde in der Bonbon-Abteilung, natürlich, und manchmal hatte mich Mama auch schon mit einer Einkaufsliste losgeschickt, um Konservendosen oder Waschpulver zu kaufen. Aber als ich meine drei Fünfmarkstücke auf den Tresen legte und eine Tannenbaumspitze verlangte, schaute mich Tante Renate ungefähr so verblüfft an wie das Sparschwein kurz zuvor.
Zuerst hatte ich das Gefühl, dass sie gar nicht wusste, was eine Tannenbaumspitze überhaupt war. Sie zeigte mir einen Strohstern mit einer grünen Drahtspirale unten dran. Den könne man sehr gut auf eine Fichte setzen, meinte sie, das sei auch supergünstig und obendrein jetzt modern. Oder einen kleinen Engel, der oben auf dem Weihnachtsbaum sitzen konnte. Aber eine glitzernde Glasspitze, die aussah wie ein verzauberter Eiskristall, nein, so etwas hatte sie nicht im Regal. Ob ich nicht lieber einen Schokostern haben wolle?
Da begann ich zu weinen. Mitten im Tante-Emma-Laden von Tante Renate, und es war gut, dass ich in diesem Augenblick der einzige Kunde war.
„Kind, Kind, wein doch nicht“, rief sie erschrocken aus. „Warte, ich habe da vielleicht noch etwas auf dem Speicher. Geh nicht weg.“
Ich schniefte. Aber da war sie schon aus dem Laden verschwunden, und ich hörte sie mit schweren Schritten die Treppe hinauf zum Dachboden stiefeln. Da oben rumpelte etwas. Möbel wurden verschoben. Ich hörte eine quietschende Schranktür. Noch ein Möbelrücken. Der Dachboden von Renate Huber musste wohl ähnlich vollgestellt sein wie unserer. Aber am Ende kam sie dann doch wieder die knarrenden Treppenstufen herunter.
In der Hand hielt sie eine graue Schachtel, und als sie jetzt den Deckel anhob, da blieb mir fast die Luft weg vor lauter Glück: Eine gläserne Funkel-Tannenbaumspitze, die in tausend Farben sprühte, lag darin. Und da wusste ich, dass es dieses Jahr doch ein Weihnachtsfest geben würde.
„Nimm sie ruhig“, meinte Tante Renate. „Das ist noch ein Erbstück von meiner Schwiegermutter. Ich würde das altmodische Ding ohnehin nicht mehr auf meinen Christbaum setzten.“
Sie wollte nicht einmal mein Geld haben, und ich glaube, sie hielt mich für etwas verrückt, dass ich so ein altmodisches Ding überhaupt haben wollte. Aber als ich den Karton vorsichtig nach Hause trug, da war es mir, als hätte ich den kostbarsten Schatz der ganzen Welt geschenkt bekommen.
Die Tage bis Heiligabend waren kaum auszuhalten. Zu gern hätte ich wenigstens meiner kleinen Schwester das Zauberding gezeigt und mich dafür bewundern lassen, dass ich Weihnachten gerettet hatte. Aber sie hätte es womöglich noch zerbrochen oder, schlimmer noch, mein Geheimnis verraten. Sie war ja erst ein Kindergartenkind und verstand es nicht besser.
Hach, und dann war es endlich so weit. Das Wohnzimmer lag im Halbdunkel, der Baum war festlich geschmückt, rote Wachskerzen brannten auf den Zweigen, und er sah wunderschön aus. Nur der Platz an der Spitze war leer und erinnerte an die Katastrophe vom letzten Jahr. Wir sangen. „Oh du fröhliche“ und „Oh Tannenbaum“.
Und dann kam der feierliche Moment, in dem ich vortrat, mein kleines Päckchen hochhielt und ...
„Da, Mama, für dich“, sagte in diesem Augenblick meine kleine Schwester. Sie hielt eine dicke orangefarbene Knetkugel in der Hand. „Das habe ich im Kindergarten gemacht. Weil ich doch letztes Jahr die Tannenbaumspitze kaputtgemacht habe.“
Meine Mutter hätte fast geheult vor Rührung. Sie umarmte die Kleine. Und dann hat Papa die dicke orangefarbene Knetkugel mit den drei blauen Sternen ganz oben auf den Baum gesetzt. Die nadelige Spitze der Fichte passte genau in das Loch der Kugel, und Papa musste die Knetmasse nur ein ganz kleines Bisschen zusammendrücken.
Schön sah es nicht aus, das mussten auch meine Eltern gemerkt haben. Aber als ich das Strahlen im Gesicht meiner Mutter sah und wie stolz die Kleine vor dem Baum stand, da wusste ich, dass das nicht der richtige Moment war, meine Pappschachtel zu öffnen. Aber ich verstand auch, dass Weihnachten gerettet war und dass unser Baum ganz genau die richtige Spitze bekommen hatte.
Ganz leise schlich ich mich davon und ließ den Karton mit dem Glitzerkristall verschwinden, und später versteckte ich ihn auf dem Dachboden.
*
Das ist jetzt über 40 Jahre her. Und die Tannenbaumspitze glitzert und funkelt noch immer so zauberhaft wie damals im Tante-Emma-Laden von Tante Renate. Ja, denke ich, Weihnachten ist gerettet, wenn man die richtige Tannenbaumspitze hat. Und dann mache ich den Deckel wieder zu und verstecke die Schachtel wieder hinter dem alten Dachbalken. Wenn meine kleine Schwester mich nächste Woche zum Fest besucht, dann wird auf meinem Baum eine dicke orangefarbene Knetkugel mit drei blauen Sternen thronen. Ob sie sich noch daran erinnert?
© Petra Hartmann