Nestis und ihre Ahnherrinnen: Die schöne Lau
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In meiner Serie über Meermädchen, Nixen und Wasserfrauen und weitere Ahnherrinnen meines Meermädchens Nestis möchte ich euch heute eine schwäbische Wasserdame vorstellen: Die schöne Lau, bekannt geworden durch den Dichter Eduard Mörike (1804- 1875).
Mörike erzählt die „Historie von der schönen Lau“ als eingebettete Geschichte in seinem Märchen „Das Stuttgarter Hutzelmännchen“, erstmals veröffentlicht im Jahre 1853. Die „Historie“ erschien 1873 auch als eigenständige Erzählung mit Illustrationen von M. v. Schwind, „die dem Publikum aber als anstößig erschienen und der Ausgabe keinen Erfolg brachten“, vermerkt Kindlers Literaturlexikon (München, 1990. Bd. 11, S. 820).
Traditionelle Sagenmotive
Mörike verwandte durchaus traditionelle Sagenmotive. Im Hutzelmännchen-Teil sind es das wundersame „Hutzelbrot“, das immer wieder zu einem vollständigen Brot nachwächst, sofern man nach dem Essen nur einen kleinen Brocken davon übrig lässt, oder die „Glücksschuhe“ des jungen Schusters, die ihn durch die Welt führen und ihn schließlich die Frau fürs Leben finden lassen. Der Kindler verortet ihn in der literarischen Tradition folgendermaßen: „Mörike führt bewusst die Tradition der romantischen Märchenerneuerung fort - seine eigenen Märchendichtungen aber zeichnen sich im Gegensatz zu den spekulativen allegorischen Kunstmärchen der Romantiker durch eine Fülle volkstümlicher und realistischer Details aus, die ganz konkret und aller Phantastik zum Trotz den Ort des Märchens bestimmen.“ (ebd.)
Alte Sagen von der Lau und dem Blautopf
Mörike arbeitete mit dem bereits Vorhandenem: Mit dem Ort, mit Besonderheiten der Landschaft, mit lokalen Sagen. Auch über Wasserfrauen erzählte man sich am Blautopf schon vor Mörike Märchen- und Sagenhaftes. Dazu schreibt Ruth M . Fuchs:
„Die schöne Lau errang durch Mörikes Erzählung Berühmtheit. Aber dass Nixen im Blautopf in Schwaben leben, das wusste man schon vorher. Ein Blick auf diesen fast kreisrunden See in seinem leuchtenden Blau genügt, um sicher zu sein: Wenn es Nixen gibt, dann muss mindestens eine davon hier leben. Wie viel von der Handlung Volkssage, wie viel Dichtung Mörikes ist, kann heute niemand mehr entscheiden. [...]
Die Nixen aber, die der Lau im Blautopf dienten und vielleicht auch schon vorher dort gelebt hatten, sollen noch da sein. Es sind niedliche Geschöpfe - und alle mit Entenfüßem.“
(Ruth M. Fuchs: Welcher Naturgeist ist das? Eine Art Bestimmungsbuch. Karlsfeld, 2014. S. 146f)
Die schöne Lau, einer Anmerkung Mörikes zufolge auch als „die arge Lau“ bekannt, soll demnach im Blautopf gelebt haben, einem rund 20 Meter tiefen Quellbecken der Blau, eines Nebenflusses der Donau, der außer durch seine ungewöhnliche, magisch anmutende Farbe durch seine damals als unergründlich geltende Tiefe auf die Phantasie nicht nur der Dichter wirkte. Mörike selbst, der aufgrund der zahlreichen schwäbischen Ausdrücke und lokalen Besonderheiten sein Märchen mit mehreren kommentierenden Anmerkungen versehen musste, notiert dazu:
„Die dunkle, vollkommen blaue Farbe der Quelle, ihre verborgene Tiefe und die wilde Natur der ganzen Umgebung verleihen ihr ein feierliches, geheimnisvolles Aussehen. Kein Wunder, wenn sie in alten Zeiten als heilig betrachtet wurde und wenn das Volk noch jetzt mit abenteuerlichen Vorstellungen davon sich trägt.“
(Eduard Mörike: Das Stuttgarter Hutzelmännchen. Märchen. Stuttgart, 1970/1985. S. 97f)
Der blaue Farbton des Wassers beziehungsweise der Name des Flusses mögen auch für den Namen der Wasserfrau Pate gestanden haben. So etymologisiert Mörike das „Lau“ als abstammend von „La, Wasser, welches in lo, lau, b†™lau überging“ (ebd. S. 99).
