Nestis und ihre Ahnherrinnen: Die Göttin Tethys
Nestis Meerjungfrauen Nixen griechische Mythologie
In meiner Serie über Wasserfrauen, Meergottheiten und Nixen möchte ich euch heute eine alte griechische Göttin vorstellen: Tethys, Meergöttin und Angehörige des alten Göttergeschlechts der Titanen, ist die vermutlich älteste und ehrwürdigste Ahnherrin meines Meermädchens Nestis. Und wenn ihr jetzt denkt: Moment, die hatte sie doch schon mal ... Nein, hatte ich nicht. Sie wird nur gelegentlich mit ihrer Enkelin Thetis verwechselt, man beachte die Feinheiten der Orthografie.
Tethys gehörte zu den Titanen, den sechs Göttinnen und sechs Göttern des goldenen Zeitalters der griechischen Mythologie. Ihre Eltern waren die Göttin Gaia (Erde) und der Gott Uranos (Himmel). Hesiod schildert die Geburt der Titanen in seiner Theogonie folgendermaßen:
Gaia brachte zuerst, ihr gleich, den sternenreichen Uranos hervor, damit er sie ganz bedecke und den seligen Göttern ein niemals wankender Sitz sei. [...] Dann aber gebar sie, von Uranos umarmt, den tiefwirbelnden Okeanos, auch Koios und Kreios und Hyperion und Iapetos, dazu Theia und Rheia und Themis [...] und Mnemosyne, Phoibe, die goldbekränzte, und die Tethys.
(Hesiod: Theogonie. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam, 1999. V. 126-136.)
Die Mutter der Okeaniden
Die Zahl ihrer Nachkommen ist groß. Hier der Katalog, den Herodot aufgestellt hat:
Tethys aber gebar dem Okeanos wirbelnde Ströme:
Neilos, Eridanos auch, den Strudeler, und den Alfeios,
Strymon, Mäandros zugleich, und den schönhinflutenden Istros,
Auch Acheloos mit Silbergeroll, auch Rhesos, und Fasis,
Nessos, und Rhodios auch, Heptaporos, und Haliakmon,
Simois dann, den gefeirten, Granikos dann, mit Äsepos,
Hermos, und, mit Peneios, den wasserreichen Kaïkos,
Ladon, Parthenios auch, und des großen Sangarios Gottheit,
Auch Euenos, Ardeskos zugleich, und den edlen Skamandros.
Töchter gebar sie darauf, hochheilige, welche des Erdreichs
Männer zur Reif aufnähren, sie selbst und der Herscher Apollon,
Auch die Ströme; denn solches beschied Zeus ihnen zum Antheil.
Peitho, Admete zugleich, Ianthe sodann, und Elektra,
Doris, und Prymno zunächst, und Urania, göttlicher Bildung,
Klymene, Rhodia auch, Kalliroe dann, mit der Hippo,
Zeuxo, und Klytie dann, und Pasithoe, samt der Idya,
Galaxaure, Plexaure zugleich, und die holde Dione,
Thoe, Melóbosis dann, und die edle Gestalt Polydora,
Dann, mit der schönen Kerkeïs, die hoheitblickende Pluto,
Xanthe, samt Ianeira, Perseïs auch, und Akaste,
Auch Europa, Menestho zugleich, und die schlanke Peträa,
Metis, Eurýnome dann, und im Safranmantel Telestho,
Asia dann, Kreseïs darauf, und die hehre Kalypso,
Tyche, mit Amfiro dann, und Okýroe, samt der Eudora,
Styx auch, welche vor allen in höherer Würde hervorragt.
Diese von Tethys zugleich und Okeanos stammenden Töchter
Sind durch Alter erhöht; auch giebts noch viele der andern.
Denn drei Tausende sind leichtfüßiger Okeaninen,
Welche verstreut in Menge das Land und die Gründe des Meeres
Ringsumher durchschalten, der Göttinnen herliche Kinder.
Eben so viel auch sind dumpfrauschender Ströme noch übrig,
Sie, des Okeanos Söhn', und der ehrfurchtwürdigen Tethys:
Welche gesamt mit Namen ein Sterblicher schwerlich benennet;
Doch sie kennen für sich die zunächst anwohnenden Männer.
(Hesiod: Theogonie oder Der Götter und Göttinnen Geschlecht. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. V. 330-363. Ausgabe Tübingen, 1911. Projekt Gutenberg.)
