Nestis und ihre Ahnherrinnen: Andersens kleine Meerjungfrau III
Die Märchen von Hans Christian Andersen gingen um die Welt, seine Bücher waren - und sind auch heute noch - Bestseller. Nur die Bibel wurde öfter verkauft, sagt Erling Nielsen in der schon zitierten Rowohlt-Monographie.
Dass gerade im Bereich der Andersen-Märchen schnell auch ein reiches Übersetzungs-Wesen, wuchs, blühte, gedieh und wucherte, wundert daher nicht. Allerdings hatte dies auch seine Schattenseiten, und gerade an den Schauergeschichten über Andersen-Ausgaben in fremden Sprachen habe ich mal wieder gelernt, wie wichtig es ist, ab und zu mal in den Originaltext hineinzuschauen.
Andersens Sprache ist eigentlich recht einfach, ein schlichter Satzbau, unkomplizierte Worte und die ohnehin schon große Nähe der dänischen zur deutschen Sprache machen es recht leicht, den Text zu übertragen, sodass ich mit meiner jugendlichen Unbedarftheit schnell Erfolgserlebnisse feiern konnte, als ich mich an seine "Kleine Meerjungfrau" heransetzte. An einigen Stellen allerdings musste ich etwas knobeln - und stellte beim "Spicken" in meiner deutschen Ausgabe doch tatsächlich fest, dass ausgerechnet diese Stellen meist weggelassen worden waren. Ebenfalls nicht ganz leicht war die deutsche Wiedergabe von Wörtern wie smuckt, deiligt usw. Andersen kennt zahllose Wörter, die ausdrücken, dass etwas schön ist, und mit Wörtern wie hübsch, schmuck, niedlich, ansehnlich ... stieß ich bald an meine Grenzen. Oft blieb es dann beim einfachen "schön", obwohl der Dichter doch tausend feine Nuancen geschildert hatte.
Auf jeden Fall habe ich gelernt, was für Folgen es hat, wenn Übersetzer nicht die Originalsprache beherrschen, sondern sich damit zufrieden geben, eine Übersetzung des Buches zugrunde zu legen. Scheint bei Andersen häufiger passiert zu sein. So verlieh der Kaiser von China im Märchen "Natergallen" (Die Nachtigall), der mechanischen Nachtigall den Titel "Høikeiserlig Natbord-Sanger" - was im Deutschen zwar als "hochkaiserlicher Nachttisch-Sänger" korrekt übersetzt wurde - in der englischen Ausgabe jedoch interessanterweise zu einem "High Imperial After-Dinner-Singer" wurde. Hier hatte der Übersetzer, der den deutschen Text als Grundlage hatte, wohl versehentlich "Nachtisch" gelesen. Was ein kleines "t" doch ausmacht ...
Einer der zahlreichen deutschen Übersetzer missverstand das Wort "grimme" im Märchen "Den grimme Ælling" und übersetzte: "Die kleine grüne Ente". Die Übersetzung hatte in Deutschland keine weiteren Folgen, leider wurde sie aber zur Grundlage einer französischen Andersen-Ausgabe, wie Andersen in seiner Autobiographie "Das Märchen meines Lebens" mit leichter Ironie anmerkt. Der Däne spricht von "einer weniger glücklichen deutschen Übersetzung, wo das hässliche Entlein zu einer grünen Ente gemacht ist und von dort in eine französische Übersetzung als "le petit canard vert" hinüberspaziert ist." Offenbar haben Generationen junger Franzosen dank dieses Fehlers geglaubt, Schwanenküken seien grün ...
Also nun der dritte Teil meiner eigenen Übersetzung - sicher mit Fehlern, aber mit selbst gemachten, und direkt aus dem Dänischen:
Hans Christian Andersen:
Die kleine Meerfrau
übersetzt von Petra Hartmann
Teil III (zu Teil I, zu Teil II, zu Teil IV, zu Teil V)
Das war aber auch eine Pracht, wie man sie niemals sieht auf der Erde. Wände und Decke des großen Tanzsaals waren aus dickem, aber klarem Glas. Viele Hundert riesige Muschelschalen, rosenrote und grasgrüne, standen in Reihen auf jeder Seite mit einem blau brennenden Feuer, die erleuchteten den ganzen Saal und schienen hinaus durch die Wände, sodass die See dadurch vollkommen erhellt wurde. Man konnte alle die zahllosen Fische sehen, große und kleine, die zu den Glasmauern hinschwammen, auf einigen glänzten die Schuppen purpurrot, bei anderen schienen sie silbern oder golden ...
Mitten im Saal floss ein breiter Strom, und auf dem tanzten die Meermänner und Meerfrauen zu ihrem eigenen wunderbaren Gesang. So schöne Stimmen hatten die Menschen auf der Erde nicht. Die kleine Meerfrau aber sang am schönsten von allen, und sie klatschten in die Hände für sie, und einen Augenblick fühlte sie Freude in ihrem Herzen, als ihr klar wurde, dass sie die schönste Stimme von allen hatte - im Meer und auf der Erde.
