
Ruth Klüger: Zerreißproben

Soll ein Dichter seine Gedichte erklären? Ja, meint Ruth Klüger. In ihrem Gedichtband "Zerreißproben" versammelt sie Lyrik aus frühester Jugend - entstandem in den Konzentrationslagern Auschwitz, Theresienstadt und Christianstadt -, Gedanken über Sprache und Fremdheit, entstanden in den USA, Beobachtungen aus Wien, Germanistische Fragen, deutsche und englischsprachige Verse und immer wieder eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition.
Es ist eine sehr vielschichtige Sammlung, und doch, wenn man bedenkt, dass es hier um gut sieben Jahrzehnte lyrisches Schaffen geht, ist es dennoch ein recht schmales Bändchen. Und braucht es nun die Erläuterungen? Sollte Literatur nicht selbsterklärend sein und ohne langes Herumdeuten beim Leser ankommen?
Bei manchen Gedichten sind für den unbedarften Leser tatsächlich die Kommentare interessanter und wichtiger als die tatsächliche literarische Qualität. Ein Umstand, auf den die Autorin mehrfach selbst hinweist. "Das Gedicht ist so banal wie möglich", schreibt sie anlässlich ihres Gedichts "Auschwitz", das sie als 13-Jährige im Jahr 1944 verfasste. "Und außerdem ist es viel zu lang. Es ist ein gutes Beispiel von Versen, die nicht um ihrer selbst willen interessant snd, sondern wegen der Umstände, unter denen sie verfasst wurden." Dennoch ist zum Beispiel das direkt folgende Gedicht "Der Kamin" mehr als nur biographisch interessant. Es geht um den Rauch über Auschwitz und darum, was und wer dort alles verbrannt wurde. Noch immer erschütternd.
Sehr wichtig scheint mir auch das ausdrückliche Bekenntnis der Autorin zur Assonanz, dem "unreinen Reim", den sie außerordentlich liebt und der, wie sie schreibt, im angelsächsischen Bereich wesentlich verbreiteter und wertgeschätzter ist als in Deutschland. Was unter Umständen dem Puristen ungelenk erscheinen mag, war also hier gerade Absicht.
Fast ihr Leben lang hat sich die Dichterin an der deutschen Sprache abgearbeitet. Muttersprache, und doch Feindin geworden, eine Sprache, die an die Vergangenheit erinnerte, eine Sprache, die Klüger ihre Kinder in den USA nicht lehrte, sie selbst lernte Englisch erst mit 16 Jahren. Früh genug, um es noch geläufig sprechen zu lernen. Zu spät, um die Muttersprache zu ersetzen. "Ich habe, bis ich mit sechzehn Jahren in die USA auswanderte, keine andere Sprache gehabt als die deutsche, und so innig mein Verhältnis zur deutschen Literatur war, so innig wollte ich sie wieder loswerden und mir eine neue erobern", schreibt sie im Kommentar zu ihrem Gedicht "Deutsche Sprache". In den Versen erzählt sie von "diesen Lauten, die ich zu verlernen / versuchte, weil die spitzen Konsonanten / das wunde Fleisch der Kinderjahre kannten". Und doch dichtete sie fast ausschließlich auf Deutsch weiter. Lediglich im letzten Abschnitt stellt sie vier ihrer Gedichte vor, die auf Englisch geschrieben wurden und denen sie eine deutsche Fassung zur Seite stellt.
Ein Großteil der Gedichte widmet sich der Geschichte des Judentums, die immer wieder als aktuelle Erfahrung neu hervortritt, also nicht historisiert und zu den Akten gelegt werden kann. Ob das die Erfahrung der "Diaspora" im gleichnamigen Gedicht ist oder der "Jom Kippur": "Und dieses Jahr wie jedes Jahr / zehrt und zehrt der Hunger der Toten / an dem Fleisch der Lebendigen."
Immer wieder tauchen die Toten auf, auch zu Halloween in den USA, wenn das lyrische Ich von den Geistern längst verstorbener Verwandter bedrängt wird. Solche Geister haben die Eigenschaft, dass sie einen nicht überraschen, hält sie fest, man weiß genau Tag und Stunde, wann sie sich einstellen.
Dazwischen beinahe heitere Impressionen aus Wien über zwei ältere Professorinnen, die im Volksgarten die Statuen verwechseln und sich in Damenschuhen übers Kopfsteinpflaster quälen. Weiterhin gibt es ein Kranzgedicht über eine verstorbene Wissenschaftskollegin, mit der sie nun nie wieder Streitgespräche führen wird. Man findet aber auch ein Aufbegehren in "Jessica lässt sich scheiden", in dem mit Shakespeares Shylock, aber auch mit dem eigenen Vater und dem Ehemann abgerechnet wird.
Ob Gedichte nun für sich selbst sprechen sollen, ober ob ein Autor sie erklären sollte, darüber kann man geteilter Meinung sein. Gerade bei den autobiographischen Details, die der Leser nicht wissen kann, hat sich der Selbstkommentar als ausgesprochen hilfreich und vor allem sehr lesenswert erwiesen. Auf jeden Fall haben Klügers Erläuterungen nichts zu tun mit unangenehmem Pointenreklären gegenüber Leuten, die den Witz nicht verstanden haben. In diesem Buch bilden Gedichte und kommentierende Selbstreflexion, und man möchte keinen der beiden Bestandteile wissen.
Fazit: Ein ungewöhnliches Buch, das durch die Kommentierung sehr gewinnt. Gedichte und Gedanken, die bewegen und nicht verstummen, wenn man den Buchdeckel zugeschlagen hat. Ausgesprochen lesenswert.
Ruth Klüger: Zerreißproben. Kommentierte Gedichte. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2013. 117 S. Euro 14,90.
© Petra Hartmann