Stammbaum der Tethys laut Platons "Timaios"
Einen leicht veränderten Stammbaum gibt Platon seinen Lesern im Dialog "Timaios". Darin lässt er den Namensgeber des Dialogs in einem Referat über die Weltschöpfung, die Gestirne und die Entstehung der Götter berichten:
Als Kinder der Ge (Erde) und des Uranos (Himmel) wurden Okeanos und Tethys geboren, von diesen wiederum Phorkys, Kronos und Rhea, und alle ihre Geschwister; von Kronos und Rhea aber Zeus, Hera und alle, die nach unserem Wissen ihre Geschwister und sonstigen Nachkommen von ihnen genannt werden.
(Platon: Timaios. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn. Stuttgart, 2009. Kapitel 13. S. 65.)
Wissenschaftler vermuten, dass Platon hier versucht hat, Hesiod und Homer zu versöhnen. Denn bei Homer hatte Hera Okeanos und Tethys als "Ursprung der Götter", Tethys gar als "Mutter Tethys" bezeichnet. Doch wird zumindest das "Mutter" einfach dadurch zu erklären sein, dass Tethys wohl als Amme und Ziehmutter Heras fungiert hatte.
Homers Bericht über den Ehekrach im Meer
In der Ilias erhalten wir nähere Informationen über Tethys und ihren Gatten Okeanos: Zum einen wird berichtet, die beiden hätten während des Krieges zwischen Kronos (dem Obergott der Titanen) und seinem Sohn Zeus (dem Anführer des olympischen Göttergeschlechts) ihre Nichte Hera, Zeus' Schwester, bei sich aufgenommen. Das ist insofern bemerkenswert, als deutlich wird, dass nicht alle Titanen auf Kronos' Seite waren. Seine Frau Rhea schützte ihre Kinder vor Kronos' Zorn, und auch die Meergötter Okeanos und Tethys sorgten für Kronos' Tochter Hera. Des weiteren berichtet Homer von einem Ehekrach im Ozean, über dessen Ursache man jedoch nichts Genaueres erfährt.
Als Hera in der Ilias Zeus in einen Zauberschlaf fallen lassen will und sich von Aphrodite dazu einen Liebeszauber ausleiht, erklärt sie:
Denn ich gehe nun hin zu den Grenzen der fruchtbaren Erde,
Will nach dem Ursprung der Götter, Okéanos und Mutter Tethys
Schauen, die mich zu Hause behüteten und mich erzogen,
Rheia brachte mich hin, als Zeus, der donnernde, Kronos
Unter die Erde und unter das wogende Meer hinab sandte.
Denn schon lange Zeit enthalten sie beide einander
Sich vom Lager der Liebe, da Zorn ihr Gemüt hat befallen.
Könnte ich beiden ihr liebes Herz durch Worte bewegen,
Auf ihr Lager zu steigen und sich in Liebe zu einen,
Würde ich immer bei ihnen lieb und achtbar geheißen.
(Homer: Ilias. Neue Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe. Stuttgart: Reclam, 1979. XIV, 199-210, ähnlich auch XIV, 302-306.)
Tethys verweigert dem Großen Bären die Ruhe im Meer
Die besondere Verbindung der Götterkönigin Hera zu ihrer Amme Tethys wird auch in der Geschichte der Sternbilder Großer Bär und Kleiner Bär sichtbar. Es ist eine der vielen Sagen über die Seitensprünge des Götterkönigs Zeus, der hier die schöne Kallisto, eine Jungfrau im Gefolge der Artemis, schwängerte. Der römische Dichter Ovid erzählt, dass die Jagdgöttin Diana (Artemis), als sie ihre Dienerin plötzlich als schwanger, also unkeusch, auffand, hochgradig erzürnt war. Sie verstieß sie, und Juno (Hera) verwandelte die Frau in eine Bärin. Der aus der Verbindung entstandene Sohn Arcas wurde 15 Jahre später ein großer Jäger und geriet eines Tages an ebendiese Bärin, die er aber nicht als seine Mutter erkannte. Um den Muttermord zu verhindern, griff Jupiter (Zeus) in letzter Sekunde ein und versetzte beide als Sternbild Großer und Kleiner Bär an den Himmel. Für Juno erneut Anlass zum Zorn: Ihre Nebenbuhlerin nun auch noch als leuchtendes Sternbild am Himmel zu sehen, war der Kränkung zuviel. So bat sie ihre Amme Tethys (bezeichnenderweise haben die Römer als Nicht-Seefahrer-Nation für diese Gottheit keinen eigenen lateinischen Namen) um Hilfe:
Juno ergrimmte: jetzt funkelte unter den Sternen die Kebse!