Aber bald dachte sie doch wieder an die Welt über ihr. Sie konnte den schönen Prinzen nicht vergessen und ihre Sorge darüber, dass sie nicht wie er eine unsterbliche Seele hatte. Darum schlich sie sich davon aus ihres Vaters Schloss, und während alles darinnen Gesang und Fröhlichkeit war, saß sie betrübt in ihrem kleinen Garten. Da hörte sie das Waldhorn hinab ins Wasser klingen und dachte: „Jetzt segelt er gewiss dort oben, er, den ich lieber habe als Vater und Mutter, er, an dem mein Denken hängt und in dessen Hand ich meines Lebens Glück legen wollte. Alles will ich wagen, um ihn zu gewinnen und eine unsterbliche Seele! Während meine Schwestern tanzen in meines Vaters Schloss, will ich zur Meerhexe gehen, ich hatte zwar allezeit Angst vor ihr, aber sie kann mir vielleicht raten und helfen!“
Nun schwamm die kleine Meerfrau heraus aus ihrem Garten mitten hinein in den brausenden Malströme, hinter denen die Hexe wohnte. Den Weg war sie noch nie gegangen, dort wuchsen keine Blumen, kein Seegras, nur der nackte graue Sandboden erstreckte sich inmitten der Malströme, wo das Wasser wie brausende Mühlräder herumwirbelte und alles mit sich in die Tiefe riss, was es zu fassen bekam. Mitten in diesen rauschenden Wirbel musste sie gehen, um ins Reich der Hexe zu gelangen, und hier gab es eine ganze Strecke weit keinen anderen Weg außer über warmen, blubbernden Moder, das nannte die Hexe ihr Torfmoos. Dahinter lag ihr Haus mitten in einem seltsamen Wald. Alle Bäume und Büsche waren Polypen, halb Tier und halb Pflanze, die sahen aus wie hundertköpfige Schlangen, die aus der Erde wuchsen. Alle Zweige waren lange, schleimige Arme mit Fingern wie glitschige Würmer, und Glied für Glied bewegten sie sich von der Wurzel bis zur äußersten Spitze. Alles, was sie im Meer zu fassen bekamen, umschlangen sie fest und ließen es niemals mehr entschlüpfen. Die kleine Meerfrau blieb vollkommen verschreckt außen stehen. Ihr Herz klopfte vor Angst, beinahe wäre sie umgekehrt, aber dann dachte sie an den Prinzen und an die Seele des Menschen, und da fasste sie Mut. Ihr langes, flatterndes Haar band sie fest um den Kopf, damit die Polypen ihr nicht hineingreifen konnten, beide Hände presste sie an ihre Brust, und sie flog, wie ein Fisch durchs Wasser fliegt, mitten hindurch durch die hässlichen Polypen, die ihre schleimigen Arme und Finger nach ihr ausstreckten. Sie sah, wie jeder von ihnen, der etwas ergriffen hatte, es mit hunderten dünnen Armen festhielt wie mit starken Eisenbändern. Schiffssteuer und Kisten hielten sie fest, Skelette von Landtieren und einer kleinen Meerfrau, die sie gefangen und erwürgt hatten, das war das schrecklichste für sie.
Nun kam sie zu einem großen, sumpfigen Platz im Wald, an dem große, fette Wasserschlangen sich wälzten und ihren hässlichen, weißgelben Bauch zeigten. Mitten auf dem Platz war ein Haus aus den weißen Knochen schiffbrüchiger Menschen erbaut worden, darin saß die Meerhexe und ließ eine Kröte aus ihrem Mund fressen, genau wie Menschen einen kleinen Kanarienvogel Zucker essen ließen. Die hässlichen, fetten Wasserschlangen nannte sie ihre kleinen Küken und ließ sie sich um ihre große schwabbelige Brust legen.
„Ich weiß genau, was du willst!“, sagte die Meerhexe. „Das ist sehr dumm von dir! Aber trotzdem, du sollst deinen Willen haben, denn er wird dich ins Unglück bringen, meine wunderhübsche Prinzessin. Du willst gern deinen Fischschwanz loswerden und dafür zwei Stangen zum Gehen haben wie die Menschen, damit sich der junge Prinz in dich verlieben kann und du ihn und eine unsterbliche Seele bekommst!“ Dabei lachte die Hexe so laut und falsch, dass die Kröte und die Schlangen zu Boden fielen und sich dort wälzten. „Du kommst gerade zur rechten Zeit“, sagte die Hexe. „Morgen bei Sonnenaufgang könnte ich dir nicht helfen, bis wieder ein Jahr vergangen ist. Ich werde dir einen Trank machen, mit dem sollst du, wenn die Sonne aufgeht, zum Land schwimmen, dich dort ans Ufer setzen und ihn trinken, dann verschwindet dein Schwanz und schrumpft zu dem, was die Menschen schöne Beine nennen. Aber das wird wehtun, es wird sein, als führe ein scharfes Schwert durch dich. Alle, die dich sehen, werden sagen, du bist das schönste Menschenkind, das sie je gesehen haben. Du behältst deinen schwebenden Gang, keine Tänzerin kann schweben wie du, aber jeder Schritt, den du machst, wird sein, als trätest du auf ein scharfes Messer und als ob dein Blut fließen müsste. Willst du das alles erleiden, damit ich dir helfen kann?“
„Ja!“, sagte die kleine Meerfrau mit bebender Stimme und dachte an den Prinzen und daran, eine unsterbliche Seele zu gewinnen.
