Tief durchatmen - das hätte schief gehen können
Ich komme gerade von einer Lesung in Bad Salzdetfurth. Und eigentlich wollte ich jetzt einen launigen Lesungsbericht in die Tastatur hauen, wollte erzählen, wie nett und lustig doch die Runde unserer Zuhörer in der Salze-Klinik war. Das war sie auch. Ein kleiner Kreis von freundlichen älteren Damen mit bunten Krücken, die sich köstlich amüsierten über "Das Märchen von der verzauberten Straßenlaterne", "Die Rache der Heinzelmännchen" und "Raubwürger". Und draußen gingen sintflutartige Regenfälle nieder, aber wir hatten es warm und kuschelig, haben viel gelacht ...
Ja, und dann sagte meine Kollegin und Mitleserin Marlene Wieland, jetzt müsse sie wohl durch den Regen irgendwie zum Bahnhof kommen. Und sie müsste noch eine Stunde auf den Zug nach Hildesheim warten, das würde sie wohl in einem Café machen ... Klar, dass ich das nicht zulassen wollte. Ich wäre mir ausgesprochen schlecht vorgekommen, sie nachts und bei diesem Wetter allein im Regen zu lassen. Ich verfrachtete die sich heftig wehrende Autorin also in mein Auto und unternahm einen kleinen Schlenker über Hildesheim. Es war stockfinster, es goss wie aus Kübeln, die Straße war klitschnass und alles, was ich in der Fahrschule über Aquaplaning gelernt habe, konnte ich hier wiederfinden.
Und plötzlich liegt da dieser Haufen Mülltüten auf der Straße. Ich weiche aus - zum Glück war ich extrem langsam - und erst im Vorbeifahren wird mir klar: O mein Gott, da liegt ja ein Mensch. Rechts ran. Warnblinker eingeschaltet. Und in diesem Augenblick hält schon ein Auto hinter mir, das auch blinkt. Ich habe schon befürchtet, dass der Wagen über den armen Mann gefahren ist. Aber zum Glück war das nicht der Fall. Die Fahrerin und ich finden den Mann, der gerade torkelnd hochkommt. Er lallt. Das Handgelenk etwas eingeknickt, aber wohl nichts gebrochen. Und er will sofort wieder auf die Straße taumeln. Anfassen lässt er sich nicht. Lallt bloß immer wieder: "Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist." Etwas von einem Mann, der ihm vielleicht etwas gegeben hat. Vielleicht im Bier. Aber vielleicht ist er auch einfach nur sturzbetrunken.
Während die andere Frau die Polizei ruft (sie kennt sich hier auch bei Nacht aus und weiß auf Anhieb, dass wir in der Alfelder Straße am Golfplatz sind), versuche ich, den Mann von der Straße abzuhalten. Es kommen immer wieder Autos vorbei, und die sind verdammt schnell. Immerhin fällt er nicht mehr um. Seine Brille habe er verloren. Nein, beschwert er sich, er sei nicht betrunken, und überhaupt, wir glaubten wohl, Männer würden immer trinken, Frauen trinken auch dauernd und denken nur ans Poppen. "Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist." Was auch immer er sagt, ich gebe ihm recht, versuche, ihn zum Weiterreden zu bringen.
Endlich kommt die Polizei. Zwei junge Beamten, ein Mann und eine Frau. Ich, inzwischen völlig durchnässt, darf weiterfahren.
"Dann hat es wohl so sein sollen, dass du mich nach Hause bringst", sagt Marlene, als wir weiterfahren. "Der Mann hat einen Schutzengel gehabt." Oh ja. Und ich auch. Wenn ich nur einen Augenblick nicht aufgepasst hätte. Oder wenn ich etwas schneller gewesen wäre. Besser nicht daran denken.
Meine Schwester meinte später, das eingekrümmte Handgelenk könnte auch auf einen Schlaganfall hindeuten. Er muss nicht betrunken gewesen sein. Wie auch immer, ich hoffe, dass sich die Polizisten anständig um ihn gekümmert haben ... Auf jeden Fall werde ich diesen Leseabend nicht so schnell vergessen.
© Petra Hartmann

Benutzerdefiniertes Design erstellen