Nieder stieg sie zum greisen Oceanus und zu der grauen
Tethys ins Meer, vor denen schon oft die Götter sich beugten,.
Als nach dem Grund ihres Kommens sie fragten, da sagte die Göttin:
"Möchtet ihr wissen, warum aus aetherischen Sitzen der Götter
Fürstin hier unten erscheint? Eine andre verdrängt mich am Himmel!
Lautere Wahrheitr ist's: wenn die Nacht die Erde verfinstert,
Seht ihr am Himmel dort oben - für mich sind's Wunden! - die Sterne,
Welche man jüngst zu Ehren erhob, an den Ort, wo zu äußerst
Sich um die Achse der kürzeste Kreis und der letzte herumzieht.
Und da sollte noch jemand sich scheuen, die Juno zu kränken,
Vor der Beleidigten zittern? Ich strafe - da nützt die Bestrafung!
Wahrlich! Was hab ich vollbracht! Meine Macht, wie ist sie gewaltig!
Mensch sein ließ ich sie nicht: da wurde sie Göttin! Wahrhaftig,
Frevler bestrafe ich so! So riesig ist meine Befugnis!
Soll er ihr doch die alte Gestalt wieder schenken, die wilde
Fratze ihr nehmen, wie einst er Phoronis von Argos begnadet!
Weshalb verstößt er nicht Juno und ehelicht jene? Er soll sie
Doch in mein Schlafgemach setzen, Lycaon zum Schwäher sich wählen!
Greift es euch aber ans Herz, daß man so euren Pflegling mißachtet,
Wehrt dem Siebengestirn die Fluten, die blauen! Die Sterne ,
Die man, um Unzucht zu lohnen, hinauf an den Himmel versetzte,
Stoßt sie hinweg! Sonst badet im lauteren Meer die Kebse!"
Willig waren die Götter des Meeres (...)
(Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Epos in 15 Büchern. Übersetzt und herausgegeben von Herrmann Breitenbach. Stuttgart: Reclam, 1990. II, 508-531)
Das tragische Ende des Phaëton
Auch sonst ist Tethys als personifiziertes Meer bei Ovid vor allem gekennzeichnet als Ort, in dem Gestirne ihren Ruheraum haben. Zum Beispiel als nächtlicher Aufenthalt der Sonne, die am Morgen aus den Schranken der Tethys entlassen wird. So beschreibt Sonnenlenker Apoll seinem Sohn Phaëton die letzte Etappe des Sonnenwagens folgendermaßen:
Tethys selbst, die mich birgt in den unten sich breitenden Wellen,
Fürchtet da wohl, daß es jählings hinab in die Tiefe mich reiße.
(Ovid: Metamorphosen. II, 68f.)
Als wenig später Phaëton dann mit dem Sonnenwagen an die Schranken des Wassers gelangt, heißt es:
Tethys schiebt sie zurück, nicht ahnend das Schicksal des Enkels. (Ovid: Metamorphosen, II, 156.)
Wobei das Wort "Enkel" hier etwas unpassend ist. Denn Tethys war weder Großmutter von Apoll noch von dessen Sohn Phaëton. Als Schwester von Apolls Großeltern Koios und Phoibe wäre sie wohl dessen Großtante und somit Phaëtons Urgroßtante ...
Die Verwandlung des Aesacos
Auch den Aesacos, der nach dem Tod seiner Geliebten von einer Klippe springt, nimmt die Meeresgöttin liebevoll in sich auf und verwandelt ihn in einen Vogel:
Doch Tethys empfindet Erbarmen, und linde
Nimmt sie ihn auf und, wie er die Fluten durchschwimmt, überkleidet
Sie ihn mit Federn: er kann ihn nicht finden, den Tod, den ersehnten.
Aber der Liebende zürnt: er will nicht mehr leben, man zwingt ihn,
Sucht seiner Seele zu wehren, ihr klägliches Haus zu verlassen,
Die es doch wünscht! Und als er die Schultern so seltsam beschwingt fühlt,
Fliegt er empor, und wiederum stürzt in die Fluten sein Körper;
Federn erleichtern den Sturz. Und Aesacos wütet: kopfüber
Geht er zur Tiefe, und endlos versucht er, zum Tod zu gelangen.
Liebende Sehnsucht magert ihn ab: lang werden die Stelzen-
Beine, der Hals bleibt lang, der Kopf ist entfernt von dem Leibe.
