Weihnachtsmärchen: Minnie, das kleine Schaf
Weihnachten Weihnachtsmärchen
Euch allen ein friedliches und gesundes Fest. Lasst euch viel vom Weihnachtsmann bringen und habt eine gute Zeit. Und wenn ihr Lust habt auf Lektüre, hier mein aktuelles Weihnachtsmärchen für euch. Viel Spaß damit!
Minnie, das kleine Schaf
So viele Leute! Minnie, das kleine Schaf, schaute sich staunend um, und die Flammen der Kerzen spiegelten sich in ihren großen, blauen Augen. Alle diese Leute waren nur wegen ihr gekommen, dachte sie stolz. Wenn nur das Fell nicht so kratzen würde. Vorsichtig schob sie die Hand unter den Pelz und versuchte, die Stelle zu erwischen, an der es am schlimmsten juckte. Aber da hatte Elli, die Hirtin, sie schon erwischt und zog sie energisch am Arm. „Lass das, Minnie!“, schimpfte sie. „Benimm dich gefälligst wie ein anständiges Schaf und nicht wie ein Baby.“ Sie zog Minnies Schafsfell wieder gerade und schob das Mädchen zurück hinter den Altar. „Ich hab ja gleich gesagt, dass du noch viel zu jung bist für das Krippenspiel. Jetzt habe ich dich an der Backe. Verdammt, ich bin Hirtin und kein Babysitter.“
„Bin gar nicht zu jung“, maulte Minnie. „Ich bin schon fünf. Und Grippe spielen kann ich auch schon.“
Elli schnaufte verächtlich. Sie blickte ins Publikum und versuchte, sich auf ihren Text zu konzentrieren. Minnie hatte es gut. Die Kleine musste einfach nur „Mäh“ sagen und niedlich gucken. „Kommt doch zu uns in den Stall, da ist es schön gemütlich“, murmelte Elli vor sich hin. „Kommt doch zu uns in den Stall, da ist es schön gemütlich. Kommt doch ...“ Ihre Mutter hatte sie gestern bestimmt hundertmal abgehört. Und trotzdem hatte sie bei der Generalprobe wieder
vergessen, was sie sagen sollte. „Kommt doch zu uns in den Stall ...“, murmelte sie.
„Mäh“, sagte Minnie.
„Noch nicht, Minnie!“, zischte Elli ungehalten. Da bemerkte sie, dass das kleine Schaf nicht mehr neben ihr stand.
Gelächter hallte durchs Kirchenschiff. Elli stöhnte leise. Da hatte dieses dusselige Schaf sich doch tatsächlich vor dem Altar aufgestellt und strahlte stolz ins Publikum, als ob es die Hauptrolle in diesem Stück spielen würde. Kein Mensch achtete mehr auf den dicken Oliver, der aus dem großen Buch soeben die Worte vorlas: „Es begab sich aber zu der Zeit, da ein Gebot ausging vom Kaiser Augustus ...“
Elli wurde knallrot. Aber es nützte nichts, sich hier hinter dem Altar zu verstecken. Entschlossen trat sie nach vorn, klemmte sich das zappelnde Schaf unter den Arm und trug es zurück in ihr Versteck. Gelächter folgte ihnen.
„Kommt jetzt das Liebespaar?“, flüsterte Minnie und lugte neugierig hinter dem Altar hervor.
„Sei still“, sagte Elli, und dann dachte sie wieder: „Kommt doch zu uns in den Stall, da ist es ...“ Himmel! Was war das noch? Wie war es im Stall? Warm? Kuschelig? Elli ballte die Fäuste. „Kommt doch zu uns in den Stall †¦?“ Und weiter? Sauber war es sicher nicht in dem Stall. Ob billig das richtige Wort war? Maria und Josef hatten sicher nicht so viel Geld, da konnten sie eine billige Unterkunft gut gebrauchen. „Kommt doch zu uns in den Stall, das ist gut und günstig“, murmelte sie vor sich hin. Es klang nicht schlecht.
„Mäh“, sagte Minnie.
Beneidenswert, dachte Elli.
Dennis und Miriam, die an diesem Abend Maria und Josef spielten, waren inzwischen in Betlehem angekommen und standen vor dem prächtigen Weihnachtsbaum. Miriam hatte sich ein dunkles Seidentuch über Kopf und Schultern geworfen, und unter dem Kleid hatte sie sich ein dickes Sofakissen vor den Bauch gebunden. Dennis stützte sie und half ihr beim Gehen.
„Halte durch, Liebes“, sagte er. „Da vorne sehe ich schon eine Her...“
„Berge!“, flüsterte der Pastor.
