"Kollaboratives und literarisches Schreiben im Internet" - das war das Thema, das Felix Woitkowski in seiner Master-Arbeit bewegte. Im Forum der Autorengruppe "Geschichtenweber" rief er dazu ein hochinteressantes Projekt ins Leben und ließ elf Autoren "unter Laborbedingungen" phantastische Geschichten schreiben. Das Ergebnis seiner Beobachtungen stellt er nun in einer im Lit Verlag Dr. Hopf erschienenen Fallstudie vor,
Kollaboratives Schreiben, also das Schreiben mehrerer Personen an einem Text, ist im Internet durchaus erlebbar. Prominentestes Beispiel dürfte die Wikipedia sein, in der zahllose, zumeist untereinander überhaupt nicht bekannte, Autoren an einem Artikel arbeiten und dort meist gute, oft sehr gute Ergebnisse produzieren. Schwieriger sieht es aus mit dem literarischen Schreiben. Hier steht immer noch die Vorstellung von einem kreativen Individuum, das in einem sehr persönlichen einsamen Vorgang sein Werk verfasst, im Vordergrund.
Elf Autoren schreiben zehn Texte
Woitkowski suchte seine Autoren durch einen Schreibaufruf, der über mehrere Forem im Internet verbreitet wurde. Als "Versuchskaninchen" ausgewählt wurden schließlich elf Autoren von recht unterschiedlicher Schreiberfahrung. Die Aufgabe: Das Erstellen einer Anthologie mit Geschichten, die in einer gemeinsamen Welt spielen und inhaltlich aufeinander bezogen sind. Geschrieben werden sollten nur zehn Geschichten, eine weniger als Autoren vorhanden waren, um die Autoren zur Zusammenarbeit zu "zwingen". Zunächst musste jedoch die gemeinsame Welt ausgearbeitet werden. Den Autoren stand hierzu ein für Außenstehende unzugänglicher Bereich des Geschichtenweber-Forums zur Verfügung, außerdem wurde per Mail, manchmal auch telefonisch über das Projekt und die Storys kommuniziert.
"Vesika" - eine sterbende Stadt
Die Autoren einigten sich auf das Szenario einer sterbenden Stadt (einer der drei Vorschläge, die der Initiator gemacht hatte). Etwas länger dauerte es, bis sich hererauskristallisierte, von welcher Art diese Stadt sein sollte. Schließlich wurde "Vesika" geboren: eine im Meer treibende Blase von Knorpel, Gallert und Korallen-Substanz, in der sich eine eigenartige Zivilisation gebildet hatte. Es gibt eine Gruppe von Aussteigern, die außerhalb der Stadt in einem weniger zugänglichen Bereich der Blase leben, es gibt verschiedene Berufsgruppen, zum Beispiel die Lichtsänger, die Teile der Knorpelsubstanz zum Leuchten bringen und so für die Straßenbeleuchtung sorgen, der Leser begleitet einen Volkszähler bei der Arbeit und lernt kriminelle Schattenhändler und Perlenfälscher kennen. Also tatsächlich ein phantastisches Setting und eine faszinierende Welt.
Woitkowskis Rolle war die eines stummen Beobachters, der nur ab und zu auf die Einhaltung des Terminplans aufmerksam machte. Außerdem versandte er jeweils nach Abschluss der einzelnen Projektphasen Fragebögen an die Autoren und fragte nach ihrer Einschätzung des Projektverlaufs und ihrer Arbeitszufriedenheit.
Ausufernde Diskussionen im Geschichtenweber-Forum
Es war eine ungeheure Menge an Texten und Diskussionsbeiträgen zu sichten. Allein in der ersten Projektphase (zweieinhalb Monate) entstanden 36 Threads mit 1019 Beiträgen im Forum. Langsam nahm die Welt Gestalt an. Woitkowski schildert den Fortgang der Diskussion, hält Knackpunkte fest und beobachtet das unterschiedliche Diskussionsverhalten der Teilnehmer. Einige sind wahre Plauderkanonen, andere eher still, halten sich beinahe ganz heraus aus der Diskussion und haben das Gefühl, dass ihre Beiträge ohnehin nicht beachtet werden. An einigen Stellen gibt es Knatsch. Einige Teilnehmer steigen schließlich ganz aus. Die Quantitäten der Beiträge und die Bezüge untereinander sind in Tabellen übersichtlich dargestellt - eine wahre Fleißarbeit.
