
Frohe Weihnachten!

Die Geschenke sind eingepackt, die Post erledigt, der Baum dürfte kein Problem mehr sein ... Zeit, sich zurückzulehnen und Ruhe einkehren zu lassen. Ich wünsche euch allen ein frohes Fest und eine besinnliche Weihnachtszeit. Hier ein kleines Märchen als Weihnachtsgeschenk für euch:
Das Schiff mit den silbernen Segeln
Die See tobte. Eisgraue Sturmwogen bäumten sich unter der „Schwalbe“ auf, Wellentäler ließen das viel zu kleine Segelschiff ins Bodenlose stürzen, immer wieder schlugen die Brecher krachend über ihm zusammen. Die „Schwalbe“ taumelte. Hilflos den Naturgewalten ausgeliefert trudelte sie durch die Wogen, die Segel fast bis zum Zerreißen gebläht, und der Sturm heulte und pfiff um den Mast, dass man das Stöhnen des alten Holzes kaum hören konnte.
Fiete hörte es doch. Er wusste, dass der Mast um sein Leben schrie. Wusste, dass der eisige Dezembersturm jeden Augenblick seine lächerliche Nussschale zerfetzen oder umkippen konnte. Er krallte die Finger so fest um das Steuerrad, dass sie schmerzten.
Verzweifelt spähte er in die Nacht hinaus. Eiskristalle peitschten ihm entgegen, so dicht, er konnte kaum noch den Mast sehen.
Wieder schoss eine schäumende Sturzflut über das Vorschiff und ließ die „Schwalbe“ tief eintauchen. Ein Schwall eisiges, brennendes Salzwasser klatschte ihm ins Gesicht. Gleich darauf stieß das Schiff fast senkrecht in die Höhe, hing einen Pulsschlag lang in der Luft und knallte ungebremst auf die brettharte See. Die Planken ächzten.
Fiete hielt das Steuer fest umklammert. Er wagte nicht, sich mit der Hand das brennende Salzwasser aus den Augen zu wischen. Das Steuerrad ruckte und riss wie ein bockendes Pferd, die Handflächen brannten ihm, doch er durfte es nicht loslassen.
Wahnsinn, hämmerte es in seinem Kopf. Es war heller Wahnsinn gewesen, dass er sich mit dieser Nussschale aufs Meer hinausgewagt hatte. Nur um Weihnachten bei seiner Tochter zu sein. Ob Katrin wohl im kleinen Hafen von Wittesand auf ihn wartete?
Seine Augen tränten. Und es war nicht nur das Meerwasser, das ihn in die Augen biss. Nein, ganz sicher hatte Elke die Tochter längst ins Haus geholt. Bei diesem Unwetter durfte kein Kind im Hafen herumirren.
Ein eisiger Brecher sprang über die Bordwand und flutete das Cockpit der „Schwalbe“. Fiete stand bis zu den Knien im Wasser. Schlürfend arbeiteten die Lenzpumpen. Doch es war nur noch eine Frage der Zeit, dass sein Boot zu viel Wasser fasste und unterging.
Trudelnd schwamm ein kleines, blaues Päckchen um seine Füße. Das hätte Katrins Weihnachtsgeschenk sein sollen ...
Fiete presste die Zähne fest aufeinander. Die Eiskristalle stürzten jetzt so dicht auf ihn ein, dass er nicht einmal mehr bis zum Kompass sehen konnte. Der Sturm schwoll an zum Orkan. Es war aus.
Selbst wenn er jetzt noch auf dem richtigen Kurs war, es war nur noch eine Frage der Zeit, dass sein Schiff volllaufen und untergehen würde. Den Leuchtturm von Wittesand Ost würde er niemals wiedersehen.
Doch was war das?
Fiete kniff die Augen zusammen. War dort im Schneesturm nicht ein Licht gewesen?
Ein Licht? Ein Leuchtturm? Nein. Ein Segel.
Er hielt den Atem an. Noch ein verunglückter Seefahrer hier draußen?
Auch der Sturm schien den Atem anzuhalten. Der Wind ebbte ab. Nur noch eine leise Briese wehte. Ein Säuseln. Das Wellentosen legte sich. Die Luft wurde klar. Fiete sah die Sterne.
Da war das Segelschiff. Ein Schiff mit silbernen Segeln, in denen sich der Orkan gefangen hatte. Ein goldener Mast ragte in den Himmel. Und Kerzen. Viele tausend Kerzen brannten an Bord. Flammen leuchteten warm auf der Reling, auf der Rah, dem Vordersteven. Ganz ruhig glänzten die Flammen, sie zuckten nicht und stiegen senkrecht aufwärts, obwohl doch der Orkan die Segel blähte, dass jedes andere Segeltuch bereits zerrissen wäre.
Fiete riss ungläubig die Augen auf. Jetzt war das Schiff ganz nah. Der Steuermann stand aufrecht am Heck. Alt war er, und doch blitzten seine Augen jugendlich frisch wie die eines Kindes an einem klaren, blauen Wintertag. Sein weißer Bart fiel in Ringeln und Locken weit über seine Brust hinab. Die hohe Bischofsmitra leuchtete im Kerzenschein und saß trotz des Sturms unverrückbar auf seinem Haupt.
Als die Schiffe einander passierten, hob der Fremde grüßend seine Hand und nickte freundlich.
Fiete legte die Hand an seine Mütze. Er hatte nun keine Angst mehr, das Steuer loszulassen.
Als er den Blick wieder nach vorn richtete, sah er vor sich die Hafeneinfahrt von Wittesand. Und dort - tatsächlich - dort am Strand sprangen aufgeregt Katrin und Elke auf und ab.
Fiete warf die Leine über. Als er an Land sprang, schwankte der Boden unter ihm. Doch er hatte keine Zeit, die Besinnung zu verlieren. Mit dem Aufschrei „Papa!“ warf sich Katrin auf ihn und hing ihm um den Hals. „Du bist mein schönstes Weihnachtsgeschenk!“
„Du meines auch“, flüsterte er. „Frohe Weihnachten.“
(Veröffentlicht in Elfenschrift 32, Dezember 2011)
© Petra Hartmann