Dennis sah ihn verwirrt an. Aber dann wiederholte er gehorsam: „Da vorne sehe ich schon die Berge. Da gibt es gewiss ein Zimmer für uns.“
„Das hättest du wohl gern!“ Kevin Biermann, der Sohn des örtlichen Gastwirts, hätte am liebsten selbst den Josef gespielt und war immer noch sauer darüber, dass der Pfarrer Dennis die Rolle gegeben hatte, weil der angeblich mehr Grips hatte und sich den langen Text besser merken konnte. Pah! Wie man unerwünschte Gäste abblitzen lässt, hatte Kevin längst von seinem Vater gelernt, da brauchte er das Textheft nicht. Er baute sich breit und drohend vor dem jungen Paar auf und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. „Hier ist alles voll!“, dröhnte er. „Für solches Gesocks wie euch haben wir keinen Platz.“
„Aber meine Frau erwartet ein Baby“, sagte Josef. „Die Wehen können jeden Moment einsetzen.“
„Is†˜ nich†˜ mein Problem. Zieht Leine, oder ich rufe die Polizei.“
„Pfui, du bist gemein!“, rief da das kleine Schaf. Ehe Elli die Kleine halten konnte, hatte sich Minnie schon losgerissen und sprang wie ein wütender Terrier auf den verblüfften Wirtssohn los. „Schäm dich, Kevin!“, schimpfte Minnie. „Es ist eiskalt da draußen, und die Frau kriegt gleich ein Baby.“
„A-aber es sind doch alle Zimmer belegt“, stotterte Kevin verdutzt.
Minnies Augen funkelten wütend. Sie holte aus und trat Kevin mit voller Wucht vors Schienbein. Der schrie auf und hätte beinahe beim Herumhopsen auf einem Bein den Tannenbaum umgerissen, wenn der Pastor nicht rechtzeitig zugepackt hätte. Minnie sprang hinterher und wollte noch ein zweites Mal zutreten. Aber Elli packe sie und nahm sie in den Schwitzkasten. „Willst du wohl still sein, du dummes Schaf!“, zischte sie. „Du machst alles kaputt!“
„Gar nicht wahr“, sagte Minni. „Der doofe Kevin macht alles kaputt.“ Sie wand sich aus der Umklammerung und lief zu Miriam und Dennis hinüber. „Ihr könnt bei mir im Kinderzimmer übernachten. Und morgen Früh sehen wir weiter.“ Damit packte sie Maria bei der Hand und zog sie hinter sich her durch den Mittelgang zur Kirchentür. Maria war viel zu verblüfft, um Widerstand zu leisten. Und auch Josef, der zu dem Schluss kam, dass sein Platz an Marias Seite war, folgte mit unsicheren Schritten dem Schaf, das ihnen eine Unterkunft angeboten hatte.
„Halt!“, rief da eine dünne, aber entschlossen klingende Stimme durchs Kirchenschiff. Elli musste all ihren Mut zusammennehmen. Ein wenig unheimlich war es ihr schon, als sie plötzlich ganz allein vor dem Altar stand und alle sie anstarrten. Aber plötzlich wusste sie ganz genau, was sie sagen musste, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus: „Ich weiß etwas viel Besseres: Kommt doch zu mir in den Stall, da ist es ganz warm und gemütlich, und ihr könnt im Stroh schlafen. Wir haben eine Krippe für euer Kind und ganz viele Tiere zum Streicheln, das ist richtig toll.“
Minnie zögerte. „Ist das wirklich wahr?“, fragte sie misstrauisch.
„Aber ja“, nickte Elli. „Das ist rÃchtig kuschelig. Und sie dürfen die Schafe streicheln. Versprochen.“
„Und in der Bibel steht†™s auch drin“, meldete sich Oliver zu Wort und schwenkte das große schwarze Buch, aus dem er vorgelesen hatte.
Als Minnie die gemütlichen Strohballen und die Windlichter sah, die die anderen Kinder inzwischen aufgebaut hatten, nickte sie gnädig. Und da waren ja auch Anton und Jennifer, die den Ochsen und den Esel spielten. Eben schoben auch die anderen Schafe die Krippe für das Baby herbei.
Würdevoll marschierte Minnie vor dem heiligen Paar auf die Krippe zu. Den Wirtssohn Kevin streifte sie im Vorübergehen mit einem vernichtenden Blick und musterte dann die Strohballen kritisch. Aber als endlich das Jesuskind glücklich und frisch gewindelt in der Krippe lag, als Engel, Hirten und Könige gemeinsam im Stall zu Betlehem standen und sangen, da war auch der letzte Funken von Misstrauen aus dem Blick des kleinen Schafs verschwunden. Minnie schaute mit ihren leuchtenden blauen Augen ins Publikum und strahlte zufrieden über das Wunder, das sie vollbracht hatte.
Stille trat ein.
Sanft stieß Elli sie an. „Jetzt“, flüsterte sie. „Sag es.“
Und Minnie sagte: „Mäh!“
© Petra Hartmann