Meerjungfrauen haben keine unsterbliche Seele. Sie werden dreihundert Jahre alt und treiben dann als Schaum auf dem Meer. So schrieb es Hans Christian Andersen in seinem im Jahre 1837 erschienenen Märchen. Das Motiv, dass solche eigentümlichen Wasserwesen zwar keine Seele haben, aber sich danach sehnen und durch Heirat mit einem Menschen eine Seele bekommen können, ist jedoch wesentlich älter und deutet sich schon in der mittelalterlichen Geschichte von Melusine an, von der später noch zu reden sein wird.
Von ganz eigener Andersen-Poesie dagegen ist das Bild vom Schaum auf dem Meer, das sich leitmotivisch durch das gesamte Märchen hindurch zieht. Es ist nicht nur das Ziel und Ende jedes Meerfrauenlebens, auch in eigentlich recht "harmlosen" Situationen taucht der leichte weiße Meerschaum immer wieder auf und erinnert an das dunkle Verhängnis, das wie ein Damoklesschwert über der kleinen Meerfrau schwebt. Etwa wenn ihre Schwestern sie auf der Schiffsreise begleiten und dann schnell untertauchen, um sich vor dem Schiffsjungen zu verstecken, der dann glaubt, er hätte nur "Schaum auf dem Meer" gesehen.
Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen mit dem Prinzen spielte der Meerschaum eine große Rolle. Sie rettete ihm das Leben, schleppte ihn an Land, und als dann Menschen kamen und ihn fanden, verbarg sie sich unter Meerschaum und ließ sich nicht sehen. Diese leichten Schaumflocken, unter denen sie sich versteckte, sind letztlich der Ausgangspunkt einer fatalen Entwicklung. Denn möglicherweise hätte der Prinz sie ja doch geheiratet, wenn er sie nur als seine Retterin erkannt hätte ...
Im Tanz ist sie leicht wie eine Luftblase, auch dies dem Schaum verwandt, sie schwebt dahin auf schmerzenden Füßen, und bei jedem Schritt ist ihr, als träte sie auf scharfe Messer und zweischneidige Schwerter. Es sind die "Meermädchenschmerzen" die der Teufel in Thomas Manns "Doktor Faustus" auch dem Komponisten Adrian Leverkühn versprochen hat, und als ich das Buch zum ersten Mal las, war ich fest davon überzeugt, der unheimliche Vertragspartner habe Adrian, da er ja keine Menschen von Fleisch und Blut lieben durfte, die kleine Meerjungfrau zugeführt, und aus deren Verbindung sei dann der kleine Echo entstanden, ähnlich dem Goetheschen Euphorion ... Aber das ist natürlich Spekulation.
Andersen jedenfalls macht von Anfang an klar, dass der junge Prinz, für den sie alles aufgegeben hat, sie nicht einmal als Frau und Heiratskandidatin wahrnimmt. Sicher hat er sie auf eine freundliche, asexuelle Art ins Herz geschlossen. Er nennt sie sein "kleines Findelkind", später darf sie wie ein kleines Schoßtier auf einem Kissen vor seiner Schlafzimmertür schlafen, doch selbst wenn er sie des Nachts im Zimmer hätte, würde sich wohl zwischen beiden nichts abspielen. Schließlich lässt er ihr sogar Männerkleidung nähen, um mit ihr auf Entdeckertouren zu gehen, sie wird bester Freund, Kumpeline, Buddy, was auch immer, ist immer mit dabei, aber gerade dadurch in aussichtsloser Position. Erst ganz zum Schluss ihrer gemeinsamen Zeit keimt ein winziger Hoffnungsschimmer auf, als er irgend eine Prinzessin heiraten soll und meint: "eher würde ich dich heiraten ..." Allerdings wieder verbunden mit der Anrede "mein kleines Findelkind". Das kann nichts werden. Und die Träume der kleinen Meerfrau zerrinnen wie Schaum auf dem Meer.
Hier also der vorletzte Teil meiner Andersen-Übersetzung. Viel Vergnügen dabei.
