Lennardt M. Arndt: An den Ufern des Nebraska
Old Surehand ist ein Westmann aus dem Karl-May-Kosmos, Namensgeber einer Trilogie des Maysters und in seiner Treffsicherheit und seinen sonstigen Fähigkeiten durchaus mit Heroen wie Old Shatterhand und Old Firehand vergleichbar. Doch die Vorgeschichte und vor allem die Familiengeschichte des Helden, die May nur sehr gerafft wiedergab, bietet Stoff für mehr. Das sagte sich zumindest Autor Lennardt M. Arndt, der mit seiner „Surehand-Story“ ein umfangreiches Prequel zu Mays Romanen vorlegte. Der erste Band heißt „An den Ufern des Nebraska“ und erzählt von den Abenteuern des jungen Surehand, von seinem Entschluss, sich auf die Suche nach seinen verschollenen Familienmitgliedern zu machen, und seiner Ausbildung zum Westläufer.
Arndt lässt seine Geschichte mit einem nachdenklichen Augenblick nach der Schule beginnen. Der junge Leo Bender hat von einer engagierten Lehrerin zum ersten Mal etwas über das Schicksal der Indianer gehört und über die Morde, Vertreibungen und Vertragsbrüche, die die amerikanischen Ureinwohner erlebten. Zu dieser Zeit weiß Leo noch nicht, dass er selbst ein „Halbblut“ ist. Denn seine Mutter war eine Moqui (Hopi), wie er wenig später von seinem Vormund erfahren wird. Die Familie wurde durch die Intrigen zweier Verbrecher zerstört und auseinandergerissen. In dem knapp 16-Jährigen reift der Entschluss, sich auf die Suche nach der verschollenen Mutter, ihrer Schwester und seinem kleinen Bruder Fred zu machen. Dazu muss er den Wilden Westen durchstreifen. Ohne entsprechende Ausbildung ein lebensgefährliches Unterfangen. Doch das junge Greenhorn hat Glück: Der legendäre Westläufer Old Firehand erklärt sich bereit, ihn in die Lehre zu nehmen. Für Leo Bender beginnt eine spannende und nicht ungefährliche Lehrzeit.
Gebremster Start durch Rückblenden
Der Anfang des Romans kommt noch etwas ungelenk daher. Arndt setzt gleich zwei Rückblenden vor den Beginn der eigentlichen Handlung. Zuerst lässt er den Protagonisten auf der Jagd nach Kaninchen über eine Unterrichtsstunde nachdenken, die er gerade genossen hat, und über das Unrecht, das den Indianern zugefügt wurde. Dann folgt ein längeres „Aufklärungsgespräch“ mit dem Bankier Wallace, der Leo aufgenommen und wie seinen Sohn aufwachsen lassen hat. Wallace erzählt also von Leos Eltern, Bruder und Tante und davon, wie zwei Schurken die Familie ins Unglück stürzten. Ein sehr langes Referat, das teilweise nicht in direkter Rede durch Wallace, sondern in der Zusammenfassung durch den Ich-Erzähler Leo wiedergegeben wird und etwas spröde zu lesen ist.
West-Ausbildung eines "Anti-Shatterhands"
Deutlich an Fahrt nimmt die Geschichte dann jedoch im weiteren Verlauf auf. Vor allem diejenigen Leser, die Mays Winnetou I kennen, werden viel Bekanntes beziehungsweise Variiertes wiederfinden. Der Ausbildungsgang des West-Azubis Surehand weist deutliche Parallelen zur Lehrzeit des berühmteren Old Shatterhand auf. Die Stationen ähneln sich: Kauf eines besonderen Pferdes, eines Gewehrs, Kampf mit einem Bären, Anschleichen, Freundschaft mit einem indianischen Häuptlingssohn … Und doch sind die Taten Surehands demonstrativ etwas tiefer gehängt als die legendären Aktionen des Superhelden Scharlieh. Das Pferd ist zwar top, muss aber nicht durch schier übermenschliche Reitkünste eingebrochen werden. Die Schießübung fällt ordentlich aus, das Gewehr muss aber noch einmal auf Surehands Verhältnisse nachjustiert werden. Der Bär wird zwar außergewöhnlich kaltblütig erlegt, doch mit dem Gewehr und nicht mit dem Messer, außerdem ist es „nur“ ein Schwarzbär und kein Grizzly. Vor allem fällt dieser Surehand gegenüber dem berühmteren Shatterhand durch seine übermäßige, fast krankhafte Bescheidenheit auf. Wann immer sein Ausbilder Old Firehand und seine Kameraden ihn für einen guten Schuss oder sonstige Coups loben, senkt er bescheiden den Kopf und murmelt: „Ich hatte einfach Glück.“ Ein sehr beeindruckender Anti-Shatterhand, der hier seine Visitenkarte abgibt.
Freundschaft mit den Pawnees
Auch sonst hat Arndt dem May-Universum eine durchaus eigene Note hinzugefügt. Sehr interessant ist seine Idee, ausgerechnet die Pawnees und vor allem dessen jungen Häuptling Sakuruta zu den neuen Freunden Surehands zu machen. Dieser Stamm kommt in der Indianerliteratur oft nicht gut weg, und auch Old Shatterhands Ausbilder Sam Hawkens hatte ja eine unangenehme Begegnung mit ihnen. Und Arndt hat offenbar sehr intensive historische Studien betrieben und versucht nun, die Welt Karl Mays mit den geschichtlichen Tatsachen zu versöhnen und Anachronismen zu glätten. So spielte sich die Familientragöde der Benders nun nicht, wie bei May beschrieben, in Denver ab, sondern in Taos. Denn Denver habe es zu der Zeit noch gar nicht gegeben, stellt Arndt klar. Wieder was gelernt. Auch am May’schen Sprachgebrauch hat Arndt einiges geschliffen und geradegerückt. So musste das aus Mays Kosmos geläufige Wort „Westmann“ dem offenbar sonst gebrauchten „Westläufer“ weichen, wie der Autor im Nachwort erklärt.
Arndt schreibt flüssig und ist ein ausgesprochen guter Erzähler, der er versteht, eine spannende Geschichte zu schreiben. Trotz des Umfangs von 560 Seiten weist der Roman an keiner Stellen Längen auf und lässt sich, in bester Karl-May-Tradition, „verschlingen“. Sein Surehand ist ein interessanter neuer alter Held, der hier einen tüchtigen Biografen gefunden hat. Man freut sich auf den zweiten Band.
Fazit: Western-Roman in den Spuren Karl Mays mit einem erfrischend bescheidenen jungen Helden. Spannend erzählt und gut lesbar, macht Lust auf mehr.
Lennardt M. Arndt: An den Ufern des Nebraska. Die Surehand-Story Band I. Selfpublishing, Neopubli, Berlin 2021. 560 S., Euro 15,90.
Weitere Karl-May-Fortsetzungen:
Thomas Ostwald: Aufbruch ins Ungewisse
Thomas Ostwald: Auf der Spur
Thomas Ostwald: Der schwarze Josh
Axel Halbach: Blutige Schluchten
Klaus-Peter Walter: Sherlock Holmes und Old Shatterhand
Wolfgang Berger: Weißer Vater
© Petra Hartmann