Die Grenzen des kollaborativen Schreibens
Im letzten Teil schließlich stellt Woitkowski drei ausgewählte Geschichten vor und beschreibt den Entstehungsprozess von der ersten Idee über Absprachen zur Anpassung an andere Geschichten bis hin zum Schreibprozess und zu Diskussion und Lektorat. Auffallend ist, dass trotz der Vorgabe des "kollaborativen" Schreibens nur eine einzige Geschichte tatsächlich von zwei Autorinnen gemeinsam verfasst wurde. Bei den anderen gab es jeweils einen "Schreiber", der dann auch die Verantwortung und emotionale Zuständigkeit für die Geschichte innehatte. Das "kollaborative" Schreiben, so kristallisierte sich heraus, blieb also zumeist auf den Prozess vor dem Schreiben (Weltgestaltung, Übernahme von Personen aus anderen Geschichten, Absprache über Position innerhalb der Anthologie, Diskussion über den Plot) und die anschließende gemeinsame Betrachtung der Geschichte (Lob und Tadel, Diskussion um Anpassungen an andere Storys, Lektorat und Korrektorat) beschränkt. Insofern stellt die Arbeit auch sehr klar die Grenzen des kollaborativen Schreibens dar. Der kreative Akt des Zu-Papier-Bringens oder In-die-Tastatur-Hämmerns blieb weitgehend der klassische altvertraute Schreibprozess des einsam schaffenden Literaten.
Übertragbare Ergebnisse?
Die Arbeit ist eine sehr interessante Beschreibung eines Schreibprojekts und eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Gegensatz von schöpferischem Einzelindividuum und Kreativität einer Gruppe. Ihre Stärke und zugleich ihre Schwäche liegt in der sehr konkreten Versuchsanordnung, die sich, wie der Autor selbst anmerkt, kaum so wiederholen lässt und in einem anderen Rahmen mit anderen Autoren wohl anders ausfallen und andere Ergebnisse bringen würde. Dennoch sind vermutlich einige der dargestellten gruppendynamischen Prozesse allgemeingültig und würden sich in anderen "Kollektiven" ähnlich abspielen. So wird es immer stillere und dominierende Diskussionsteilnehmer geben, und auch dass Mitglieder die Gruppe verlassen, dürfte kein Einzelfall sein.
Quo vadis, Vesika?
Wirklich schade ist es, dass die Arbeit nur die Beschreibung und Analyse, nicht aber die in der Gruppe entstandenen Texte selbst enthält. Zumindest die drei detailliert besprochenen Geschichten hätte man gern im Anhang gelesen. Im Nachwort deutet der Verfasser an, dass sich die Gruppe auch nach dem offiziellen Ende des Projekts, das ja durch den universitären Zeitplan und den Abgabetermin der Master-Arbeit begrenzt war, weiter mit der Welt befasste und sich noch mit dem Gedanken an eine Überarbeitung des Gesamtmanuskripts bis zur Veröffentlichungsreife trug. Wünschenswert wäre es auf jeden Fall, wenn die Autoren die Geschichten aus ihrer sterbenden Welt nicht sterben ließen. Vielleicht gibt es ja irgendwann die Chance, alle Vesika-Geschichten im Zusammenhang zu lesen?
Felix Woitkowski: Kollaboratives und literarisches Schreiben im Internet. Berlin: Lit Verlag Dr. W. Hopf, 2012. 151 S., Euro 19,95.
Weiteres Buch von Felix Woitkowski
E/Meth
© Petra Hartmann