Pia Tafdrup: Tarkowskis Pferde
Lyrik Pia Tafdrup
Es geht um Demenz, um das Verlieren, Verblassen ihres Vaters, bis schließlich der Tod auch den endgültigen, physischen Abschied besiegelt. Aber endgültig dann doch nicht. Am Ende ist es das Bild grasender Pferde am Wegesrand, das die Autorin doch wieder zurückdenken lässt an die Zeit mit ihrem Vater. Und an ein Leben voller unverlierbarer Erinnerungen an eine besondere Kindheit, Jugend, eine jahrzehntelange liebevolle Beziehung.
Von den ersten kleinen Anzeichen an zeichnet Tafdrup die Geschichte eines Verblassens und Verlorengehens nach. "Mit einem Mal verstehe ich: / Mein Vater weiß nicht, was er tut", heißt es mitten in der Erinnerung an einen warmen Sommerabend mit Schwalben und Sonnenstrahlen. Schon in diesem Auftakt-Gedicht deutet sich an, wie die Gedanken fliehen werden: "Die Pferde / haben sich losgerissen", notiert Tafdrup. "Langbeinige Flucht, / schwarzem Horizont entgegen."
Immer wieder sind es Bilder aus der Natur, die beschworen werden. Bäume in farbigem Laub, die die Zeit anzeigen. Der Vater ist ein naturverbundener Mensch, aus jeder Zeile spürt man sein inniges Verhältnis zu Tieren und Pflanzen, das wohl auch auf die Tochter überging. Auch wenn das Gefühl für Datum und Uhrzeit verloren geht:
Es gibt immer Bäume, die meinem Vater
die Jahreszeit verraten, sie leuchten
in seinem Gehirn,
die weißen Stämme der Birken,
so der Beginn des Gedichts "Bäume werden gelesen". Ein schönes Idyll, das aber bereits den Beginn der Orientierungslosigkeit und Verwirrung anzeigt. Was braucht es konkrete Zeitangaben, wenn nur die Stimmung stimmt, wenn man nur zusammen ist und die Jahreszeiten fühlt, scheint der Anblick des Baumes zu sagen. Ein Festhalten am Wesentlichen, das hier beschworen wird, ein "Und doch ist es gut" ...
Ob heute
oder vor fünfzig Jahren,
wo ist der Unterschied?
Ob zwei Stunden
oder zwei Minuten vergangen sind,
ist das entscheidend,
solange Schutz gesucht wird
in einer glasklaren Erinnerung aus der Kindheit?
Ob ich im Sessel sitze
oder meine Mutter,
was macht das schon?
Oder ob's meine Schwester ist oder ich,
ist das wichtig,
wenn wir's gemütlich haben?
Aber die Schatten sind da. Diesmal ist es ein kletterndes Eichhörnchen, das im Astwerk klettert und herumspringt, wie ein verwirrter Gedanke im Gehirn, das sie vertreibt, "Aber was geschieht, / wenn die Bäume mit der Wurzel / herausgerissen werden - / wenn sie langsam hinausschweben, / wo Sterne asphaltiert werden?"
Vergangenheit wird wichtiger. Szenen aus Kindheit und Jugend steigen auf. Erinnerungen des Vaters an den Zweiten Weltkrieg. Dann wieder sind da "weiße Flecke / auf der Karte der Erinnerung". Es beginnt mit einem Verrat, der Einweisung des Vaters in ein Heim. Mit Besuchen im "Gefängnis", wo die Bewohner Memory spielen und alte Kinderlieder singen. Mit Fluchten. Mit kleinen, alltäglichen Gegenständen, die mehr und mehr Bedeutung gewinnen, zur Welt werden.
Ein Mann "weiß nicht mehr, wie belesen er ist". Plötzlich taucht ein alter Rilke-Band auf. "Wie der erste Schlag einer schwer / schwebenden Glocke / an einem bronzestillen Morgen / meldet sich Deutschland". Der Vater hatte nach Schweden fliehen müssen. Später war die deutsche Sprache verpönt im Haus der Dichterin, die Mutter hatte versucht, ihr den Besuch bei einer deutschten Brieffreundin auszureden. Das alles kommt nun wieder hoch, jahrzehntelang vergessen.
Neue Straßennamen im Viertel - für den Vater wird die eigene Adresse zur Fremde. Verblassen, Verdunkeln eines Geistes, eines Menschen. Die Vögel kommen noch immer wie jedes Jahr im Frühjahr zurück. Die Rechnungen kommen noch lange nach dem Tod des Vaters. Der Tod. Einäscherung. Begräbnis. Ein Mann mit der gleichen Schuhgröße erhält die Schuhe des Vaters. Tröstlicher Gedanke, dass seine Schuhe weiter durch die Welt gehen werden. "Wörter werden nicht begraben", heißt es. Und doch:
Sage ich
"Vater",
kann ich ihn nicht erwecken.
Ich wohne im Schatten des Wortes
- denn wer hält sonst, was er verspricht?
Ist der Vater also nun verschwunden, vergessen auch im Geiste seiner Tochter? Ein Bild, gesehen durchs Zugfenster, eine Erinnerung an den Film "Andrej Rubljow", Tarkowskis Pferde, "in den letzten Bilder des Films, / ist mein Vater zugegen, / ruhend in sich selbst", schreibt Tafdrup. Ein starkes Bild, das für immer mit ihrem Vater verbunden sein wird:
Etwas im Wesen des Pferdes
läßt ihn hervortreten.
Ein Schatten leuchtet,
nun i s t er hier einfach.
Tafdrups Sprache ist, trotz oder gerade wegen der harten und belastenden Inhalte der Gedichte, nie aufgeregt, laut oder besonders emotional. Sensibel, ja. Aber auf eine schaumgebremste, sich selbst schützende Art sensibel. Auch in der deutschen Übersetzung (einige dänische Originale sind beigegeben) bleibt der distanzierte, leise Ton spürbar, die Sprech- und Denkweise von Menschen in Krisensituationen, unter hoher Belastung, wenn man einfach nur funktionieren muss, sich keine hysterischen Ausbrüche leisten darf und auch nicht die Energiereserven dafür hat.
Dafür sieht sie jede Einzelheit, die Sinne sind offen für jedes noch so kleine Detail beispielsweise aus der Natur oder aus dem Zimmer des Vaters. Konkret, genau beobachtet und in seiner herben Schlichtheit lauter als jeder Tränenausbruch. Genau darum berühren die Gedichte so sehr, fassen den Leser an und lassen ihn teilhaben an einem Verlust, der selbst unaussprechlich ist, aber durch die Schilderung der kleinen Dinge, die ihn begleiten, für alle mit-erfahrbar.
Man spürt das Ein- und Ausatmen der Autorin, etwa beim Anblick eines huschenden Eichhörnchens oder beim Blick auf ein liegen gelassenes Buch. Alles ist mit Erinnerung aufgeladen, jeder stumme Gegenstand spricht: Das hier hat ihm einmal etwas bedeutet. Eine beeindruckende, unvergessliche Reise in das Vergessen - und darüber hinaus.
Fazit: Beeindruckender und unvergesslicher Gedichtband über ein schweres Thema und in einer Sprache wie leicht davonfliegende Erinnerungen. Still und berührend. Empfehlenswert.
Pia Tafdrup: Tarkowskis Pferde. Gedichte. Ins Deutsche übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Urban Halle. Stiftung Lyrik Kabinett München, 2017.
© Petra Hartmann