Eine Wasserfrau mit langen Haaren
In Mörikes Märchen ist die Lau „eine Wasserfrau mit langen, fließenden Haaren. Ihr Leib war allenthalben wie eines schönen natürlichen Weibs, dies eine ausgenommen, dass sie zwischen den Fingern und Zehen eine Schwimmhaut hatte, blühweiß und zärter als ein Blatt vom Mohn.“ Verbunden wird ihre Geschichte mit dem Nonnenhof, einem ehemaligen Kloster, dann einer großen Wirtschaft: „Dort hing vor sechzig Jahren noch ein Bildnis von dem Wasserweib, trotz Rauch und Alter noch wohl kenntlich in den Farben. Da hatte sie die Hände kreuzweis auf die Brust gelegt, ihr Angesicht sah weißlich, das Haupthaar schwarz, die Augen aber, welche sehr groß waren, blau.“ (ebd. S. 9)
Kein Fischschwanz, sondern Entenfüße
Die Wasserfrau ist, anders als viele klassische Nixen, nicht durch einen Fischschwanz gekennzeichnet. Sie hat Beine und Füße, kann sich also auf dem Festland fortbewegen, auch wenn sie die Nähe des Wassers nicht verlässt. Doch sie hat eine andere Besonderheit: Sie hat Entenfüße. Interessanterweise greift Mörike hier ein klassisches Sagenmotiv auf, ohne es auszureizen und bis zum Ende auszuspielen. Denn die Entenfüße, die durchaus in einigen Sagen über Wasserwesen eine Rolle spielen, werden in anderen Geschichten oft zur Ursache für Zwist und Verderben, wenn nämlich ein mutwilliger Sterblicher solche Entenfüße oder ihre Fußspuren sieht und den betreffenden Wassergeist darob verspottet und auslacht.
Vom Lachen und Auslachen
Ausgelacht wird die Lau wegen ihrer Füße nie. Sie ist im Märchen eine freundliche, den Menschen zugewandte Dame, neugierig auf die Welt der Landbewohner, die im Gegenzug auch freundlich und respektvoll mit ihr umgehen. Eine leichte Distanz eines Abtes des benachbarten Klosters deutet sich an, aber auch hier gibt es kein Drohen wegen Gottlosigkeit und Hexerei, keine Gefahr durch die Inquisition oder Ähnliches für die Lau. Mörikes Theologie ist über dergleichen inzwischen hinausgewachsen.
Nur eine Sache ist ungewöhnlich an der schönen Lau: Sie kann nicht lachen. Ein ungewöhnliches Manko bei einer Wasserfrau, werden Nixen und Wassergeister doch meist als heitere, fröhliche Wesen geschildert, die mit den Menschen durchaus ihre Scherze treiben. Das Gelächter der griechischen Götterwelt, der fröhliche Tanztee, den Heinrich Heine den Helgoländer Meerjungfrauen andichtet - all dies ist der Lau fremd. In der Welt der Meerjungfrau Undine konnten die zauberhaften Wasserwesen nicht weinen und kannten keine Tränen. Hier ist die Wasserdame auf der Suche nach ihrem Lachen. Und dies durchaus aus traurigen Gründen.
Die verbannte Gemahlin des Donaufürsten
Die Lau ist die Gemahlin des Donaufürsten. Aber sie hat es bislang noch nicht geschafft, ihm Kinder zu schenken. Mehrere Totgeburten hat sie bereits hinter sich. Als Ursache gilt gerade diese Unfähigkeit zu lachen. So ordnet ihr Gatte an, sie solle von ihm getrennt im Blautopf leben, bis sie es geschafft hat, fünfmal zu lachen. Einmal im Jahr sendet er seine Boten und fragt, ob es inzwischen geklappt hat mit dem Lachen. Doch immer wieder bleibt die Antwort ein: „Nein.“
Die Herrin des Blautopfs zu Besuch im Nonnenhof
Mörikes „Historie“ setzt ein mit einem Besuch der schönen Lau im Nonnenhof. Sie will sich bedanken, weil dessen Wirtin ein Stück Land am Ufer des Blautopfs gepflegt hat, und taucht aus einem Brunnen im Keller des Hauses auf. Nonnenwirtin Betha und Blautopfherrscherin Lau freunden sich schnell an, und in der Lau erwacht das Interesse, die Menschenwelt kennen zu lernen. In Faltenrock und Jacke, aber ohne Schuhe und Strümpfe nimmt sie am Nonnenhof-Leben teil. Und als Jutta, die Tochter der Wirtin, sie nach dem Heraussteigen aus dem Brunnen abtrocknet und dabei mit dem Tuch auch an ihren Entenfüßen entlangfährt, da beginnt die Lau zu kichern und steigert sich zu einem lauten Freudengelächter. Ob das gilt als eines der fünf Lachen? Betha zweifelt heimlich. Aber danach scheint ein Damm gebrochen.
Ein Happy End für die Lau
Noch weitere viermal veranlassen Erlebnisse auf dem Nonnenhof die Lau, in Gelächter auszubrechen, darunter ein Traum, in dem der Abt eine lächerliche Rolle spielt. Und tatsächlich, nach dem fünften Lachen braust es und schäumt es im Blautopf, das Wasser scheint über die Ufer treten zu wollen, der Donaufürst hat die frohe Botschaft erhalten, die Lau kehrt zurück nach Hause. Aber neun Monate später taucht sie wieder am Nonnenhof auf, als glückliche Mutter, die ihr Kind präsentieren und sich bedanken will bei ihren Menschenfreunden.