Fernerhin liebt er das Meer, und es bleibt ihm der Name vom Tauchen.
(Ovid: Metarmorphosen, XI, 784-795)
Glaukos wird ein Meergott
Zuletzt schließlich erzählt Ovid von einer ähnlichen Verwandlung, von der des Glaucus (Glaukos Pontios) in einen fischschwänzigen Meergott. Glaucus hat nach seiner ungewöhnlichen Metamorphose nichts Eiligeres zu tun, als die beiden ozeanischen Urgötter anzurufen:
"Nie wirst du mich wieder erblicken,
Erde! leb wohl!" so ruf ich und spring in die Tiefe der Wellen.
Und sie nehmen mich auf, die Götter des Meeres: sie gönnen
Mir die Ehre, der Ihre zu werden; sie fordern von Tethys
Und von Oceanus, von mir zu nehmen, was sterblich.
(Ovid: Metamorphosen. XIII, 947-951)
Teen Titans gegen Titanen
Meinen ersten Kontakt mit Tethys und den anderen Titanen verdanke ich übrigens nicht Herodot, sondern wie viele Kinder des Silver Age einem Comic-Album: Die "Teen Titans" - in der Ehapa-Zeit firmierten sie unter dem Namen "Junge Giganten" - treffen in ihrem 6. Album, erschienen 1983, auf ihre mythologischen Namenspatronen. Leider ging in der Übersetzung dieser Aspekt verloren, denn in der deutschen Version trafen nicht junge Titanen auf alte Titanen, sondern es hieß nur: "Giganten gegen Götter".
Sehr einprägsam fand ich die Gegenüberstellung der einander zugeordneneten Geschwister/Ehepaare. Allerdings hat der Autor hier an einigen Stellen gepatzt. So sprach er von zwei Göttinnen "Thia" und "Theia", wobei Thia mit Hyperion verheiratet war und ein Sonnengötter-Paar bildete, während "Theia" Gattin und Schwester des Japetos war und beide als Gerechtigkeitsgötter fungierten. In der tatsächlichen Überlieferung gab es aber nur vier und nichts sechs Paarbeziehungen unter den Titanen: Okeanos und Tethys, Kronos und Rhea, Koios und Phoibe sowie, wie gesagt, Hyperion und Theia. Dem Japetos, der hier als Gerechtigkeitsgott bezeichnet wird, war zwar seine Schwester die Gerechtigkeitsgöttin Themis in der Funktion verwandt. Als "Paar" werden die beiden jedoch eher selten gehandelt. Japetos ehelichte die Okeanide Klymene (gelegentlich auch Asia). Themis wurde Gattin des Zeus (Ja, er hatte mehrere). Kreios heiratete die Eurybia, eine Tochter des Meeresgottes Pontos, während Mnemosyne durch Zeus Mutter der Musen wurde.
Interessant ist, dass der Comic auch im Hinblick auf den Stammbaum der Olympier etwas daneben liegt. Im Kampf um den Olymp kommt es zu der hier dargestellten Begegnung und einem Dialog, der vollkommen mit der mythologischen Grundlage bricht:
Tethys und Okeanos kämpfen gegen Poseidon und bezeichnen ihn als ihren Sohn. Das ist falsch, da Poseidon - wie Zeus, Hera, Hades, Demeter und Hestia - ein Kind von Kronos und Rhea ist.
Richtig wäre demnach gewesen, wenn die beiden Titanen den Olympier als ihren "Neffen" bezeichnet hätten. Aber das klingt natürlich nicht so dramatisch wie ein Kampf auf Leben und Tod zwischen Eltern und ihrem Sohn.
Namenspatronin für Mond, Meer und Mount
Bleibt noch festzuhalten, dass nach Tethys ein Saturnmond - (mytho)logischer wäre natürlich ein Uranus-Mond - sowie ein urzeitliches Meer im Mesozoikum zwischen Gondwana und Laurasia benannt wurden. Außerdem trägt der 1252 Meter hohe Berg "Mount Tethys" auf Südgeorgien ihren Namen.
In meiner Nestis-Serie habe ich mich allerdings mehr an ihre Enkelin Thetis, die Tochter ihrer Tochter Doris, gehalten. Thetis wurde der Name einer Schwester von Nestis. Aber ein paar Erinnerungen an Tethys könnt ihr vielleicht auch in der grummeligen und doch gutherzigen Meergroßmutter entdecken ...
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© Petra Hartmann