Hans Christian Andersen:
Die kleine Meerjungfrau
übersetzt von Petra Hartmann
Teil IV
(zu Teil I, Teil II, Teil III, Teil V)
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da sah sie des Prinzen Schloss und stieg die prächtige Marmortreppe hinauf. Der Mond schien hell und klar. Die kleine Meerfrau trank den scharf brennenden Trank, und es war, als fahre ein zweischneidiges Schwert durch ihren schönen Leib, sie wurde ohnmächtig und lag da wie tot. Als die Sonne über das Meer strahlte, wachte sie auf, und sie sie fühlte einen schneidenden Schmerz, aber direkt vor ihr stand der schöne junge Prinz, er richtete seine kohlschwarzen Augen auf sie, da schlug sie ihre nieder und sah, dass ihr Fischschwanz verschwunden war und dass sie die hübschesten kleinen weißen Beine hatte, die ein kleines Mädchen haben konnte, aber sie war ganz nackt, darum hüllte sie sich in ihr üppiges langes Haar. Der Prinz fragte, wer sie sei und woher sie komme, und sie sah sanft und doch betrübt auf ihn mit ihren dunkelblauen Augen, sprechen konnte sie ja nicht. Da zog er sie an der Hand hoch und führte sie in das Schloss hinein. Jeder Schritt, den sie tat, war, wie die Hexe ihr vorhergesagt hatte, als ob sie auf spitze Nadeln und scharfe Messer träte, aber das ertrug sie gern. An der Hand des Prinzen stieg sie so leicht wie eine Luftblase hinauf, und er und alle anderen staunten über ihren leichten, schwebenden Gang.
Kostbare Kleider aus Seide und Musselin bekam sie zum Anziehen, im Schloss war sie die Schönste von allen, aber sie war stumm, konnte weder singen noch sprechen. Schöne Sklavinnen, gekleidet in Seide und Gold, kamen herbei und sangen für den Prinzen und seine königlichen Eltern. Eine sang schöner als alle anderen, und der Prinz klatschte in die Hände und lächelte ihr zu, da war die kleine Meerfrau traurig, denn sie wusste, dass sie selbst viel schöner gesungen hatte. Sie dachte: „Oh, er sollte nur wissen, dass ich, um bei ihm zu sein, meine Stimme für alle Ewigkeit aufgegeben habe!“
Nun tanzten die Sklavinnen einen zierlichen, schwebenden Tanz zu der herrlichsten Musik, da hob die kleine Meerfrau ihre schönen, weißen Arme, stellte sich auf die Zehenspitzen und schwebte über das Parkett, tanzte, wie noch nie jemand getanzt hatte. Bei jeder Bewegung wurde ihre Schönheit noch besser sichtbar, und ihre Augen sprachen tiefer zu seinem Herzen als der Gesang der Sklavinnen.
Alle waren hingerissen davon, besonders der Prinz, der sie sein kleines Findelkind nannte, und sie tanzte mehr und mehr, obwohl es jedesmal, wenn ihr Fuß die Erde berührte, war, als ob sie auf scharfe Messer träte. Der Prinz sagte, dass sie allezeit bei ihm sein solle, und sie bekam die Erlaubnis, vor seiner Tür auf einem Samtkissen zu schlafen.
Er ließ ihr eine Männertracht nähen, damit sie ihn zu Pferde begleiten konnte. Sie ritten durch die duftenden Wälder, wo die grünen Zweige ihr auf die Schultern schlugen, und die kleinen Vögel sangen hinter den frischen Blättern. Sie kletterte mit dem Prinzen auf die hohen Berge, und obwohl ihre Füße bluteten, sodass die anderen es sehen konnten, ließ sie doch nicht davon ab, ihm zu folgen, bis sie die Wolken tief unter ihnen segeln sahen, als ob es ein Schwarm Vögel sei, der in fremde Länder zog.
Daheim in des Prinzen Schloss, des Nachts, wenn die anderen schliefen, ging sie hinaus auf die breite Marmortreppe, und es kühlte ihre brennenden Füße, im kalten Meerwasser zu stehen, und da dachte sie an die dort unten in der Tiefe.
In einer Nacht kamen ihre Schwestern Arm in Arm, die sangen so traurig, während sie auf dem Wasser schwammen, und sie winkte ihnen, und sie erkannten sie und erzählten, wie betrübt sie sie alle gemacht hatte. Jede Nacht besuchten sie sie seitdem, und in einer Nacht sah sie, weit draußen, die alte Großmutter, die lange Jahre nicht an der Meeresoberfläche gewesen war, und den Meerkönig mit seiner Krone auf dem Haupt, die streckten ihr die Hände entgegen, aber sie wagten sich nicht so nah ans Land wie die Schwestern.
Jeden Tag wurde sie dem Prinzen lieber, er war ihr so gut, wie man es einem geliebten Kind nur sein konnte, aber sie zu seiner Königin zu machen, das fiel ihm überhaupt nicht ein, und seine Frau musste sie doch werden, sonst bekam sie ja keine unsterbliche Seele, sondern sie würde an seinem Hochzeitstag zu Schaum auf dem Meer werden.