Die Geschenke der Wasserfrau
Sehr interessant sind die Geschenke der Lau. Schon zu Beginn der Geschichte schenkt sie der Nonnenwirtin einen Kreisel aus „wasserhellem Stein“, der auf Festen die Streitigkeiten von Betrunkenen beenden kann - für eine Gastronomiebetreiberin ein unschätzbares Kleinod. Zum Abschied erhält die junge Jutta einen „Fingerreif mit grünem Schmelzwerk“. Die Mutter erhält einen besonderen Segen, den die Lau für die Gäste des Hauses stiften will: Sie hinterlässt einen Krug voller Silbermünzen, aus dem die Wirtin nach Gutdünken wandernden Handwerksgesellen eine oder mehrere mit auf den Weg geben soll. Außerdem fünf besondere Geschenke, die die Handwerksburschen an den fünf besonderen Tagen erhalten sollen. So kommt schließlich auch der wandernde Schuster Seppe, der Protagonist des Hauptmärchens an ein Geschenk der Lau. Für ihn gibt es eine silberne Haube, die er seiner künftigen Braut schenken soll.
Ein Blei-Lot mit Krakenzahn
Außer durch die Haube ist die „Historie der schönen Lau“ noch durch einen zweiten Gegenstand mit der Hutzelmännchen-Handlung verbunden: Es ist ein bleiernes Lot, das das Hutzelmännchen von Seppe als Dank für seine Hilfe erbittet. Das Lot selbst ist nicht wertvoll, aber es steckt ein Zahn eines Kraken darin, der magische Fähigkeiten hat. Wer es im Rucksack auf der linken Seite trägt, wird unsichtbar. Einst gehörte es einem Doktor, der jedoch auf dem Sterbebett seinen treuen Bediensteten Kurt gebeten hatte, das Blei im Blautopf zu versenken. Kurt zieht auch artig zum Blautopf, doch dort angekommen, kommt er auf den Gedanken, das sagenhafte Gewässer, dessen Tiefe noch niemand ergründen konnte, mit dem Lot auszumessen. Er knüpft Leine an Leine, doch immer noch laufen die Leinen im durch die Hände. Schließlich stellt er erstaunt fest: „Der Topf ist währle bodalaus.“ (ebd. S. 27)
Ein Zungenbrecher aus Blaubeuren
Die Schlussfolgerung ist allerdings nicht korrekt: In Wirklichkeit hatte eine scherzlustige Zofe der schönen Lau, Kammerjungfer Aleila, immer weiter an der Schnur gezogen, hatte schließlich die Leine abgeschnitten und eine dicke Zwiebel daran festgebunden. Doch die Lau will dem guten Kurt als Gegengabe dann doch etwas mehr geben und bindet ihr Geschmeide daran. Ein Geschenk, das den Mann schier wahnsinnig macht. Sieben Tage lang läuft der Mann herum wie irre und rasselt immer nur den Zungenbrecher herunter:
„'s lleit a Klötzle Blei glei bei Blaubeura,
glei bei Blaubeura leit a Klötzle Blei.“
Eine Zeit lang nutzt die Lau das magische Blei, um sich unerkannt die Häuser der Menschen anzusehen. Wie das Blei an die Oberfläche gekommen und warum es dort oben herumliegt, sodass Seppe es finden kann, wird nicht gesagt. Möglicherweise geschah es beim Überschäumen des Blautopfs nach dem fünften Lachen. Doch die Lau spricht, als sie der Wirtin ihre Geschenke übergibt, den rätselhaften Satz aus: „Vergesset nicht das Lot! Der kleine Schuster soll es nimmermehr bekommen (S. 33)
Beim Hutzelmännchen im Wort
Das war 100 Jahre bevor der junge Schustergeselle Seppe im Nonnenhof einkehrt. Seppe hatte dem Hutzelmännchen versprochen, ihm diesen Bleiklotz mitzubringen, falls er ihn unterwegs finden sollte. Als er nun im Nonnenhof 100 Jahre nach dem Besuch der Lau die Geschenke erhält, weist ihn der rund 80 Jahre alte Hoferbe darauf hin, er möge, wenn er ein Bleiklötzchen finde, dies zum Nonnenhof bringen. Seppe hätte es beinahe versprochen, doch dann fiel ihm ein, dass er ja bereits beim Hutzelmännchen im Wort war, und er sagte nur: „Ich will sehen.“
Im Endeffekt bringt aber weder das Silberhäubchen dem Seppe seine Braut, noch gibt er das Bleiklötzchen im Nonnenhof ab (zur Rückerstattung an die Lau?). Das Hutzelmännchen erweist sich als die stärkere Figur in diesem Doppelmärchen, die Lau-Geschichte hat weiter keinen Einfluss auf die Haupthandlung, und im Prinzip könnte man die eingelegte Erzählung genau so ersatzlos aus der Hutzelmännchen-Handlung streichen, wie man andersherum ja die Lau-Historie auch separat veröffentlichen konnte. Es sind die Schuhe des Hutzelmännchens, und nicht die Haube, die Seppe zu seiner Braut führen. Und es ist das Hutzelmännchen, dem Seppe, seinem Versprechen gemäß, das Blei aushändigt. Es gibt ein Happy End. Und von der Lau spricht niemand mehr.
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© Petra Hartmann