„Aber denke daran“, sagte die Hexe, „wenn du erst eine menschliche Gestalt erhalten hast, dann kannst du niemals wieder eine Meerfrau werden! Du kannst niemals wieder niedersteigen ins Wasser zu deinen Schwestern und zu deines Vaters Schloss, und gewinnst du nicht die Liebe des Prinzen, sodass er deinetwegen Vater und Mutter vergisst, dass er dir anhängt mit all seinem Denken und einen Priester eure Hände ineinander legen lässt, sodass ihr Mann und Frau werdet, dann bekommst du keine unsterbliche Seele! Am ersten Morgen, nachdem er eine andere geheiratet hat, da wird dein Herz zerbrechen, und du wirst zu Schaum auf dem Wasser.“
„Ich will es!“, sagte die kleine Meerfrau, und sie war bleich wie der Tod.
„Aber du musst mich auch bezahlen!“, sagte die Hexe. „Und es ist nichts Geringes, was ich verlange. Du hast die schönste Stimme von allen hier unten auf dem Meeresgrund, mit der glaubst du wohl, dass du ihn bezaubern könntest. Aber die Stimme sollst du mir geben. Das beste, was du besitzt, will ich haben für meinen kostbaren Trank. Ich muss dir ja mein eigenes Blut hineingeben, damit der Trank scharf werden kann wie ein zweischneidiges Schwert!“
„Aber wenn du meine Stimme nimmst“, sagte die kleine Meerfrau, „was behalte ich dann noch zurück?“
„Deine wunderschöne Gestalt“, sagte die Hexe, „deinen schwebenden Gang und deine beredten Augen, mit denen kannst du auf jeden Fall ein Menschenherz bezaubern. Na, hast du den Mut verloren? Streck deine kleine Zunge raus, dann schneide ich sie ab als Bezahlung, und du sollst den kräftigen Trank bekommen!“
„So geschehe es!“, sagte die kleine Meerfrau, und die Hexe setzte ihren Kessel auf, um den Zaubertrank zu kochen. „Reinlichkeit ist eine gute Sache!“, sagte sie und wischte den Kessel mit den Schlangen aus, die sie zu einem Knoten band, dann ritzte sie sich selbst in die Brust und ließ ihr schwarzes Blut hineintropfen, Rauch stieg auf und bildete die wunderlichsten Gestalten, sodass einem Angst und Bange werden musste. Jeden Augenblick warf die Hexe neue Dinge in den Kessel, und als es richtig kochte, war es, als ob ein Krokodil weinte. Endlich war der Trank fertig, und er sah aus wie klarstes Wasser.
„Da hast du ihn“, sagte die Hexe und schnitt der kleinen Meerfrau die Zunge ab, nun war sie stumm, konnte weder singen noch sprechen.
„Falls die Polypen dich fassen sollten, wenn du wieder zurückgehst durch meinen Wald“, sagte die Hexe, „dann so spritze nur einen einzigen Tropfen von dem Trank auf sie, dann zerspringen ihre Arme und Finger in tausend Stücke.“ Aber das brauchte die kleine Meerfrau nicht, die Polypen zogen sich erschrocken zurück vor ihr, als sie den schimmernden Trank sahen, der in ihrer Hand leuchtete, als ob es ein funkelnder Stern sei. So kam sie schnell durch den Wald, den Sumpf und die brausenden Malströme.
Sie konnte ihres Vaters Schloss sehen. Die Fackeln im großen Tanzsaal waren erloschen. Gewiss schliefen sie dort drinnen alle. Aber sie wagte doch nicht, nach ihnen zu suchen, denn nun war sie stumm und wollte für alle Zeit fortgehen von ihnen. Es war, als würde ihr Herz zerspringen vor Trauer. Sie schlich sich in den Garten, zog eine Blume aus jedem der Blumenbeete ihrer Schwestern, sandte mit den Fingern tausende Küsse hin zum Schloss und stieg hinauf durch die dunkelblaue See.
Fortsetzung folgt ...
© Petra Hartmann
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