„Magst du mich denn nicht am meisten, mehr als alle anderen zusammen?“, schienen die Augen der kleinen Meerfrau zu sagen, wenn er sie in seine Arme zog ihre schöne Stirn küsste.
„Ja, du bist mir die Liebste“, sagte der Prinz, „denn du hast das beste Herz von allen, du bist mir am treuesten, und du gleichst einem jungen Mädchen, das ich einmal sah, aber gewiss nie mehr wiederfinden werde. Ich war auf einem Schiff, das Schiffbruch erlitt, die Wogen trieben mich an Land bis zu einem heiligen Tempel, wo einige junge Mädchen Dienst taten. Die Jüngste fand mich dort in der Brandung und rettete mein Leben. Ich sah sie nur ein einziges Mal, sie war die einzige, die ich auf dieser Welt lieben könnte, aber du gleichst ihr, du verdrängst beinahe ihr Bild aus meiner Seele. Sie gehört dem heiligen Tempel an, und darum hat mein Glück mir dich gesandt, nie wollen wir uns trennen!“
„Ach, er weiß nicht, dass ich sein Leben gerettet habe!“, dachte die kleine Meerfrau. „Ich trug ihn über das Meer hin in den Wald, wo der Tempel steht, ich saß hinter dem Schaum verborgen und hielt Ausschau, ob keine Menschen kämen. Ich sah das hübsche Mädchen, das er mehr liebt als mich!“ Und die Meerfrau seufzte tief, weinen konnte sie nicht. „Das Mädchen gehört dem heiligen Tempel an, hat er gesagt, sie kommt nie hinaus in die Welt, das schadet nichts, ich bin bei ihm, sehe ihn jeden Tag, ich werde ihn pflegen, ihn lieben, ihm mein Leben opfern!“
Aber nun sollte sich der Prinz vermählen und des Nachbarkönigs schöne Tochter bekommen, erzählte man. Deswegen war es, dass er ein Schiff so prächtig ausrüstete. Der Prinz reiste in des Nachbarkönigs Land, so hieß es, aber das war, um des Nachbarkönigs Tochter zu sehen. Ein großes Gefolge sollte er mitführen. Aber die kleine Meerfrau schüttelte das Haupt und lächelte. Sie kannte des Prinzen Gedanken viel besser als alle anderen. „Ich muss reisen“, hatte er zu ihr gesagt, „ich muss die schöne Prinzessin ansehen, meine Eltern verlangen es. Aber zwingen werden sie mich nicht, sie als meine Braut heimzuführen! Ich kann sie nicht lieben. Sie gleicht nicht dem hübschen Mädchen im Tempel, dem du gleichst. Sollte ich einmal eine Braut wählen, so würdest es eher du sein, mein kleines stummes Findelkind mit den sprechenden Augen!“ Und er küsste ihren roten Mund, spielte mit ihrem langen Haar und legte sein Haupt an ihr Herz, dass es träumte vom Menschenglück und einer unsterblichen Seele.
„Du hast doch keine Angst vor dem Meer, mein stummes Kind!“, sagte er, als sie auf dem prächtigen Schiff standen, das ihn in des Nachbarkönigs Land führen sollte. Und er erzählte ihr von Sturm und Windstille, von merkwürdigen Fischen in der Tiefe und was die Taucher dort gesehen hatten, und sie lächelte über das, was er erzählte, sie wusste ja besser als irgendjemand anders Bescheid über den Meeresgrund.
In der mondhellen Nacht, als alle schliefen bis auf dem Steuermann, der am Ruder stand, saß sie auf der Reling des Schiffs und starrte hinab durch das klare Wasser, und sie glaubte, ihres Vaters Schloss zu sehen, aber darauf stand die alte Großmutter mit der Silberkrone auf dem Haupt und starre aufwärts durch die reißenden Ströme zum Schiffskiel. Da kamen ihre Schwestern hinauf an die Wasseroberfläche, die starrten sorgenvoll auf sie und rangen ihre weißen Hände. Sie winkte ihnen, lächelte und wollte erzählen, dass es ihr vollkommen gut ginge und sie glücklich sei, aber der Schiffsjungen näherte sich ihr, und die Schwestern tauchten unter, so blieb er in dem Glauben, dass das Weiße, was er gesehen hatte, nur Schaum auf dem Meer sei.
Schluss folgt.
© Petra Hartmann
Zu Teil V
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